Seit einer Stunde bewegen Oscar und ich uns jetzt im Kreis. Raus auf den Balkon, rein ins Restaurant, Ideen sammeln für den Sturz des Ministeriums. Doch auf jede Idee kommen hundert Schwachstellen. Nach allem, was geschehen ist, brauchen wir einen wasserdichten Schlachtplan.
»Das bringt nichts«, sagt er schließlich und lässt sich in einen der Balkonsessel fallen. »Wenn’s eine Möglichkeit gäbe, wäre längst vor uns wer draufgekommen.«
Das kann ich nicht unterschreiben. Nur weil es bisher niemand geschafft hat, heißt das nicht, dass es auch in Zukunft unmöglich sein wird. Ich mag eine Niete in Nahkampf und Schießen sein, aber auf mein Hirn ist Verlass. Und deshalb wird mir etwas einfallen.
»Du hast mir erzählt, dass die Armee seit dem Hain ziemlich dezimiert ist.« Ich setze mich neben ihn und konzentriere mich ganz auf ein eingeschlagenes Fenster im gegenüberliegenden Gebäude.
Er schüttelt den Kopf. »Nicht genug, um die Kuppel verwundbar zu machen. Und außerdem ist Jude schon wieder am Rekrutieren.«
Irgendwie hat es eine Gabel hier rausgeschafft. Ich hebe sie auf und schleudere sie über die Straße, wo sie durchs Loch in der Fensterscheibe verschwindet. Oscar lacht. »Spitzenwurf«, sagt er.
Da regt sich irgendein Samenkörnchen in mir. Ich stehe auf und stütze mich aufs Geländer. »Wenn es stimmt, dass Jude so was wie ein Wendehals ist, dann müssen wir bei ihm ansetzen«, sage ich.
Oscar zuckt die Schultern. »Der ist genauso eine Marionette wie ich.«
»Aber er ist eine mächtige Marionette. Die vertrauen ihm immerhin ihre Armee an, oder?« Ich warte ab und sehe Oscar an. Die Lösung kommt… da kommt sie schon…
Und da ist sie.
Ich schnappe mir Oscars Hand und zerre ihn hoch. »Du hast gemeint…« Ich hole tief Luft. Ich habe Angst, die Idee könne wieder verschwinden, wenn ich sie nicht gleich in Worte fasse. »Du hast gemeint, Jude ist am Rekrutieren. Was wenn…« Könnte das klappen? Würde Quinns Vater da mitspielen? »Was, wenn er nur Seconds mit Sympathie für die Rebellen rekrutiert? Er könnte sie ausbilden und ihnen Waffen und Insiderinformationen verschaffen. Das könnte funktionieren, Oscar. Oder nicht?«
Einen Augenblick lang denkt er nach, dann drückt er meine Hand, starrt mich an und beginnt zu lächeln. »Oh verdammt… das könnte klappen.«
Gerade will ich ihn umarmen und ihm verraten, dass Quinn schon auf dem Weg ist und wir deshalb einfach nur abwarten müssen, als mir plötzlich ein nur allzu vertrautes Geräusch die Nackenhaare aufstellt. Der ganze Bahnhof vibriert, ein heftiges Donnern am Himmel wie bei einem schrecklichen Gewitter. »Du hast Zips gerufen.« Ich lasse seine Hand fallen und weiche zurück.
Oscar schüttelt wie wild den Kopf. »Das hab ich nicht. Ehrenwort!« Auf einmal wirkt er völlig überfordert.
»Zieh die Klamotten aus«, weise ich ihn an. Er begreift sofort, denn kaum steige ich aus meinen Kleidern, macht er es mir nach. Ich schnüre meine Stiefel auf. »Wir müssen kalt sein, damit die Thermosensoren uns nicht aufspüren.«
»Ja ja. Aber zerschneid dir nicht die Füße«, warnt er mich. Ich löse die Schnürsenkel und rupfe mir die Hosenbeine über die Stiefel. In Unterwäsche hat er mich schon gesehen, doch das Schamgefühl bleibt. Ich schlucke meine Verlegenheit runter und konzentriere mich aufs Überleben.
Draußen auf dem Balkon reibe ich mich mit einigen Handvoll Dreck ein, der noch gefroren in den Ecken klebt, und Oscar folgt meinem Beispiel. Keine Chance, nicht zu bemerken, wie muskulös sein Körper ist. Und wie gebräunt. Neben ihm wirkt meine Haut bleich und dürr. Zitternd reibt er sich mit Schnee ein.
Und da kommt schon die Zip, schlängelt sich im Anflug zwischen den Gebäuden hindurch. Sie ist viel kleiner als die, die ich mit Alina und Maude gesehen habe, und sie fliegt tief. »Die kommt von Westen«, brüllt Oscar über den Motorenlärm. »Die Kuppel liegt östlich.« Das heißt, sie kommt aus der falschen Richtung.
»Wer ist es dann?«, schreie ich. Könnten das Quinn und Alina sein? Sie hat schließlich schon einen Panzer gestohlen – warum nicht auch eine Zip? Aber wie sollte sie die fliegen?
Wir hasten rein und wie ein Trottel halte ich mir schützend die Hände über den Kopf. Das Dröhnen der Propellerblätter wird schwächer, dann wieder stärker, als sie über uns ihre Kreise ziehen. »Die wissen, dass wir hier drinnen sind«, brülle ich.
»Hier lang!« Wir haben keine Zeit, uns wieder anzuziehen, und so stopfen wir alles in Oscars Rucksack und hasten die Stufen hinunter. Es ist ohrenbetäubend laut hier. Die Zip landet auf der Straße, die wirbelnden Propeller verteilen Schutt in alle Richtungen. »Beeil dich!«, drängt Oscar. Ich folge ihm durch den Bahnhof, springe über menschliche Knochen und raus auf die Straße. Oscar steuert auf eine Turmuhr zu, die ihre Zeiger eingebüßt hat.
Er rennt voraus, der Abstand zwischen uns wird immer größer. Als der Lärm der Zip endlich verhallt und alles ruhig ist, bleibe ich stehen. Oscar winkt mir, ihm zu folgen, doch mein Herz rast zu sehr für Worte und so holpere ich mühsam auf ihn zu und lasse mich von ihm an der Hand weiterschleifen. »Was ist los?«, flüstert er.
»Ich war kein Premium.« Verwirrt fasst er sich ans Ohrläppchen. Ohne meine Hand loszulassen, zieht er mich eine Gasse hinunter.
»Ganz langsam atmen«, sagt er. Ich halte an und hole ein paarmal tief Luft, während er wieder in Hose, Hemd und Mantel steigt.
»Hier!«, ruft eine Stimme ganz in unserer Nähe. Oscar nimmt mich wieder bei der Hand und wir verstecken uns hinter einer stinkigen alten Mülltonne. Er hält seinen Mantel auf und zieht mich mit darunter. Ich spüre seine Brust an meinem Rücken und lasse mich tiefer in seine Wärme sinken. Er legt seine Hand samt Pistole auf meinen Bauch.
»Okay?«, flüstert er. Mir klappern die Zähne. Mir ist viel zu kalt zum Nicken.
Als jemand die Gasse entlangstreicht, zieht Oscar mich noch enger an sich heran. Knirschende Stiefelsohlen zerquetschen den Müll. Ein Pistolenlauf wird sichtbar. Und ein Gesicht.
Quinn.
»Bea?« Da bin ich, dicht an Oscar gekuschelt, und Quinn fallen die Augen aus dem Kopf.
Wieder hören wir Schritte, dann eine Stimme in der Gasse. »Siehst du was?«
Quinn wendet den Blick ab. »Nichts. Ich schau noch dort hinten. Weit können sie ja nicht sein.« Die Schritte entfernen sich.
Ich befreie mich aus Oscars Umklammerung und werfe die Arme um Quinn. Er steht stocksteif da. »Quinn«, flüstere ich, bücke mich und ziehe mir Oscars Pulli über den Kopf. Meine Beine sind nackt. Quinn kann nicht hinschauen, ebenso wenig wie Oscar. Ich spüre Tränen in meinen Augenwinkeln, doch ich wische sie mir rasch mit dem Handrücken weg.
»Oscar Knavery?«, sagt Quinn. »Und wo ist Jazz?«
»Dein Vater hat sie abgeholt«, sagt Oscar. »Sie ist in Sicherheit.«
»Mein Vater?«
»Er will, dass du zurückkommst. Er wird dich schützen«, sagt Oscar.
Quinn schaut ihn feindselig an. Er traut Oscar genauso wenig über den Weg wie ich am Anfang. »Lass uns gehen, Bea«, sagt er und nimmt mich bei der Hand.
»Wo willst du hin?«, fragt Oscar.
»Nicht dein Bier.« Quinn will mich wegzerren, doch ich bleibe einfach stehen.
»Ich glaube, dein Vater sucht echt nach dir, Quinn.« Ich drücke meine Hand an seine Wange, damit er mich ansieht.
Und es funktioniert. »Du glaubst ihm?«, fragt er. Doch hier geht’s nicht darum, ob ich Oscar glaube oder nicht, hier geht es um Quinn und seine Chance auf eine Versöhnung mit seinem Vater. Wenn mir irgendwer so was in Aussicht gestellt hätte, dann hätte ich ihn zumindest ausreden lassen.
»Wir haben einen Plan, wie wir das Ministerium loswerden, wenn wir deinen Vater zum Mitmachen überreden können.«
»Dir hört er ganz bestimmt zu, da bin ich mir sicher«, sagt Oscar.
»Mir? Der hasst mich. Geh einfach nach Hause, Oscar.« Quinn klingt gönnerhaft. Aber das hat Oscar nicht verdient. Er war einfach nur freundlich und ohne ihn wären wir nicht mehr am Leben, Jazz und ich.
»Komm zurück in die Kuppel und wir packen die Veränderungen gemeinsam an«, sagt Oscar und lässt eine Faust in seine Hand fallen. »Warum sich hier draußen abquälen?«
Quinn lacht. »In der Kuppel wird sich höchstens was verändern, wenn einer dieser Minister den Löffel abgibt«, sagt er.
»Dann lasst uns da doch etwas nachhelfen«, entgegnet Oscar.
Damit hat er Quinns Aufmerksamkeit. Er stupst Oscar in die Brust. »Als ob du dein schickes Haus und dein Atelier für jemanden wie Bea aufs Spiel setzen würdest.«
»Er meint es ernst«, sage ich, obwohl ich dafür auch nicht die Hand ins Feuer legen kann. Ich weiß nur, was er mir erzählt hat.
»Wo stecken die denn?«, ruft jemand hinten auf der Straße. Quinn blinzelt und schaut mich an.
»Die Ausgestoßenen würden weder dem Sohn von Jude Caffrey noch dem von Cain Knavery über den Weg trauen. Ich brauche euch beide«, sagt Oscar.
»Vanya hackt dir die Leber raus und verspeist sie zum Abendessen«, ruft die Stimme.
Quinn umfasst mein Gesicht. Oh, er hat mir so gefehlt. »Besteht der Hauch einer Chance, dass das funktioniert?«, fragt er.
Ich nicke. »Dein Vater hat Jazz mitgenommen. Ich glaube, bei ihm tut sich was, Quinn. Wenn auch nur eine vage Möglichkeit besteht, dann sollten wir die beim Schopf packen, oder?«
»Vanya ist völlig übergeschnappt. Wenn wir da ohne Jazz wieder antanzen, sind wir geliefert. Sie ist Vanyas Tochter«, sagt Quinn mehr zu sich selbst als an uns gerichtet. Plötzlich packt er Oscar am Mantelkragen. Oscar nimmt es gelassen. »Ich kann dir nur raten, dass das keine Falle ist«, sagt er und steigt hinter die Mülltonne, außer Sichtweite von der Straße. »Jetzt müssen wir nur noch hier rauskommen«, sagt er.
»Hier lang«, sagt Oscar ohne weitere Diskussion und rennt bis zum Ende der Gasse. Wir folgen ihm, doch als wir ihn einholen, dreht er sich leicht panisch zu uns um.
»Da kommt man nicht durch«, sagt er und lädt Munition nach. »Der einzige Weg hier raus führt vorbei an deinen Begleitern.«
»Quinn, wir müssen los. Wo steckst du?«, ruft die körperlose Stimme.
Oscar führt einen Finger an die Lippen und zückt die Pistole.
»QUINN!«
Quinn blickt auf Oscars Waffe. »Wenn er nicht genau ins Schwarze trifft, gibt das hier ’ne Katastrophe«, flüstert er mir zu. Ich mache gerade den Mund auf, um ihm zu versichern, wie gut Oscar schießt, als Quinn meine Hand loslässt. »Geh mit Oscar zurück in die Kuppel und ich komme nach. Wenn das hier funktionieren soll, müssen wir alle zum Mithelfen zusammentrommeln. Ich hole die anderen und dann stoßen wir zu euch.«
Mir wird ganz schwindlig im Kopf. »Ich brauch dich«, sage ich zu Quinn. Hoffentlich ist ihm klar, wie ernst mir das ist. Schon als wir nur Freunde waren, habe ich ihn gebraucht.
»Wir brauchen Alina und Silas auf unserer Seite. Das ist ihr Kampf«, meint er. »Außerdem sind sie diejenigen mit der Ausbildung und dem Netzwerk.«
»Aber…«
»Versteck dich.« Er stößt mich Richtung Wand, wo ich hinter einem Müllhaufen in Deckung gehe. »Du auch«, befiehlt er Oscar, der den Kopf schüttelt und die Waffe im Anschlag hält. »Pass auf Bea auf«, sagt Quinn. Oscar zögert noch kurz und geht dann neben mir auf Tauchstation. Ich scheine regelrecht zu hecheln, denn er legt seine Hand über das Luftauslassventil meiner Maske.
Quinn knöpft seinen Mantel bis oben zu und hängt sich das Gewehr richtig um. »Bleibt da unten«, sagt er.
»Was gefunden?«, erschallt die Stimme.
»Nö«, ruft Quinn.
»Dann lass uns abhauen. Die Ausgestoßenen müssen sie erwischt haben. Das wird Vanya überhaupt nicht gefallen. Bin ich froh, dass du das ausbaden darfst.« Der Mann mit der Stimme schnaubt.
Quinn steht da wie festgefroren, doch kaum ist der Typ weg, schaut er zu mir. Meine Hände sind immer noch mit Jazz’ Blut verkrustet. Mein Körper ist magerer denn je und hat seit Ewigkeiten kein Wasser mehr gesehen. Ich sehe genauso aus wie jemand, den man beschützen muss. »Ich liebe dich, Bea«, sagt er, und ehe ich protestieren oder ihm sagen kann, dass ich ihn auch liebe, ist er schon die Gasse hochgegangen und verschwunden.