OSCAR

Niamh bewundert sich in meinem Schlafzimmerspiegel. Sie trägt das Trauergewand meines Vaters und sollte eigentlich absurd darin aussehen, doch Wendy hat es für sie umgenäht und jetzt tut Niamh so, als sei es extra für sie maßgeschneidert worden. Ich lasse sie einfach machen. »Was meinst du?«, fragt sie.

Ich steige aus dem Bett und in die Hose, die auf dem Stuhl daneben gelegen hat. »Ich meine, dass ich jetzt gern mal mein Zimmer für mich allein hätte.«

»Du solltest dich endlich mal aus dem Bett bequemen. Wie du überhaupt pennen kannst, ist mir schleierhaft.« Heute steht diese Kondolenzgeschichte bei den Ministern im Senat auf dem Programm. Aber Niamh meint wohl eher was anderes: dass sie jede Nacht in Vaters Schlafzimmer in die Kissen schluchzt, seit sie von seinem Tod erfahren hat. Ich überlasse sie ihrer Trauer – irgendwer muss den Job ja machen.

»Fühlst du dich besser?«, frage ich.

»Nein, Oscar«, sagt Niamh. »Unser Dad ist tot. Ich fühl mich beschissen.«

Ich stelle mich hinter sie. Der Spiegel offenbart dunkle Ränder unter meinen Augen. Die letzte Woche hat mich altern lassen. Aber wen wundert’s.

Ich ziehe mir einen Pulli über den Kopf und fahre mir durchs Haar. Wendy kommt mit einem Tablett reingehuscht.

»Guten Morgen«, sagt sie.

»Hey«, grüße ich. Niamh würdigt sie keines Blickes. Wendy trippelt um sie herum, das Tablett auf der Hüfte balancierend, und als sie mich im Vorbeigehen streift, spüre ich ihren Drang, mich zu umarmen. Nach dem Tod unserer Mutter war sie das Nächste, was wir an Eltern hatten. Aber mein Vater war gegen ihre Versuche, uns die Mutter zu ersetzen, und bald war Schluss mit liebevoll. Vielleicht hatte mein Vater sie unter Druck gesetzt. Ich selbst war viel zu schüchtern, um zuzugeben, dass die eine oder andere Umarmung doch ganz gutgetan hätte.

Wendy stellt das Tablett auf die Kommode. »Toast und Tee«, informiert sie. »Frühstückt, solange es heiß ist.« Auf dem Weg nach draußen bleibt sie vor Niamh stehen. »Du siehst wunderschön aus.«

Niamh zuckt die Schultern. »Weiß ich«, sagt sie, obwohl Wendy schon längst draußen ist. »Und es wäre nett, wenn du dich ebenfalls ein bisschen ins Zeug legen würdest, Oscar.«

»Wenn du mir mal eine Minute Zeit gibst.«

»Abmarsch in zehn Minuten, also halt dich ran.« Sie haucht mir einen theatralischen Kuss zu und fegt aus dem Zimmer.

Niamh und ich steigen den marmorgepflasterten Weg zum Senat empor. Die ganze Gegend ist abgesperrt, die Straßen voller Soldaten, um jeden Aufruhr im Keim zu ersticken, obwohl die Kuppel seit der Rundumbetäubung relativ friedlich geblieben ist. Keiner hat jetzt Lust, sich mit dem Ministerium anzulegen – jetzt, wo man sich fügen muss, um bei Bewusstsein zu bleiben. Ich drehe mich auf ein ermutigendes Wort zu Niamh, doch die hält das Kinn erhoben und die Augen fest auf die Türen gerichtet. Von Angst keine Spur. Bin ich hier denn der Einzige?

Die alten Holzflügeltüren zum Senat schwingen nach innen auf und ein ganzer Pulk von Wachleuten verneigt sich vor uns. Ein schummrig beleuchteter Eingangsbereich führt zu einem breiten, gewundenen Treppenaufgang. »Ms und Mr Knavery«, raunen die Soldaten und einer verbeugt sich tiefer als der andere.

Wir werden die Stufen hinaufgeleitet, einen rosa gefliesten Gang entlang und dann in einen abgetrennten Zwischenraum zwischen der Haupttür und der Kammer, den Regierungsräumen. Unsere Fingerabdrücke und Gesichter werden gescannt und Abstriche für den Speicheltest gemacht. Ein paar Minuten vergehen, bis der Bildschirm anspringt: Niamh Jean Knavery, Oscar Giles Knavery – autorisiert.

Die Kammer ist ein Amphitheater mit goldenen Wänden und um die Bühne gestaffelten Sitzreihen. Ganz unten in der Senke sitzt eine Reihe ernst aussehender Würdenträger auf Stühlen mit eindrucksvollen Lehnen. Stille macht sich breit, als wir zu einer der oberen Sitzreihen trotten. Wer einen Hut trägt, nimmt ihn ab, ein paar Leute erheben sich sogar. Die meisten Minister kenne ich von den Essenseinladungen und Partys, zu denen mein Vater uns geschleift hat. Ein einziges großes Zahnpastagrinsen damals, doch das sucht man heute vergeblich. Und die frostigste Miene von allen trägt Lance Vine, der neue Präsident.

Jude Caffrey befindet sich unter den Ministern auf der Bühne. Er fängt meinen Blick ein und nickt. Ich nicke zurück. Wenigstens ein vertrautes Gesicht, auf das ich mich im Notfall konzentrieren kann.

Unten betritt Vine das Rednerpult und räuspert sich ins Mikrofon. Als er sich aller Aufmerksamkeit sicher ist, legt er los. »Willkommen«, sagt er. Trotz seiner dürren Gestalt hat er eine erstaunlich tiefe Stimme und schlagartig verstummen auch jene Minister, die sich noch nicht gesetzt haben oder miteinander tuscheln.

»Ich stehe heute als euer frisch gekürter Präsident vor euch. Das Amt hatte jedoch einen hohen Preis. Wir gedenken heute Cain Knavery und wollen ihm in Anwesenheit seiner Kinder als Zeichen des Respekts eine Schweigeminute zollen. Danke für euer Kommen. Unser tiefstes Beileid.« Niamh richtet sich auf. Ich beiße mir von innen in die Wangen. Mich hier anglotzen zu lassen geht mir schwer gegen den Strich, und erst recht dieses zwangsverordnete Mitleid. Vine senkt den Kopf. Alle tun es ihm nach.

Und schon wird losgeschwiegen: Zeit zum Gedenken an meinen Vater. Wie er nachts sturzbesoffen nach Hause kam und mühsam gebändigt werden musste, damit er in der Küche nicht alles kurz und klein schlug. Oder an die Zeiten, wo wir ihn ins Bett schleifen mussten. Oder wie er mich mit dem Gürtel die Treppe hochjagte, weil ich es gewagt hatte, ihm zu widersprechen. Eine Träne kullert Niamhs Wange hinab. Was hat sie für Erinnerungen, die ich nicht habe?

»Danke, Minister«, sagt Vine. Und jetzt weiter zur Tagesordnung. Erster Programmpunkt bleibt die Sicherheitslage in der Kuppel.«

»Das war’s schon?«, zischt Niamh. »Gerade mal eine Minute haben die für unseren toten Vater übrig?«

Ich zucke die Schultern und Vine fährt fort. »Die Ordnung muss wiederhergestellt werden. Unsere Autorität darf niemand infrage stellen.« Er hämmert mit der Faust auf das Pult, dass es durch die ganze Kammer hallt. Die Minister spenden Beifall. »Berichten zufolge sind nach den Aufständen RATTEN durch die Abfallschächte entkommen und im Ödland sollen neue Terrorzellen entstanden sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass da irgendetwas Wurzeln schlägt.« Er lächelt gekünstelt. Das sollte ein Witz sein und die paar Minister, die ihn kapiert haben, kichern los. »Wir werden die Armee entsenden, um den Sack ein für alle Mal zuzumachen.«

Schweigen senkt sich über die Kammer und ich erstarre. Ich kann da nicht rausgehen und unschuldige Menschen abschlachten. Da weigere ich mich.

Jude springt auf. »Darf ich dazu ein paar Worte sagen?«, fragt er. Vine nickt und räumt das Rednerpult für Jude. »Der Armee sind bei ihrem letzten Einsatz schwere Verluste zugefügt worden. Wir haben zu viele Soldaten verloren und die Treibstofflager für die Zips sind erschöpft. Einer unmittelbaren Entsendung der Truppen kann ich deshalb nicht zustimmen.«

»Dann lassen wir sie also entkommen?«, ruft irgendwer.

»Wir lassen die RATTEN entkommen?«, ergänzt ein anderer.

»Wir finden eine andere Lösung«, erklärt Jude und scheint mich anzustarren. »Wir könnten Kundschafter losschicken, die für uns Informationen sammeln. Junge Leute, denen die RATTEN vertrauen würden. Ein paar Tage und der Nachwuchs der Spezialeinheit stünde bereit.«

Niamh knirscht mit den Zähnen. »Meint der etwa dich

Jude verzieht keine Miene, seine Hände umfassen ruhig das Rednerpult. Wie konnte ich mir von diesem Mann bloß Mitleid erhoffen – einem Mann, der seinen eigenen Sohn zum Sterben ins Ödland geschickt hat. Wie hat er das nur fertiggebracht? Inzwischen weiß ich, dass es Quinn war, der den Aufstand in der Kuppel ausgelöst hat, aber wie könnte ich ihm dafür den Tod wünschen? Er hat ja nur gesagt, wie’s ist.

In der bedrückenden Stille der Kammer richten sich alle Augen auf mich. Einige Minister blicken besorgt drein, andere jedoch strahlen regelrecht vor Entzücken über den Plan. Jude trägt weiter sein Pokergesicht.

»Sag ihnen, dass du’s tun wirst, Oscar. Daddy zuliebe. Diese Schweine sind dafür verantwortlich.« Niamh zupft an ihrem schwarzen Trauergewand. Sie wirkt den Tränen nahe. Ich drücke ihre Hand.

Doch ich werde mich nicht für diese Mission aussprechen. Abgesehen davon, dass meine Meinung wohl kaum was zur Sache tun würde, schicken die uns ohnehin, egal was wir sagen. Niamh entzieht mir ihre Hand und schluchzt los.

»Und in der Zwischenzeit werden sie neue Truppen rekrutieren und ausbilden?«, will jemand wissen. »Wenn das eine Erkundungsmission sein soll, müssen wir zum Angriff bereit sein, sobald sie erfolgreich sind.«

»Selbstverständlich«, sagt Jude. »Die Rekrutierung läuft ab heute.« Lächelt er etwa? Ich will runter auf die Bühne und ihm den Hals umdrehen.

»Danke, General.« Und damit geht Vine zum nächsten Programmpunkt über.

Denn Punkt Nummer eins ist abgehakt: Ich muss wieder raus ins Ödland, ob’s mir nun passt oder nicht.