KAPITEL ZWEI­UND­FÜNFZIG

Damals – Klara

E ine innere Unruhe erfasste Klara, und sie konnte einfach nicht länger in ihren vier Wänden bleiben. Seit einigen Monaten schon lebte sie mit ihrem Kind in dem Haus, das ihr Pfarrer Thomas zur Verfügung gestellt hatte. Er hatte auch den Wagen mit Fahrer organisiert, der sie hierherbrachte. Das war Teil seines Plans gewesen. Aber Klara hatte nicht mit dieser Einsamkeit gerechnet. Die engen Räume erdrückten sie, und die Stille im Wald wurde von Stunde zu Stunde unheimlicher.

»In ein paar Monaten bekomme ich eine Stelle in München und kann dann ein normales Leben führen«, motivierte sie sich. »Aber jetzt muss ich endlich wieder an die frische Luft.«

Klara zog ihren Wintermantel an und setzte die Haube auf. Vorsichtig schlich sie zur Tür, um das schlafende Kind nicht zu wecken. Doch es war zwecklos, denn sofort hörte sie die zarte Stimme.

»Mama, wohin gehst du?«

»Ich muss nur ein wenig frische Luft schnappen, bin gleich wieder zurück.«

»Ich habe Angst und will nicht alleine bleiben.«

»Okay, dann kommst du eben mit.« Mit einem Seufzer ließ Klara die Türklinke los und griff nach dem Skioverall, der an einem Haken im Flur hing. Sie zog dem Kind den gesteppten Anzug an, und beide machten sich auf den Weg. Es war eine mondhelle Nacht, die Luft war klar und eisig. Zügig stapfte Klara den Waldweg entlang. Sie wollte bis zur Abzweigung auf die Straße, vielleicht noch ein Stück weiter gehen, bis sie die Lichter der Walddisco durch die Bäume schimmern sehen konnte. Dieses helle Leuchten weckte das Verlangen nach einer anderen, einer lebendigen Welt in ihr. Doch Pfarrer Thomas hatte ihr eingeschärft, sich auf keinen Fall in der Öffentlichkeit blicken zu lassen. Es gab genügend Lebensmittel im Haus, sie brauchte also nirgends hin.

Scheinwerfer schnitten durch die Dunkelheit, tanzten über die kahlen Äste der Bäume und verloren sich im Nichts. Klara hatte die Abzweigung erreicht und trat auf die Straße. Ein Geländewagen näherte sich mit großer Geschwindigkeit, schleuderte auf der glatten Straße und kam direkt auf sie zu.

Klara spürte einen harten Schlag, der sie in den Graben beförderte.

»Mama, mir ist kalt.«

Klara hörte Luis’ dünne Stimme und tauchte aus der Tiefe einer Ohnmacht auf.

»Was hast du?«, fragte ihr Sohn ängstlich.

Blinzelnd öffnete Klara die Augen, sah die kleinen Hände des Jungen. Blut tropfte von den Fingerspitzen und hinterließ feine Ornamente in dem weißen Schnee.

»Nicht schlimm. Mama hat sich nur ein bisschen wehgetan.« Klara versuchte, sich zu orientieren. Ein Wagen hatte sie angefahren. Das hatte sie noch mitbekommen. Vorsichtig bemühte sie sich, aufzustehen. Zuckte vor Schmerz im Bauch zusammen und fiel wieder zurück in den Schnee.

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie ihr Blut den Schnee dunkel färbte. Sie biss die Zähne zusammen und zog sich an einem Ast hoch. Als sie ihr verletztes Bein belastete, schrie sie laut auf und sackte langsam an dem Baumstamm entlang zurück auf den kalten, weißen Boden. Klara spürte, wie die Kraft sie verließ, aber der Gedanke, dass ihr Junge einsam und schutzlos in der eisigen Nacht zurückblieb, ließ sie nicht erneut das Bewusstsein verlieren.

»Du darfst nicht einschlafen«, flüsterte sie Luis ins Ohr und strich ihm zärtlich über die kalte Wange. »Gleich wird jemand kommen und uns helfen.«

Doch es kam stundenlang niemand. Die Kälte kroch durch Klaras Mantel, und auch Luis zitterte und klapperte mit den Zähnen. ›Mein Kleiner wird erfrieren‹, ging es Klara durch den Kopf. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte schlüpfte sie aus dem Wintermantel.

»Häng dir den Mantel um«, befahl sie Luis mit leiser Stimme. »Damit du es schön warm hast.« Sie versuchte ein aufmunterndes Lächeln, doch der Schmerz ließ nur ein verzerrtes Grinsen zu. Wie in Zeitlupe sackte ihr Oberkörper zur Seite, und sie lag verkrümmt auf dem Boden. Die Kälte kroch wie eine eisige Spinne durch ihren dünnen Pullover, setzte sich auf ihrer Brust und in ihrem Hals fest. Umklammerte ihr Herz und ließ es zu Eis gefrieren.

Doch ihre Gedanken waren noch höchst lebendig. Dort spielte sich in einer Endlosschleife ständig dieselbe Szene ab. Ein Wagen hatte sie angefahren. Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Straßengraben, und eine junge Frau beugte sich über sie. Klara erkannte das Gesicht. Es war Manuela, die Geliebte ihres Mannes. Dann mussten die jungen Leute im Auto ihre Freunde gewesen sein: Felicitas, Adrian und Johannes. Diese Namen brannten sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein.

»Können Sie mich hören?«

Natürlich vernahm sie die Stimme. Doch sie wollte nicht zurück in die Kälte. Auf dem Grund des schwarzen Ozeans war es warm, und sie fürchtete sich vor der kalten Nacht.

»Sehen Sie mich an.«

Klaras Augenlider flatterten. Nein, sie wollte wieder zurück in die Wärme. Aber jetzt ließ man sie nicht mehr gehen. Jemand wickelte sie in eine knisternde Alufolie, um den letzten Rest Leben zu erhalten, der noch in ihr war. Dann wurde sie auf eine Trage gehievt und in einen Rettungswagen geschoben. Ihr Blick irrte ziellos umher. Wo war Luis? Hatte man ihn im Wald vergessen? Doch dann sah sie ihn und war beruhigt. Luis saß auf dem Schoß des Sanitäters und betrachtete seine Mutter mit banger Miene. Mit einem Mal verzog er das Gesicht und begann bitterlich zu weinen.

»Alles wird gut.« Mit diesem Satz wollte sie das Kind trösten, doch aus ihrem Schlund kamen nur heisere Krächzlaute, die den Jungen noch mehr verschreckten. Ein Blutschwall drang zwischen ihren Lippen hervor. Luis riss sich los, rannte schreiend auf seine Mutter zu und versuchte, mit seinen kleinen Händen den Blutfluss zu stoppen. Der Sanitäter sprang auf, fasste Luis unter den Armen und zerrte ihn weg. Es war das letzte Mal, dass Klara ihren Sohn sah.