Alle Betten auf der Station sind belegt, doch die Leute darin meiden unseren Blick. Ich bin schon kurz vorm Ausrasten, als sich eine bleiche Frau aus dem Bett quält, um meiner Mutter Platz zu machen. »Gibt’s denn im ganzen verdammten Laden hier keine einzige Schwester mehr?«, frage ich. Jetzt schallen Sirenen durchs ganze Gebäude.
Die Frau schüttelt den Kopf. »Das bisschen Personal, das noch nicht das Weite gesucht hat, ist gerade bei einem Blinddarmdurchbruch.« Sie zieht zwei Schlaufen heraus, die seitlich am Bett befestigt sind, und schiebt die Füße meiner Mutter hindurch.
Meine Mutter umklammert die Matratze. »Holt Doktor Kessel!«, schreit sie.
»Hier gibt’s keine Ärzte mehr, Mom«, sage ich.
Sie versucht, sich aufzurichten. »Hier werde ich das nicht machen. Nein. Nein.« Und dann beginnt sie zu kreischen und die Augen zuzupressen.
Bea rollt sich die Ärmel hoch und wendet sich an meine Brüder. »Ihr solltet nicht dabei sein. Geht und kümmert euch um Jazz, das Mädchen, das bei mir auf der Treppe war.« Keane sieht aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Seid tapfer«, fügt sie hinzu und beide ergreifen die Flucht.
»Wir brauchen heißes Wasser«, sage ich zu der bleichen Frau. Wofür auch immer, aber gehört habe ich es schon mal und der Sinn wird sich mir sicher erschließen. Hoffe ich zumindest.
»Ja, ja. Unter anderem«, sagt sie und eilt fort.
Bea schiebt den Rock meiner Mutter über die Knie und zieht ihr die Unterwäsche aus. Ich halte meiner Mutter die Hand und sie blickt zu mir auf. »Du bist anders geworden«, sagt sie. Ich nicke, weil sie recht hat, selbst wenn fraglich ist, ob das ein Kompliment war.
»Du musst auch nicht hierbleiben, Quinn«, sagt Bea. Noch vor einem Monat hätte ich mich angestellt und mich möglichst weit von hier weggewünscht, aber jetzt, zwischen all dem Sirenengeheul und dem ständig anschwellenden Geplärre und Gebrüll von der Straße, ist der Anblick meiner gebärenden Mutter noch meine geringste Sorge. Ich frage mich immer wieder, wie wir es hier noch bei lebendigem Leib rausschaffen sollen und was passiert, wenn es uns gelingt.
Die Frau kehrt schwer beladen zurück. Sie stellt sich neben Bea ans Bettende. »Ich brauch was gegen die Schmerzen«, bettelt meine Mutter.
»Zu spät«, sagt die Frau. Sie stupst Bea an. »Bereit?«
Bea nickt entschlossen. »Ja.«
»Wo haben Sie das Zeug her?«, frage ich die Frau mit Blick auf Mull und Schere.
Die Frau macht eine vage Handbewegung Richtung Flur. »Aufgebrochene Vorratskammer.«
Das Gesicht meiner Mutter ist dunkelrot.
»Geh und raff zusammen, was wir brauchen können«, sagt Bea. Sie hat keine Ahnung, dass wir in Sequoia ein Dutzend Kinder aufgelesen haben, aber dass wir Ausrüstung brauchen, ist ihr klar. »Dafür ist locker Zeit. Ich glaub kaum, dass Babys einfach so rausgeschossen kommen.«
Ich bahne mir einen Weg durch den Flur, bis ich die Kammer gefunden habe. Überall liegen Flaschen, Bettzeug und Schnuller herum. Ich greife mir ein Laken, breite es auf dem Boden aus und lasse meinen Blick über die Regale schweifen. Auf das Laken werfe ich alles, was ich an Milchpulver finden kann, dazu Pflaster, Paracetamol, Kodein, steril verpackte Klingen, Watte, sterile Reinigungstücher und noch eine Auswahl von allem anderen, nur zur Sicherheit. Ich falte die Ecken in der Mitte zusammen, verknote sie und kehre gerade in den Flur zurück, als ich meine Mutter höre. Sie kreischt so laut, dass alles verstummt. Ich erschauere und hetze zurück.
Bea starrt auf ein verschmiertes lila Bündel in ihren Händen hinab. »Der hatte es aber ziemlich eilig mit der Begrüßung«, sagt sie.
Die Frau wischt das Baby mit einem Handtuch ab und bringt ein verquollenes Gesicht zum Vorschein.
Mein Bruder – samt verklebtem schwarzem Haar und platter Nase.
Er windet sich und schreit los. Bea reicht ihn meiner Mutter. Sosehr ich mir auch beweisen möchte, wie kalt mich das lässt und was für eine Art Mensch sie doch ist – jetzt weint auch sie, küsst meinen Bruder auf den Kopf, voller Liebe, die sie in meiner Vorstellung auch mal für mich empfunden hat. Früher mal. Vor sechzehn Jahren war auch ich perfekt, rein und ein unbeschriebenes Blatt. Ich bin nur einfach nicht der Mensch geworden, den sie sich gewünscht hat.
»Wir können hier nicht bleiben«, sagt Bea zu mir. »Hast du alles, was wir brauchen?«
»Und noch mehr.« Ich starre auf die Minizehen meines Bruders. Sogar Fußnägel hat er. »Wir müssen sie mitnehmen.«
Meine Mutter blickt auf. »Ich bleibe hier«, sagt sie. Trotz all des Lärms, des Bluts und der Leute lächelt sie. So hab ich sie noch nie gesehen – noch nie so glücklich.
»Warum?«, frage ich.
»Die Kuppel ist mein Zuhause. Ich gehe hier nicht weg.«
»Willst du, dass das Baby hier aufwächst?«
Wieder jault eine Sirene über dem Krankenhaus und liefert sich einen Wettstreit mit dem Alarmgeheul aus dem Erdgeschoss. »Wo auch immer ihr hingeht, werden Premiums wohl kaum sehr willkommen sein«, meint meine Mutter.
Bea schlingt ihren Arm um meine Hüfte. »Quinn«, sagt sie.
»Aber…«
»Es ist ihre persönliche Entscheidung.«
»Er heißt Troy«, sagt meine Mutter. Sie saugt seinen Duft ein und ich strecke die Arme aus, um ihn ihr abzunehmen.
»Nein«, sagt Bea und verstellt mir die Sicht auf meinen Bruder. »Es ist nicht gut, wenn er seine Mutter verliert.« Und sie muss es wissen. Genau wie ich.
Ich küsse Troy und meine Mutter hält mir ihre Wange hin, damit ich sie ebenfalls küssen kann. Aber ich bringe es einfach nicht. Ich weiche zurück.
Da erschüttert eine Explosion die Kuppel und die ganze Station. Bea nimmt mich bei der Hand. »Mehr können wir nicht tun«, sagt sie.
»Ich will nur…« Die Worte bleiben mir im Hals stecken.
»Sie weiß, dass du sie liebst«, sagt Bea.
Meine Mutter schnieft ein bisschen vor sich hin. Vielleicht liebt sie mich auch. Ich werfe einen letzten Blick auf Troy und wende mich ab.
Zeit zum Aufbruch. Da draußen tobt ein Krieg und wir werden gebraucht.