ALINA

Ich bin jetzt jeden Tag in der Schießanlage und trainiere die Ausgestoßenen. Einige der Älteren, die ihre eigenen Gewehre mitgebracht haben, brauchen nur einen kurzen Blick auf die Zielscheibe zu werfen und schon treffen sie ins Schwarze. Die schicke ich gleich weiter, runter zu Levis Herzkreislauftraining oder zu Petras Yoga- und Meditationsübungen. Diejenigen, die sich bislang nur mit Stöcken und Messern verteidigt haben, brauchen etwas mehr Anleitung. Denen muss ich beibringen zu zielen, den Schuss auszulösen und die Waffe danach zu stabilisieren.

Wenn ich mit den Ausgestoßenen fertig bin, kommen die Rebellen rauf, dabei bräuchten die meisten von ihnen eigentlich gar kein Training mehr. Sie sind inzwischen perfekte Scharfschützen und könnten einen flüchtenden Menschen aus zweihundert Metern Entfernung treffen.

Jazz ist vor ein paar Minuten von Petra zum Üben hochgeschickt worden und fummelt nun mit einer Pistole herum. Erstaunlicherweise scheint sie nicht mal zu wissen, wo der Abzug ist. Und als ich versuche, ihr ein paar Grundlagen zu erklären, schubst sie mich weg und stampft mit dem Fuß auf.

»Erzähl mir nicht, wie ich schießen soll, oder ich schieße auf dich! Sag mir einfach, was ich treffen soll.«

Die anderen Anwesenden schauen neugierig zu uns herüber. Dorian grinst, richtet sein Gewehr auf Jazz und tut so, als würde er abdrücken. Er imitiert sogar den Rückschlageffekt. Ich schüttele den Kopf und unterdrücke ein Schmunzeln. »Siehst du die Puppe dort hinten? Ich möchte, dass du deren kleinen Finger triffst.«

Jazz schluckt und richtet die Waffe auf den Dummy. Dann schießt sie und taumelt rückwärts. Um ein Haar hätte die Wucht des Rückschlags sie umgeworfen.

»Da stimmt was nicht mit der blöden Pistole!«, kreischt sie, als sie feststellt, dass sie nur ein altes Lüftungsgitter getroffen hat.

»Das Ding ist vollkommen in Ordnung, Jazz. Ich hab’s gerade selber benutzt.«

»Und ich sag dir, es ist kaputt!«

Dorian hustet und gluckst in der Schießbahn neben uns, und ich muss ihm den Rücken zukehren, um nicht ebenfalls laut loszuprusten. Dann hätte ich in null Komma nichts ’ne Menge Stress.

»Okay, dann probier mal diese hier.« Ich reiche Jazz eine wesentlich kleinere Pistole, die sie beim Abfeuern vielleicht nicht ganz so aus den Schuhen heben wird.

Jazz nimmt den Dummy erneut ins Visier und schießt. Diesmal macht sie nur einen kleinen Ausfallschritt nach hinten, fängt sich sofort und grinst triumphierend in die Runde.

»Getroffen!« Jazz zeigt auf das Knie des Dummys.

»Aber ich hab doch gesagt, den kleinen Finger«, erinnere ich sie.

»Hast du nicht! Du hast gesagt: Ziel aufs Bein.« Sie dreht sich zu Dorian um. »Stimmt doch, oder?«

Dorian legt seine Waffe nieder und kommt zu uns herüber.

»Jazz, hast du überhaupt schon mal geübt?«, fragt er.

Jazz nickt heftig, dann steckt sie ihren Daumen in den Mund und beginnt daran zu lutschen.

»Weißt du«, fährt Dorian fort, »wenn Petra mich hierher zum Trainieren schickt, dann geh ich manchmal runter zu den Bäumen und setz mich einfach zwischen sie. Hast du das auch schon mal gemacht?«

Wieder nickt Jazz.

»Und manchmal, wenn ich die Bäume dann so anschaue«, sagt Dorian, »dann frage ich mich, wie es wohl wäre, auf einen raufzuklettern und oben zu sitzen. Weißt du, einen ganzen Tag lang einfach nur dort zu sitzen.«

»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«, fragt Jazz.

Dorian hält ihr demonstrativ sein Ohr hin.

»Das mache ich andauernd. Ich klettere in die Baumkronen und denke an all die Dinge, die es früher auf der Welt gab. Und ich denke an die Dinge, die ich früher hatte. Wie zum Beispiel meine Eltern.« An dieser Stelle unterbricht sie sich und schaut mich an. »Petra hat gesagt, dass deine Eltern tot sind.«

Mein Magen verkrampft sich.

»Sie werden seit Jahren vermisst.«

Dorian legt eine Hand auf Jazz’ Schulter, die andere auf meine. »Wie wär’s, wollen wir jetzt zu den Bäumen gehen?«, fragt er.

Jazz blickt auf die Pistole in ihrer Hand. »Ehrlich gesagt hab ich noch nie trainiert. Wenn die Armee kommt, weiß ich nicht, was ich machen soll. Dann stehe ich blöd da.«

»Wir könnten eine Weile zu den Bäumen gehen und danach einen extraintensiven Schießkurs abhalten«, schlage ich vor, woraufhin Jazz aufjauchzt und wie der Wind aus dem Raum düst.

»Sie ist noch so jung«, sage ich.

Dorian schüttelt den Kopf, nimmt mir das schwere Gewehr ab, das ich in der Hand halte, und legt es auf den Ständer.

»Das sind wir alle, Alina. Wir sind alle viel zu jung.«