ALINA

Kaum sind wir mit den Tests durch und wieder in der Hütte, lüpft Maude ihre Röcke. Ihre Knie sind blutig, die Hände schlammverkrustet. »Was sagste nun, Frau Superhirn?«

»Was ist passiert?«, frage ich.

»Was soll das heißen, was is passiert? Wo wart ihr den ganzen Tag?« Maude tritt mich gegen das Schienbein und Bruce zieht sie rasch zurück. Doch mir ist mit meinen Kopfschmerzen ohnehin nicht nach Zurückschlagen.

»Sie kann nix dafür, Maddie«, sagt Bruce. Maude zieht die Stiefel aus und pfeffert sie gegen die Wand, haarscharf an Silas’ Kopf vorbei.

»Haben die euch nicht untersucht?«, fragt Silas, sich die Schläfen reibend. Wir haben Stunden in diesem schmuddeligen Raum hinter uns, in denen wir in Mathe, Naturwissenschaften und Logik geprüft wurden und sogar Fragebogen ausfüllen mussten, in denen es um Begabungen und Hobbys ging. Keiner von uns ist noch besonders energiegeladen.

Bruce sitzt auf seinem Bett und reibt sich die nackten Schmutzfüße. »Kaum wart ihr weg, hieß es Gartenhandschuhe an und buddeln«, sagt er.

»Keine medizinischen Tests?«, fragt Dorian.

»Natürlich nicht. Nicht, wenn meine Vermutung stimmt«, sagt Song. Ich will, dass er unrecht hat mit dem Fruchtbarkeitsscreening, aber wie erklären sich sonst diese intimen Untersuchungen?

»Was woll’n die denn wissen? Was geht hier ab?«, quäkt Maude. »Ich will nich für die ranklotzen. Als Ausgestoßene hast es nich leicht, aber wenigstens kommandiert dich keiner rum.«

Ohne anzuklopfen stößt Maks die Hüttentür auf. Im Gegenlicht sieht man nur seine ausladende Silhouette. »Abendessen«, verkündet er beim Eintreten.

»Die beiden sind völlig erledigt«, sage ich mit einer Geste zu Maude und Bruce. »Warum habt ihr sie so schuften lassen? Sie sollten meditieren und lernen, sich an schlechtere Sauerstoffverhältnisse anzupassen. Wollt ihr sie umbringen?«

Maks kneift die Augen zusammen. »Wenn wir sie umbringen wollten, hätten wir sie ihr eigenes Grab schaufeln lassen statt Gemüsebeete.« Silas zupft mich am Pulli, um mich präventiv zurückzupfeifen. Maks nickt triumphierend und zieht ab.

»Ich glaube, wir sollten uns einen anderen Ort zum Leben suchen«, meint Silas.

»Meinst du, die lassen uns einfach so wieder gehen, wie wir gekommen sind? Das hätte Petra auch nicht zugelassen.«

Song inhaliert einmal tief an der Oxybox. »Und das ist eine ganz schöne Festung hier. Die haben das ganze alte Geröll und Gestein neu verbaut. Das hält was aus.« Er trommelt mit den Fingerknöcheln gegen die Hüttenwand, um ihre Stabilität zu demonstrieren.

»Wisst ihr, was komisch ist?«, sagt Bruce. »Die haben gar kein Wäldchen. Wir sind heute kreuz und quer übers Gelände, an die fünf Morgen, und nix.«

»Kein einziger Baum?«, frage ich. Das ergibt doch keinen Sinn. »Wahrscheinlich habt ihr sie einfach nicht gesehen.«

»Klar, Eichen, Erlen und Konsorten, die übersiehste leicht mal«, stänkert Maude.

»Vielleicht fürchten sie, dass Bäume das Ministerium auf sie aufmerksam machen«, sagt Dorian und knöpft sich die Jacke zu.

»Woher kommt dann die Luft?«, fragt Song.

»Gewächshaus«, sagt Maude. »Mordsding, hinterm Nebengebäude. Paar kleine Bäumchen. Apfel, Birne, die Richtung. Ansonsten fast nur Gemüse. Und Tomatenstauden.«

»Die werden’s wohl kaum bringen«, sage ich. Der ganze Sinn unserer Rebellion gegen das Ministerium liegt doch darin, die Erde wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Wohl eher ein Jahrtausendprojekt, aber irgendwo müssen wir ja anfangen.

»Ich schlag vor, wir verschieben die Diskussion und gehen erst mal essen«, sagt Dorian. »Die warten sicher schon.«

Wir nicken alle zustimmend. Unangenehm aufzufallen ist jetzt nicht angezeigt.

Der rote Ziegelanbau wurde aus alten Baustoffen neu errichtet. Wir reihen uns ein wie alle anderen und suchen uns Sitze am Ende der langen Tafel, so weit wie möglich vom Podest vorne entfernt. Bis auf Becher und Wasserkaraffen sind die Tische leer, doch als wir uns setzen, stoßen Servierplatten tragende Diener die Schwingtüren auf. Zunächst bleiben wir für uns. Die anderen stellen sich paarweise in einer Schlange auf und nehmen dann ihre angestammten Sitzplätze ein. Ich will schon aufstehen – vorauseilender Gehorsam und so –, als sich ein junger Mann mit Lockenmähne zu mir setzt, gefolgt von einigen Mädchen.

»Ich sehe, ihr habt den Losertisch gefunden«, lacht der Mann. »Ich bin Terry.« Er hält mir die Hand hin. »Die Masken könnt ihr ablegen. Hier wird ein bisschen Luft eingeleitet, damit man bequemer essen kann.«

»Alina.« Ich ziehe mir die Maske runter und schüttle seine Hand.

Mir gegenüber sitzt ein Mädchen mit schmalen Brauen und eisblauen Augen, das sich als Wren vorstellt. Um den Kopf trägt sie ein eng gewickeltes schwarzes Tuch, das ihr Haar komplett verbirgt. »Das hat’s noch nie gegeben, dass eine ganze Gruppe zu uns gekommen ist. Immer nur Einzelne. Es geht das Gerücht, dass der Hain zerstört wurde. Stimmt das? Meint ihr, es kommen noch andere nach?«, fragt sie.

Maude langt über den Tisch und schnappt sich ein Stück Kuchen von der Platte. Terry füllt zuvorkommend alle Wasserbecher.

»Das bezweifle ich«, sagt Silas. »Sie sind alle tot.«

»Oh.« Wren leert ihren Becher in einem Zug und hält ihn Terry zum Nachfüllen hin. »Das Ministerium will uns allesamt umbringen, oder? Wenn man mich fragt, sollten wir sie zuerst erledigen.« Wrens Blick verhakt sich mit meinem. Terry und die anderen nicken und ich falle ein. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, das Ministerium loszuwerden, wäre ich schwer daran interessiert.

Mit dem Erscheinen von Vanya und Maks senkt sich Schweigen über den Speisesaal und alles erhebt sich. Vanya nimmt ihren Platz in der Mitte des Podests ein, Maks an ihrer Seite. Er sucht meinen Blick durch den ganzen Raum und zwinkert mir zu. Ich übersehe ihn geflissentlich und konzentriere mich nur auf Vanya. »Auf das Leben!«, ruft sie. Unter allgemeinem Jubel werden die letzten Servierplatten verteilt.

»Wir haben noch nicht Dank gesagt«, meint Song. Sein Teller ist unberührt. Stattdessen starrt er befremdet auf die anderen, die schon längst losgelegt haben.

»Iss einfach«, sagt Silas.

»Ich kann nicht zweimal am Tag, ohne Dank zu sagen… oder zumindest zu erinnern«, sagt Song.

»Was meint er?«, fragt Wren unter freundlicher Zurschaustellung ihres kompletten Mundinhalts.

Er meint, dass wir uns bewusst machen sollen, woher dieses Essen kommt, aber das scheint mir nicht der wahre Grund für sein Unbehagen. »Weißt du, keiner von uns hat Holly vergessen«, sage ich zu ihm. Ich lege ihm die Hand auf den Arm und streiche behutsam darüber. Nach Abels Verschwinden hat das niemand für mich getan und sie hat mir sehr gefehlt, diese kleine Geste der Verbundenheit.

»Song hat recht«, meint Silas sanfter. »Wir sollten unsere Traditionen lebendig halten.«

»Wir danken der Erde«, sagt Song. Ich lege mein Besteck ab und Silas und Dorian tun es mir nach. Terry und Wren schauen schweigend zu. »Wir danken dem Wasser. Wir danken den Pflanzen und den Bäumen – den Wurzeln, Blättern, Früchten und Blumen. Wir danken unseren Weggefährten. Wir danken den Geistern derjenigen, die für uns gestorben sind. Im Namen der Erde erbieten wir euch unsere Zuneigung und Hingabe. Wir grüßen euch.« Ich presse meine Handflächen auf Herzhöhe zusammen und neige den Kopf.

»So sei es«, schließen wir im Chor.

»Ist das Voodoo, oder was?«, lacht Wren.

»Wir machen uns nur wieder bewusst, dass die Natur mächtiger ist als wir«, erklärt Dorian.

Terry wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Aber die Menschheit steht im Mittelpunkt«, sagt er. »Na ja, nicht die Menschheit. Wir. Ihr.«

»Kennt ihr schon eure Verpaarung?«, fragt Wren. Sie leckt sich die Lippen.

»Wren«, faucht Terry in genau dem Moment, als es am anderen Ende der Tafel zu rumoren beginnt, und Vanya anfängt zu winken und zu rufen. »Miliz zu den Toren!« Keiner fühlt sich angesprochen.

Maks hüpft vom Podest. »Miliz!«, bellt er. »Zu den Waffen!« Er prescht an unserem Tisch vorbei zur Tür hinaus. An die fünfzig Mann rappeln sich mühsam auf und galoppieren ihm hinterher.

»Was ist jetzt da los?«, fragt Silas im Aufspringen.

»Wir scheinen noch mehr Besuch zu kriegen«, sagt Terry.