Und damit wach ich auf

In den Monaten danach hat Thomas Mann über den Tod geschrieben und über das ideale Leben am Strand, er hat über eine Gemeinschaft von Sonnen- und Meereskindern geschrieben, über Lebensfreundlichkeit und Menschen, die von innen heraus liebenswürdig sind. Er hat von einem jungen Mann geschrieben, der im Meer verloren zu gehen drohte und sogar Gefallen daran fand, weil er des Lebens überdrüssig war, weil er müde war und sich angezogen fühlte von einer Landschaft, die sich im Unendlichen verliert. Thomas Mann schreibt in den Monaten nach dem Tod seiner Mutter das berühmteste Kapitel seiner Romanwelt. Er schreibt das Kapitel der Rettung Hans Castorps vor dem Tod. Er schreibt davon, dass der Mensch eine Verantwortung trägt für sich und die Gemeinschaft, zu der er gehört. Dass man sich nicht gehen lassen darf, nur weil man müde ist, dass man manchmal sich selbst überwinden muss, um das Gute zu tun, dass die Liebe zum Tod eine Liebe zum Leben ist. Das Kapitel heißt »Schnee«. Es handelt vom Meer.

»Jedoch liebte Hans Castorp das Leben im Schnee. Er fand es demjenigen am Meeresstrande in mehrfacher Hinsicht verwandt: die Urmonotonie des Naturbildes war beiden Sphären gemeinsam; der Schnee, dieser tiefe, lockere, makellose Pulverschnee, spielte hier ganz die Rolle wie drunten der gelbweiße Sand; gleich reinlich war die Berührung mit beiden, man schüttelte das frosttrockene Weiß von Schuhen und Kleidern wie drunten das staubfreie Stein- und Muschelpulver des Meeresgrundes, ohne daß eine Spur hinterblieb, und auf ganz ähnliche Weise mühselig war das Marschieren im Schnee, wie eine Dünenwanderung, es sei denn, daß die Flächen von Sonnenbrand oberflächlich angeschmolzen, nachts aber hart gefroren waren: dann ging es leichter und angenehmer darauf, als auf Parkett, – genau so leicht und angenehm, wie auf dem glatten, festen, gespülten und federnden Sandboden am Saume des Meeres.«

Thomas Mann gibt mit diesem Kapitel seinem ganzen Werk eine grundsätzliche Wende, von der es kein Zurück mehr geben wird. Der Todessympathisant wird Verantwortungsdichter. Wohl stets und bis an sein Lebensende im Grunde gegen sein innerstes Wollen. Gegen seine Natur. Aber der Entschluss steht fest. Und er gibt ihn seinem Helden Hans Castorp mit in den Schnee. Für diesen wird er zu spät kommen. Er kann sich aus dem Todesbann des Zauberbergs nicht mehr befreien. Oder doch nur im Kriege. Aber die Lehre, die der todesfrohe Held im Schneetreiben erfährt, bleibt den Lesern und dem Autor als zentrale Botschaft erhalten.

Es fängt mit nichts weiter als etwas Abenteuerlust an. Unser Held hat sich Schneeschuhe gekauft, um auch mal in abgelegenere Gebiete im Schnee wandern zu können. Sein sittlicher Erzieher Lodovico Settembrini ist begeistert! Schneeschuhe! Das bedeutet Selbstständigkeit! Es erinnert ihn an Mercurio, den Götterboten, Gott des Handels, der kaufmännischen Tätigkeit. Er sieht Castorp schon auf Flügelschuhen aus eigener Kraft endlich dem Todesberg entfliehen!

Doch die Neuanschaffung macht Hans Castorp übermütig. Er schwimmt immer weiter hinaus, begibt sich immer tiefer und tiefer in das unendliche Weiß. Er denkt noch, er höre gewiss bald das Strandhörnchen des Aufpassers wie damals auf Sylt. Gewiss wird sein hiesiger Bergaufseher Settembrini ihn schon bald mit dem Hörnchen zurück an den sicheren Strand rufen. Aber er hört nichts. Der Ruf müsste aus ihm selber kommen, aber es ruft da nichts in ihm. Er will sich der weißen Macht hingeben, dem »trüben Nichts«, dem »Wesenlosen«, dem »wattigen Nichts«, dem »Chaos von weißer Finsternis«.

All das ist ihm tief vertraut wie von immer schon: »Von dorther kannte der junge Mensch das Begeisterungsglück leichter Liebesberührungen mit Mächten, deren volle Umarmung vernichtend sein würde. Was er aber nicht gekannt hatte, war die Neigung, diese begeisternde Berührung mit der tödlichen Natur so weit zu verstärken, daß die volle Umarmung drohte, – als ein schwaches, wenn auch bewaffnetes und von der Zivilisation leidlich ausgestattetes Menschenkind, das er war, sich so weit ins Ungeheuerliche vorzuwagen, oder doch so lange nicht davor zu fliehen, bis der Verkehr das Kritische streifte und ihm kaum noch beliebig Grenzen zu setzen waren, bis es sich nicht mehr um Schaumauslauf und leichten Prankenschlag handelte, sondern um die Welle, den Rachen, das Meer.«

Und irgendwann schläft Hans Castorp ein. Das kann hier oben in dem tobenden Weiß nur den Tod bedeuten. Etwas in ihm weiß es selbst. Er schläft und träumt und etwas erinnert sich in ihm. Er weiß nicht, was. Etwas tief in ihm erinnert sich an eine Landschaft, an eine Meeresbucht tief, tief im Süden. Er fragt sich träumend, ob es das Mittelmeer vor Sizilien sei oder Neapel, Griechenland. Er weiß es nicht. Er ist noch nie dort gewesen. Aber er kennt es. Es ist paradiesisch schön, »eine Seligkeit von Licht«, eine junge Frau am Strand braucht nur die Hand zu heben, schon greift sie eine Frucht mit Blättern. »Bläue schwamm … Die blanken Regenschleier sanken: da lag das Meer – ein Meer, das Südmeer war das, tief-tiefblau, von Silberlichtern blitzend, eine wunderschöne Bucht, dunstig offen an einer Seite, zur Hälfte von immer matter blauenden Bergzügen weit umfaßt, mit Inseln zwischenein, von denen Palmen ragten, oder auf denen man kleine, weiße Häuser aus Zypressenhainen leuchten sah. Oh, oh, genug.«

Eine paradiesische Bucht an einem Strand, ganz wie die eine, die er nie gesehen, aber von der er von frühen Kindertagen an immer wieder gehört hatte. Ererbte Erinnerung: »Dennoch erinnerte er sich. Ja, das war eigentümlicherweise ein Wiedererkennen, das er feierte. ›Ach, ja, so ist es!‹ rief es in ihm – als hätte er das blaue Sonnenglück, das sich da vor ihm breitete, insgeheim und vor sich selbst verschwiegen, von je im Herzen getragen: Und dieses ›Je‹ war weit, unendlich weit, so wie das offene Meer zur Linken, dort, wo der Himmel zart veilchenfarben darauf niederging.«

Er träumt sich weit zurück und schaut und sieht eine Gemeinschaft von Menschen in sonderbarer Herzenshöflichkeit vereint. »Lebenswürdig von innen heraus« sind die Sonnenleute, »undüsteren Ernstes, verständiger Frömmigkeit«. Und da endlich eine junge Mutter, die ihr Kind stillt, Castorp sieht es »gänzlich mit Entzücken«.

So kurz nach dem Tod der eigenen Mutter schreibt Thomas Mann das. Die Schönheit dieser Welt, die ideale Gemeinschaft und eine stillende Mutter mit ihrem Kind. Als plötzlich im Traum ein Knabe auftaucht, schön und gelassen zunächst, bis sich sein Blick verfinstert, »ganz wie aus Stein, ausdruckslos, unergründlich, eine Todesverschlossenheit, vor der den kaum beruhigten Hans Castorp der blasse Schrecken ankam«.

Der Knabe blickt zurück, Castorp tut es ihm gleich und sie sehen zwei steinerne Frauenfiguren, wieder Mutter und Tochter, die Mutter hält das Kind im Arm, doch ist sie tot, mit »sternlos leeren Augen« blickt sie auf das Kind hinab. Dieses »mütterlich umschlungen, mit rundem Jungfrauengesicht, Arme und Hände in die Falten des Übergewandes geschlungen und darin verborgen«.

Die tote Mutter, das mütterlich umschlungene Kind. Thomas Mann hat, unbewusst oder bewusst, in diese Schlüsselszene seines Werkes den Tod seiner Großmutter Maria Luiza da Silva-Bruhns eingeschrieben oder eine ererbte Erinnerung daran. Ein tiefer Schrecken fährt in den träumenden Hans: »In der Betrachtung des Standbildes wurde Hans Castorps Herz aus dunklen Gründen noch schwerer, angst- und ahnungsvoller.«

Nach dieser Szene geht der Blick in die Tempelkammer und noch Grauenvolleres geschieht: Ein kleines Kind wird zerrissen über einem Becken von »zwei grauen Weibern, halbnackt, zottelhaarig, mit hängenden Hexenbrüsten«, das Kind wird verschlungen, »die spröden Knöchlein« knacken im Munde. »Grausende Eiseskälte« hält Castorp im Bann, er will fliehen und kann es nicht, die Mörderinnen erblicken ihn und – offenbar ist der Mord im Norden geschehen, weit von der Südmeerbucht entfernt – jedenfalls schimpfen sie »im Volksdialekt von Hans Castorps Heimat«. Die Mörderinnen des kleinen Kindes, die es zerreißen und verspeisen mit Haut und Knochen, sind, so will es scheinen, norddeutscher Herkunft. Während ihr Opfer, wenn es wider den träumerischen Augenschein doch irgendwie überlebt haben würde, gegen Ende des Lebens womöglich das ›R‹ rollen würde, wie sie es in ihrer frühen Sonnenheimat gelernt hatten.

Dann wacht Hans Castorp langsam auf. Der Todesschock hat ihn geweckt. Und ein wenig auch das aufklarende Wetter. Im Traum hat er Grauenvolles erlebt und in der Wirklichkeit hat er Glück gehabt. Es träumt noch nach in ihm. Was war das? Was hat in ihm geträumt? Und wer mit ihm? War er allein? Oder hat er eine Welt geträumt? Ein Land? Eine Zukunft? »Man träumt nicht nur aus eigener Seele, möcht ich sagen, man träumt anonym und gemeinsam, wenn auch auf eigene Art. Die große Seele, von der du nur ein Teilchen, träumt wohl mal durch dich, auf deine Art, von Dingen, die sie heimlich immer träumt, – von ihrer Jugend, ihrer Hoffnung, ihrem Glück und Frieden … und ihrem Blutmahl.«

Er hat den Traum der großen Seele geträumt, Traum einer guten Zukunft. Er hat sich befreit, er hat sich vom Sog in den Schnee, ins Unendliche, in den Tod selbst befreit. Durch Lebenserfahrung, durch Gespräche mit dem Untergangsterroristen Leo Naphta und dem demokratischen Erzieher Settembrini. Im Aufwachen erklärt er zwar beide gleichermaßen für »Schwätzer«, aber der Leser weiß es besser. Settembrini, der Strandwächter, hat ihn ja gerettet. Er musste gar nicht mehr in sein Strandhörnchen blasen. Es klang ja längst aus Hans Castorp hinaus. Leider, so will es der Roman, kommt seine Lebenslehre für sein Leben und für das Land, für das er träumt, zu spät. Der Roman spielt nun einmal in der europäischen Vorkriegszeit. Der Krieg wird kommen, das ist nicht wegzudichten. Und Hans Castorp wird uns aus den Augen kommen. Er wird im Schlamm und Schlachtengetümmel Schuberts Lindenbaum-Lied singen, wie es Julia Mann den Kindern und später den Enkeln vorgesungen hat. Aber der Roman weiß: Aus dem Untergang Castorps, aus dem Untergang Deutschlands wird ein gutes, ein demokratisches, ein lebensfreundliches Deutschland erwachsen. Und der ganze Wille des Autors geht von nun an dahin, dass er selbst und mit ihm sein Land diesen Traum nicht mehr vergessen wird. Der Kampf von Thomas Mann ist von nun an auch der Kampf gegen das Meer in sich, gegen die Meeresversuchung Deutschlands, Castorps und seiner selbst. Es ist seine Lebenskonfirmation. Und sein Leitvers ist eben nicht »Verleugne dich selbst«, sondern »Überwinde dich selbst«.

Hans Castorp fragte sich während des Erwachens im tiefen Schnee, warum die erträumte oder erinnerte sonnige Menschengemeinschaft so sonderbar freundlich, menschlich, höflich, zugewandt gewesen ist. Kennen sie denn nicht die dunklen Triebe, die Schattenwelt, den Hass, die Scham, den Neid, die Verachtung, die Todeslust, den Tempel mit dem Blutmahl? Oh doch. Sie kennen all das. Sie kennen es besonders gut. »Waren sie so höflich und reizend zueinander, die Sonnenleute, im stillen Hinblick auf eben dies Gräßliche? Das wäre eine feine und recht galante Forderung, die sie da zögen! Ich will es mit ihnen halten in meiner Seele.«

Die Lehre der toten Mutter. Der geliebten Tochter. Vaterliebe zur neuen Weltordnung. Wofür sind wir auf der Welt? Wofür träumen wir? Wofür wurde Castorp aus dem Meer gezogen? »Oh, so ist es deutlich geträumt und gut regiert! Ich will dran denken. Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, daß Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindlichkeit ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren. Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Und damit wach ich auf … Denn damit hab ich zu Ende geträumt und recht zum Ziele.«

Hans Castorp vergisst den Traum und stirbt im Krieg. Thomas Mann vergisst ihn nicht. Er ist von nun an politisch imprägniert – ein Kämpfer, ein Mann, der öffentlich für die Demokratie und gegen den aufziehenden Faschismus zu Felde ziehen wird, wo immer das Leben und die Zeit es erfordern. In den entscheidenden Jahren, als es ums Ganze geht, um das fatal fehlgegangene Deutschland, da reagiert er etwas spät, etwas zögernd, dafür umso entschlossener und entschiedener und mit lauter, klarer, weltweit vernehmbarer Stimme. In seinen Büchern, in seinen Reden, in seinem Leben. Im politischen Sinne hielt er sich von nun an von Meer und Meeressog fern. Im persönlichen und erotischen Sinne behielt es ein Leben lang die magische Wirkung auf ihn.