Das Mädchen vom Strand

Weßling ist ein kleines unscheinbares Dorf, nicht weit von München, an der Straße zum Ammersee. »In der Nähe ist ein kleiner, ziemlich trauriger Moorsee. In der Hauptstraße lärmt der Durchgangsverkehr.« Vicco Mann geht durch dunklen Nebel und rieselnden Regen einen tristen Weg entlang. Am Morgen hatte er einen Anruf von der Krankenschwester bekommen, die in den letzten Tagen auf seine Mutter aufgepasst hatte: »Die Frau Mutter wird heute verscheiden.«

Julia Mann war erst vor wenigen Wochen hierhergezogen in eine besonders kleine, unschön eingerichtete Wohnung. Seit acht Tagen war sie krank, Grippe, Lungenentzündung, dazu ihr schwaches Herz und die immerwährende Angst um die Kinder. Sie war geflohen und geflohen, in den letzten Jahren immer eiliger. Auf der Flucht, auf der Suche. Wer brauchte sie noch? Wofür war sie noch am Leben? Wo war ein Halt?

Vicco betritt ihr Zimmer und erinnert sich später: »Mama lag hochgebettet und lächelte mich aus verfallenem Gesicht froh an. ›Na, alter Peter, da bist du ja‹, sagte sie langsam und mit ganz veränderter Stimme.«

Ja, was war mit ihrer Stimme geschehen? Sie hatte stets rasch und in reinem Hochdeutsch mit leicht Lübeck’schem Tonfall gesprochen. Und jetzt sprach sie langsam, in dunklem Ton, rollte das R. »Es war – ja so klang es«, so empfindet es ihr jüngster Sohn, »wenn Spanier oder Portugiesen Deutsch sprachen. Portugiesen, also auch Brasilianer.«

In den letzten Lebensstunden sprach die kleine Dodo wieder aus ihr. Das Portugiesisch der Kindheit oder wenigstens doch der Klang von damals, als wäre er all die Jahre tief in ihr verborgen gewesen und käme nun ganz von selbst wieder in die Welt. Die Stimme der Strandmenschen und des Mädchens, das sie damals war und über das sie später schrieb: »Es lief im Hemdchen, das durch einen Gürtel gehalten wurde, barfuß umher; einmal vorn hinaus an den Meeresstrand, um von den mächtigen Steinen die Muscheln und kleinen Austern zu lösen, die sie zum Rösten ins Haus an den Herd brachte; dann wieder hinter das Haus an den Rand des Urwaldes, wo sie herabgefallene Cocosnüsse und Bananen sammelte.«

Vicco schaut und hört und schreibt: »Und nun, beim Sterben, war der Klang von ›drüben‹, vom bunten Soneland, wieder da.«

Es ist der 11. März 1923. Die beiden älteren Brüder kommen zusammen mit Heinrichs und Viccos Frau im Wagen vorgefahren. Katia ist krank.

Julia sagt: »Aber ich will Euch alle vorher noch einmal sehen.« Es wird beschlossen, dass ihre Söhne ein letztes Mal Tee mit ihr trinken, vier Tassen, dazu Gebäck. Julia tut, als ob sie noch einen Schluck nimmt, doch sie ist längst zu schwach, fordert die Söhne zum Kekseessen auf. Thomas erzählt mit ruhiger Stimme von den Kindern. Julia hört zu, lächelt und schließt immer wieder die Augen.

Vicco sieht seine Mutter friedlich und ruhig:

»Dies war Verklärung und glücklicher Ausgang. Ihr Leben lang war unsere Mutter angstvoll um uns und auch nervös-ängstlich um sich selbst gewesen. Ihre Kinder glaubte sie immerfort in irgendwelchen Gefahren und mahnte sie mündlich und schriftlich fortwährend zur Vorsicht. Sie hatte sich vor raschen Wagenfahrten, vor Bahnunglücken, Gewittern und Schlangen gefürchtet, aber jetzt, wo der Tod vor der Tür stand, fürchtete sie sich nicht. Das war nicht letzte Schwäche, denn der diskrete Abschiedsplan bestand ja sicher schon, seit sie um das nahe Ende wußte. Und die unstete Flucht der letzten Jahre, das unnötig und peinigend Entwurzelte war dahin.«

Ihre dunkle Stimme aus der Ferne wird immer leiser. Schließlich sagt sie: »Ich will jetzt ein bißchen schlafen.« Und: »Ich werde Euch wieder rufen lassen.« Die Söhne verabschieden sich, schauen noch einmal zum Bett, sie winkt und lächelt. Draußen erzählt Thomas leise den wartenden Frauen vom letzten Gespräch und noch bevor er sich setzen kann, öffnet sich die Tür, die Schwester tritt ein und sagt: »Die Frau Senator ist soeben ganz sanft entschlafen.«