BEA

Ich spüre, wie ich hochgehoben und eine Gasse entlanggetragen werde.

»Keine Sorge, Mädel, du bist in guten Händen«, höre ich. Es klingt wie der alte Watson, aber das muss ich mir einbilden, denn der könnte mich doch niemals hochheben.

Ich öffne die Augen und blicke geradewegs in ein Männergesicht. Das Gesicht beginnt zu lächeln. »Sie ist wach.«

»Watson, sie ist wach«, wiederholt eine zweite Stimme. Eine Frauenstimme. Ich versuche, mich aus dem Griff des Mannes zu befreien, und schaffe es schließlich, auf eigenen Beinen zu stehen.

»Wie geht’s dir?«, ertönt Old Watsons Stimme in meinem Rücken.

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Die Frage scheint mir völlig absurd. »Wo gehen wir hin?«

»Wie ich schon sagte: Ich bringe dich hier raus. Kannst du laufen?«, fragt Watson.

»Ich versuch’s«, antworte ich und wanke tatsächlich ein paar Schritte vorwärts, muss mich aber an ihm festhalten.

»Wir sind schneller, wenn du sie trägst, Gid«, bemerkt die Frau.

»Ist das okay für dich?«, fragt der Mann, aber ich schüttele nur den Kopf und versuche, schneller voranzukommen.

Wir gehen durch zig Gassen und jedes Mal, wenn wir auf eine aufgebrachte Menschenmenge stoßen, wechseln wir die Richtung. Ohnehin scheinen sie alle in die entgegengesetzte Richtung zu strömen, sodass wir nach und nach immer weniger Menschen begegnen. Irgendwann halten der Mann und die Frau, die uns führen, an: Wir stehen direkt vor der bruchsicheren Glashülle der Kuppel, neben einem riesigen Müllschlucker. Normalerweise kommt man nur hierher, wenn man Sperrmüll loswerden will, der zu groß für den Müllschlucker im Wohnhaus ist. Und normalerweise wird dieser Ort von Aufsehern bewacht. Doch heute ist hier kein Mensch.

»Da wären wir«, sagt Watson und lehnt sich gegen die gewölbte Glaswand, schweißgebadet und völlig außer Atem.

»Haben sie die Sauerstoffzufuhr schon reduziert?«, frage ich.

»Ich bin alt, das ist alles.«

Der Mann und die Frau lächeln und die Frau streicht Old Watson über den Rücken. »Du solltest mit ihr gehen. Du solltest von hier verschwinden, solange du noch kannst«, sagt sie.

»Aber hier drinnen wartet noch Arbeit auf mich. Ihr könnt das doch nicht alles alleine machen«, widerspricht Watson. Dann dreht er sich zu mir um.

»Bea, das hier ist Harriet. Und das ist ihr Mann Gideon.« Das Ehepaar lächelt mich an. »Wenn du zum Rebellenhain kommst, sag Silas, dass du die beiden getroffen hast und dass sie leben.«

»Also sind Sie seine Eltern«, sage ich und sie nicken.

Ich versuche zu lächeln, weil es Eltern gibt, die leben, und das ja eigentlich etwas Positives ist. Aber es ändert nichts: Sie sind nicht meine Eltern, und für den Bruchteil einer Sekunde wünschte ich, meine Eltern würden leben und diese hier wären tot.

»Hier.« Harriet reicht mir eine extragroße Sauerstoffflasche. »Wenn du sparsam damit umgehst, müsste sie vier Tage reichen. Ich hab sie auf achtzehn Prozent eingestellt, aber während des Laufens wirst du das Ventil noch etwas weiter zudrehen müssen. Geh einfach langsam.«

»Und nimm den hier mit. Orientiere dich Richtung Westen.« Gideon gibt mir einen alten Kompass. »Du darfst dein Pad nicht benutzen, damit sie dich nicht orten können.« Jetzt reicht er mir noch eine alte Karte und zeigt auf einen dunklen Punkt. »Das hier ist der Rebellenhain. An den größten Teil des Weges wirst du dich eh erinnern, da bin ich mir sicher.«

»Fertig?«, fragt Harriet. Sie klinkt die Tür zur Müllrutsche auf und blickt in den Schacht.

Irgendwo aus der Kuppelmitte ist eine Explosion zu hören, dann geht Sirenengeheul los.

»Das wird das Gas sein«, meint Gideon. Er trägt ein Atemgerät und zieht sich jetzt die Maske über Mund und Nase. Harriet und Old Watson tun es ihm nach, während Gideon mir hilft, meine Maske festzuzurren. Dann schnallt er mir einen Gurt um die Taille und befestigt die Sauerstoffflasche daran.

»Vorsicht vor Glasscherben auf dem Containerboden«, warnt mich Old Watson. Dann führt er mich an der Hand zu meinem Fluchtweg.

Ich fühle mich immer noch schwach und klapprig. Nur mit Mühe schaffe ich es, auf den Rand der Müllrutsche zu klettern. Ich will nicht fliehen. Ich will meine Eltern begraben. Und Quinn suchen. Schon einmal habe ich ihn zurückgelassen, und das war das Schlimmste, was ich je getan habe. Ich werfe einen Blick auf Harriet und Gideon und dann auf Old Watson, der streng nickt.

»Nun mach schon«, blafft er.

Ich würde am liebsten protestieren, aber ich weiß, dass das, was ich tun will, jetzt weniger wichtig ist als das, was ich tun muss: überleben. Um Quinns willen. Um meiner Eltern willen. Also reiße ich mich zusammen und stoße mich vom Rand der Müllrutsche ab  – und schon bin ich im Schacht verschwunden. Sause in einer dunklen Röhre aus der Kuppel heraus. Wie so vieles andere Kaputte, Zerbrochene, das hier schon durchgerutscht ist.