D as staatliche Pflegeheim, in dem Albin Rohringer lebte, war in einem Schloss am Rande von Schwarzach untergebracht. Auf dem Weg dorthin hatte man einen wunderbaren Blick über die Landschaft. Der Himmel war blau, die Felder braun, und nichts deutete auf den beginnenden Winter hin. Das Schloss strahlte herrschaftlich im Sonnenlicht, doch als ich in den Schlosshof kam, bemerkte ich, dass es schon ziemlich baufällig war. Ein Teil der Fassade war eingerüstet und mit einem grünen Netz versehen, bei den ehemaligen Stallungen waren die Dächer eingestürzt. Billige Fenster mit Plastikrahmen waren lieblos in die Mauern gesetzt worden, und über dem großen Portal thronte ein Vordach aus Wellblech.
Dieser Eindruck setzte sich auch im Inneren fort. Im Foyer hatte man einen giftgrünen PVC-Boden verlegt, der Tresen, hinter dem ein gelangweilter Pfleger mit Kopfhörern saß, war aus Sperrholz, von dem das Furnier bereits abblätterte. Es gab eine durchgesessene Couch und einen Tisch mit zerlesenen Zeitschriften.
»Ich möchte gern mit Doktor Rohringer sprechen.«
Der Pfleger hob den Kopf und deutete dann mit der Hand zu einem dunklen Gang. »Da sind die Pflegefälle. Nummer 31.« Dann vertiefte er sich wieder in sein Computerspiel.
»Was fehlt ihm denn?«, fragte ich neugierig.
»Demenz«, murmelte der Pfleger ungehalten über die Störung und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Langsam schritt ich den Gang entlang und blickte verwundert an die Decke. In ungefähr drei Metern Höhe entdeckte ich den Ausschnitt eines verblichenen Gemäldes, das von bröckelndem Stuck eingefasst war. Der Raum war anscheinend einmal ein Ballsaal gewesen, den man jetzt ohne jeden Sinn für Raumplanung mit Gipskartonplatten in kleine Zimmer unterteilt hatte. Eines davon bewohnte Albin Rohringer.
Ich klopfte, und als sich nichts rührte, trat ich ein. Das Zimmer war nordseitig gelegen und hatte ein großes Fenster, dessen Doppelverglasung allerdings blind war, sodass man die Welt draußen wie durch einen grauen Dunstschleier sah.
Im Gegensatz zu dem abgewohnten Ambiente wirkten die Möbel in diesem Raum gediegen. Es gab eine Bücherwand aus dunklem Holz, dunkelgrüne Clubfauteuils aus schwerem Leder und einen Barwagen aus Chrom mit geschliffenen Karaffen, die allerdings alle leer waren und ziemlich verschmutzt aussahen. ›Das müssen die alten Möbel aus seinem Haus sein‹, erinnerte ich mich.
Zu meiner Enttäuschung war Johannes nirgends zu sehen.
In einem Fauteuil saß nur Albin Rohringer und verlor sich beinahe in dem voluminösen Kissen. Beinahe hätte ich ihn nicht mehr wiedererkannt. Früher war er ein stattlicher Mann gewesen, der despotisch seine Familie beherrschte. Doch jetzt war er merklich geschrumpft und hatte braune Altersflecke auf seinem kahlen Schädel. Nur sein Blick war derselbe geblieben. Die hellen stechenden Augen waren noch genauso unangenehm wie früher. Versunken in dem großen Stuhl beobachtete er mich argwöhnisch.
»Sie sind nicht meine Sekretärin«, schnarrte Rohringer mit einer krächzenden Stimme. Er lebte anscheinend in seiner eigenen Welt und hielt sich immer noch für den einflussreichen Bankdirektor, der er einmal gewesen war. Als ich noch in Dunkelsteig wohnte, wollte sich jeder im Ort mit ihm gut stellen, denn Rohringer entschied selbstherrlich über Kredit oder Untergang. Davon war jetzt allerdings nichts mehr zu sehen.
»Ich bin Felicitas Laudon. Eine Freundin von Johannes«, erwiderte ich und setzte mich Rohringer gegenüber. »Erinnern Sie sich noch an mich?«
»Ach, die kleine Laudon.« Rohringers Miene hellte sich auf. »Warst du nicht das hässliche Entlein, das immer mit der schönen Manuela Köstlinger herumgezogen ist?«
»Genau.« Ich nickte und schluckte meinen Ärger hinunter. Schon immer hatte ich den alten Rohringer für einen unsympathischen Kotzbrocken gehalten, und diesen Eindruck bestätigte er auch jetzt wieder. »Manuela war ein sehr hübsches Mädchen.«
»Wer?« Rohringer sah mich verständnislos an. »Sie sind aber nicht meine Ärztin«, murrte er dann.
»Ich bin Felicitas.«
»Manuelas Schatten.« Rohringer wirkte mit einem Mal wieder klar. »Wo ist denn die kleine Schlampe?«
»Wen meinen Sie?«
»Na, Manuela natürlich. Ist sie tatsächlich zum Cirque du Soleil gegangen? Ich habe ihr die Akrobatenausbildung in Berlin finanziert.« Rohringer beugte sich vor und ließ seine knochigen Finger durch die Luft kreisen.
»Manuela ist nie in Berlin gewesen«, erwiderte ich. »Sie ist vor zwanzig Jahren im Teufelsspalt verschwunden.«
»Sie musste viel üben, um aufgenommen zu werden. Begabt war sie ja, aber auch faul. Ich habe immer zu ihr gesagt: Streng dich an, Mädchen. Nur so wirst du Erfolg haben. Genauso wie deine Schönheit, so musst du auch dein Talent pflegen. Aber sie hatte ihren Kopf immer nur bei den Männern. Diese Vorliebe hat sie von der wilden Liesl geerbt.«
Manuela hatte mir nie davon erzählt, dass Rohringer ihre Ausbildung finanzieren würde. Ich erinnerte mich, dass sie häufig große Geldscheine mit sich führte. Ich dachte immer, dass sie das Geld ihrer Mutter gestohlen hätte, die mit ihren Bildern damals sehr gut verdiente.
Unauffällig blickte ich mich im Zimmer um. Neben einer Serie von Readers-Digest-Büchern, die Bestseller in Kurzfassung enthielten, hatte Rohringer Biografien über berühmte Persönlichkeiten im Regal stehen. Dazwischen Fotorahmen seiner Frau und von Johannes. Plötzlich erweckte eine zerfledderte Zeitschrift mein Interesse. Es war ein umgeklapptes Sparkassenmagazin, und es zeigte ein Gruppenfoto mit dem alten Rohringer, Manuela und einer fremden Frau im Vordergrund. Die Unbekannte hielt ein kleines Kind an der Hand. Mehr noch interessierte mich aber die Gestalt im Hintergrund, die an einem Baum lehnte. Es war ein Mann mit Hut, der sich in dem Augenblick, als das Foto geknipst wurde, zur Seite drehte, sodass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Auch Manuela blickte nicht in die Kamera, sondern mit einem verliebten Gesichtsausdruck zu dem Mann im Hintergrund.
›Ist das mein Vater?‹