ALINA

Vanya wollte mich nicht mit Quinn in der Zip fliegen lassen und so heißt es abwarten. Maude und Bruce müssen im Gewächshaus schuften. Wir anderen sind im Cardio-Fitnessraum und machen Intervalltraining mit einem Mädchen und einem Typen, die wir nicht kennen.

Terry, unser Tischnachbar von gestern, betritt den Raum mit einem Stoß Papieren in der Hand. »Nur für die Neuen«, sagt er. Wir steigen von den Laufbändern und er reicht jedem von uns eine auf festes graues Papier gedruckte Liste. Ich reibe sie zwischen meinen Fingern.

»Ist das Stein?« Song wendet die Liste in den Händen.

Terry nickt. »Wir haben endlich einen Stapel hingekriegt.«

»Kalk und Harz«, sagt Song. »Haben wir im Hain nie ausprobiert. Sind nicht dazugekommen wegen der Bäume.«

»Was ist das überhaupt?«, fragt Dorian beim Überfliegen.

»Euer Zeitplan für morgen. Die endgültigen kommen bald nach.«

Ich beäuge den Stundenplan. Die Vormittagsaktivitäten sind keine große Überraschung: Kardiotraining, Meditation, Essenspause. Doch das gesamte Abendprogramm besteht aus etwas, das sich Verpaarungszeremonie nennt.

Dorian wedelt mit dem Papier vor Terry herum. »Verpaarung?«

»Ihr bekommt eure Aufgabe und einen Partner zugeteilt und zieht dann ins Haupthaus. Jedenfalls die meisten von euch. Manche kriegen auch erst nur die Aufgabe und die Verpaarung erfolgt dann später.«

Silas, der nach fast einer Stunde Ausdauertraining ziemlich außer Atem ist, wiederholt Dorians Frage. »Verpaarung?«

Terry fingert an den Blättern herum, die er noch in der Hand hält. »Hat Vanya euch das noch nicht erklärt?« Silas schüttelt den Kopf. »Ihr bekommt feste Partner zugeteilt«, sagt Terry.

»Wie Arbeitskollegen«, sagt Song. »Ich hab gesehen, dass die Leute da paarweise zusammenarbeiten, und mich schon gewundert.«

»So in etwa.« Terry lächelt und will sich schon aus dem Staub machen.

Silas hält ihn zurück. »Also könnte ich der Partner von Alina werden?«

»Na ja, wohl kaum, weil ihr Cousin und Cousine seid«, sagt Terry und trippelt von einem Bein aufs andere. »Genetisch müsst ihr schon kompatibel sein, nicht wahr?« Silas verzieht das Gesicht. Dorian und Song, die nebeneinanderstehen, ziehen die Augenbrauen hoch. Nach all diesen Untersuchungen, durch die sie uns gejagt haben, ist das auch kein großer Schock mehr. Nicht nur, dass Vanya darüber entscheiden will, wie wir den Rest unseres Lebens verbringen, sie will uns auch unsere Lebenspartner aussuchen. Ich sehne mich schon fast zurück in die Kuppel. Fast.

»Fortpflanzung wird sehr begrüßt und die meisten Paare werden Kinder zeugen, die hier eine echte Überlebenschance haben.« Terry wedelt mit dem Arm im Zimmer herum, meint aber das Große dahinter – die Erde. »Ganz natürliche Sache, denk ich mal.«

»Ganz natürlich?«, äfft ihn Silas zähneknirschend nach.

»Aber wo stecken denn die ganzen Kinder?« Ich versuche, meine Stimme unter Kontrolle zu behalten, als mir das Mädchen auf dem Dachboden wieder einfällt, die Angst in ihren Augen, und der Arzt, der sie unbeteiligt und kühl ihren Wehenabstand messen ließ. Ist das mein Schicksal, wenn wir hierbleiben – die Mutterschaft?

»Wir behalten sie in der Kinderstube und trainieren sie von Geburt an«, sagt Terry.

»Ihr nehmt den Mädchen ihre Babys weg?« Das Entsetzen in meiner Stimme ist nicht zu überhören.

»Ich hab nicht das leiseste Bedürfnis, mich fortzupflanzen. Und zwar jemals«, sagt Silas. Nachdem er Inger geliebt und verloren hat, überrascht mich seine Empörung nicht im Mindesten.

»Aber bei uns leben willst du durchaus. Und genau darum geht es bei uns«, sagt Terry schlicht.

Silas setzt sich ans Ende seines Laufbands und stützt den Kopf in die Hände. Wir kauern uns um ihn herum. Für weitere Fragen sind wir viel zu geplättet, und da Terry hier offensichtlich auch nichts zu melden hat, achtet keiner auf seinen diskreten Abgang. »Das ist eine Babyfabrik hier«, sagt Silas. »Kein Wunder, dass sie sich null für Maude und Bruce interessieren.« Er wirft einen Seitenblick auf das trainierende Paar bei uns im Zimmer. Sie triefen vor Schweiß und sind sicher viel zu erledigt zum Lauschen, aber Silas steht auf und winkt uns sicherheitshalber trotzdem rüber in die andere Ecke. »Wir müssen von hier verschwinden«, sagt er.

»Und wo sollen wir hin?«, fragt Dorian.

Silas funkelt ihn an. »Wen interessiert’s?«

»Vielleicht werden wir ja mit jemand ganz Normalem gepaart«, sagt Dorian. Meint er das ernst? Hört der sich überhaupt zu, was er da von sich gibt?

»Ja, coole Sache. Vielleicht kriegst du eine ganz scharfe Braut ab«, sagt Silas. »Sieh das Ganze doch mal aus Alinas Perspektive.« Aber genau das möchte ich nicht – ich will nicht, dass ihre Entscheidung sich an meinem Geschlecht festmacht. Es muss für uns alle das Beste sein.

»Wir können hier nur weg, wenn sonst wirklich gar nichts mehr geht«, sagt Dorian. »Da draußen gibt’s keine Luft. Da sind wir binnen einer Woche tot.«

»Nach dieser lächerlichen Zeremonie werden die uns zwingen, mit…« Silas tritt gegen eine Wasserflasche am Boden. Ich drücke ihn an mich, damit er aufhört zu zittern. Er stößt mich weg. »Inger ist tot und ich soll da einfach drüber hinwegkommen und es mit irgendeinem Mädchen treiben?« Silas und Dorian stehen sich Aug’ in Aug’ gegenüber, bereit, aufeinander loszugehen. Song schiebt sie auseinander und baut sich zwischen ihnen auf.

»Solange wir nicht wissen, was mit Quinn, Bea und Jazz ist, können wir eh nichts machen«, sage ich.

»Dann warten wir ab«, meint Dorian.

Silas verdreht die Augen. »Wenn wir abwarten, haben wir vielleicht keine Chance mehr, drüber zu reden. Sorry, aber welchen Aspekt dieser widerlichen Angelegenheit hast du noch nicht geschnallt?«

Dorians Augen werden groß und er hebt die Faust, als wolle er Silas eine reinhauen, als die Tür wieder aufgeht.

Es ist Abel. »Bleibt da«, sagt er, blickt zu mir und schüttelt Silas die Hand. »Terry hat gemeint, ihr wärt hier und würdet euch ziemlich aufregen über das, was er euch erzählt hat.«

»Wir dachten, du wärst tot. Und sonst noch so einiges«, sagt Silas.

»Ihr kennt euch?«, fragt Dorian, die Hände immer noch zu Fäusten geballt.

»Weißt du noch, als ich in den Hain gekommen bin und dir erzählt habe, dass Abel umgebracht worden ist? Das ist er«, sage ich. Eine Sekunde lang kann ich Abel ansehen, dann muss ich meinen Blick wieder abwenden

»Aber du bist keiner von den Rebellen«, sagt Dorian zu Abel.

Abel beachtet ihn gar nicht. »Die hätten euch schon abgeknallt, bevor ihr überhaupt am Brunnen vorbei wärt. Außerdem, wo wollt ihr denn hin? Wenn ihr nicht erstickt, dann verhungert ihr halt. Und wenn ihr wieder angekrochen kommt, und so wird es sein, dann wird Vanya euch das Leben ganz schön zur Hölle machen.« Die Sache mit der Verpaarung macht mich fertig, aber ich kann mir den Gedanken nicht verkneifen, wie es wäre, Abel zugeteilt zu bekommen. Wenn ich die Gewissheit hätte – würde das was ändern?

»Genau das sag ich ja die ganze Zeit«, meint Dorian, als sei Abel sein bester Kumpel. Er kreuzt die Arme vor der Brust. Wir anderen schauen zu Silas. Wenn er und Dorian sich nicht irgendwie einigen, dann reißt es unsere Gruppe auseinander und dafür haben wir schon zu viele von uns verloren.

»Was auch immer wir machen, wir tun es gemeinsam«, sage ich.

»Dann bleiben wir«, sagt Dorian.

»Wir gehen«, verbessert Silas.

»Wartet eine Woche ab«, schlägt Abel vor. »Wenn ihr dann meint, dass ich unrecht hatte, helfe ich euch bei der Flucht.«

»Und was springt für dich dabei raus?«, fragt Silas.

Abel stutzt und blickt dann mich an. »Die Rebellen haben etwas durchaus Sinnvolles getan. Gemeinsam können wir Vanya vielleicht klarmachen, dass die Baumzucht auch etwas Gutes hat.« Ich beäuge ihn genau. Das klang gerade reichlich herablassend, oder?

Doch selbst wenn, Song stört sich nicht dran. »Aber Vanya hat ihre Meinung zum Thema Pflanzenzucht schon ziemlich deutlich gemacht, als sie aus dem Hain abgehauen ist«, sagt er.

»Dann müssen wir ihr zeigen, dass sie falschliegt«, sagt Abel.

Silas seufzt, lange und tief, und wirft den Kopf in den Nacken. »Drei Tage«, sagt er. »Aber wir müssen uns noch unterhalten, Abel.«

Das Haus erzittert und wir verstummen. »Die Zip ist wieder da«, sage ich.