KAPITEL VIER­UND­FÜNFZIG

Damals – Klara

D er Rettungswagen erreichte das Krankenhaus, und Klara wurde auf der Trage aus dem Wagen gerollt. Der Sanitäter wischte ihrem Sohn die blutigen Finger mit einem sterilen Tuch ab und hob ihn sanft aus dem Fahrzeug. Draußen warteten bereits ein Bereitschaftsarzt und eine Schwester.

»Warum hält sich der Junge die Hände vor den Mund?«, fragte die Krankenschwester und deutete auf Luis.

»Ich bin kein Psychologe, aber der Kleine sah, wie seine Mutter Blut spuckte, und jetzt hat er wahrscheinlich Angst, dass ihm das Gleiche passiert, wenn er die Hände wegnimmt.«

»Der arme Junge«, meinte die Schwester mitfühlend. »Wie heißt du denn?« Sie beugte sich zu Luis, doch dieser hielt sich nur stumm die Hand vor den Mund.

›Ich werde nie wieder etwas sagen, Mama‹, dachte er und sah auf die chromblitzende Trage, auf die man seine Mutter jetzt gelegt hatte. Klara streckte den Arm aus, und Luis wollte sich von der Schwester losreißen, um seine Mama zu umarmen, doch die Schwester führte ihn sanft weg.

»Wohin bringen Sie meinen Sohn?«, fragte Klara, doch niemand antwortete ihr.

»Die Frau muss sofort auf die Notfallstation.« Dramatische Sätze umschwirrten sie, und geschäftiges Treiben setzte ein. »Sie ist verletzt und hat schwere Erfrierungen.«

»Wo ist mein Junge?« Klara keuchte und bemühte sich, die Worte verständlich zu formulieren, aber die Schwester sah sie nur ratlos an. »Wo ist Luis?«, wiederholte Klara, während sie auf die Station geschoben und an lebensrettende Maschinen angeschlossen wurde.

»Ach, jetzt verstehe ich sie. Ihr Sohn heißt also Luis. Er ist derzeit in der Obhut der Fürsorge. Um ihn brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Im Moment ist Luis stumm wie ein Fisch. Wahrscheinlich steht er noch unter Schock, denn er hält sich ständig die Hände vor den Mund. Sind Sie von einem Auto angefahren worden? Die Polizei wird Sie später auch noch befragen. Wissen Sie, was passiert ist? Können Sie sich daran erinnern?«

Die vielen Fragen machten Klara ganz wirr. Sie wollte reden, doch es fehlten ihr die Worte. Ja, sie konnte sich glasklar erinnern, was geschehen war. Ein Wagen war ins Schleudern geraten, hatte sie gestreift und peng. So schnell wird man vom Leben in den Tod katapultiert.

Mit einem Mal erschien das Gesicht von Manuela vor ihrem geistigen Auge. Manuela hatte sie gefunden und nicht gerettet. Sie war einfach wieder gegangen und hatte Klara ihrem Schicksal überlassen. Aber Klara kannte ihren Namen und wusste auch, wer die anderen Personen in dem Wagen gewesen waren. Trotz der heftigen Schmerzen richtete sie sich auf, packte die Krankenschwester am Arm und zog sie zu sich herunter.

»Bleiben Sie bitte liegen«, sagte die Schwester beruhigend und drückte Klara wieder zurück auf das Krankenbett. »Wir bereiten Sie für eine Notoperation vor.«

»Ich muss etwas loswerden.« Aber aus ihrem Mund kam nur ein Röcheln. Die Schwester war irritiert und drückte auf den Alarmknopf. Klara schlug mit den Armen um sich, und mit einem Mal fühlte sie, dass es zu Ende ging und sie wieder in das schwarze Wasser eintauchen würde. Doch sie wollte nicht sterben, ohne die Wahrheit gesagt zu haben. Sie wollte, dass man diese Clique zur Verantwortung zog. »Manuela, Johannes, Adrian, Felicitas, sie waren es«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Sind das Ihre Freunde? Sollen wir sie verständigen?«, fragte die Schwester besorgt. Plötzlich begannen die Apparate, an die Klara angeschlossen war, verrückt zu spielen. Ärzte eilten herbei, eine Adrenalinspritze wurde aufgezogen, ein Defibrillator angeschlossen. Das alles bekam Klara nicht mehr mit, denn sie fiel erneut ins Koma. Eine wohlige Wärme umschmeichelte sie wie eine schützende Decke. Endlich war sie zu Hause, dort, wo es keine Schläge mehr von Leo gab, jetzt war sie in Sicherheit. Um Luis würde man sich kümmern, das hatte ihr die Schwester versprochen. Luis würde bei einer neuen Familie aufwachsen und hoffentlich nie seinen Vater treffen. Aber Luis würde auch dafür sorgen, dass ihr Tod gesühnt wurde.