Es ist gar nicht so leicht, einen neuen Hausarzt zu finden.
Ich habe bei einem halben Dutzend Praxen in der Gegend angerufen, und keine davon nimmt neue Patienten. Ehrlich gesagt hätte ich aufgegeben, wenn Enzo mich nicht jeden Abend vor dem Zubettgehen gefragt hätte, ob ich schon einen Termin gemacht habe. Schließlich gelang es mir beim siebten Versuch, einen Termin bei Dr. Sudermann zu bekommen, aber erst in drei Wochen.
Jetzt sitze ich hier auf der Untersuchungsliege in einem dieser Hemden, die hinten offen sind, und warte auf Dr. Sudermann. Mein Blutdruck wurde schon gemessen und die Arzthelferin war sichtlich überrascht, als sie den Wert sah, was die ganze Sache nicht besser machte. Jetzt sitze ich also hier und warte angespannt. Der Luftzug von der Klimaanlage trifft mich genau am Rücken, wo das Hemd offen ist.
Nachdem ich gefühlt eine Stunde gewartet habe, betritt Dr. Sudermann nach einmaligem Klopfen den Raum. Ich habe ein Foto von Amanda Sudermann im Internet gesehen, als ich den Termin gemacht habe, aber ich war nicht darauf vorbereitet, wie jung sie tatsächlich aussieht. Wenn mir jemand sagen würde, dass sie noch auf dem College ist, würde ich es glauben. Zum Glück sieht sie älter aus als Ada. Aber nicht viel.
Dennoch hat sie eine selbstsichere Ausstrahlung. Und es ist anzunehmen, dass sie Medizinstudium und Facharztausbildung abgeschlossen hat, somit müsste sie mindestens … dreißig sein? Außer sie ist eins von diesen Wunderkindern, von denen man manchmal hört. Aber sie hat ein süßes Gesicht, und das allein ist tröstlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Frau mir schlechte Nachrichten überbringt.
»Mrs. Accardi?«, sagt sie.
Ich nicke.
»Ich bin Dr. Sudermann«, sagt sie. »Schön, Sie kennenzulernen.«
Ich nicke wieder.
»Wie ich höre, sind Sie wegen Ihres Blutdrucks besorgt«, fährt sie fort.
»Er wurde im Krankenhaus, in dem ich arbeite, kontrolliert«, sage ich. »Sie sagten dort, er sei ein bisschen hoch.«
»Er ist sehr hoch.« Sie setzt sich an den Computer und loggt sich ein, um auf meine Krankenakte zuzugreifen. »Ich würde Sie gerne untersuchen und einige Tests machen, um zu sehen, ob es eine Ursache dafür gibt. Aber in jedem Fall möchte ich, dass Sie ab heute ein blutdrucksenkendes Medikament einnehmen.«
»Ich hatte in letzter Zeit viel Stress«, sage ich in der Hoffnung, sie umzustimmen. »Ich bin kürzlich umgezogen, habe zwei kleine Kinder, und mein Job kann wirklich stressig sein. Wenn ich nicht so viel Stress hätte, wäre mein Blutdruck in Ordnung.«
»Stress trägt definitiv zu hohem Blutdruck bei«, räumt sie ein. »Daran zu arbeiten, ihn besser zu bewältigen, ist eine tolle Idee. Viele meiner Patienten sagen, dass Meditation ihnen geholfen hat.«
Ich habe einmal versucht zu meditieren, und es war mir unmöglich. Wie soll man fünf Minuten lang einfach nur dasitzen, ohne zu denken? Das ist, wie fünf Minuten nicht zu atmen . Doch das sage ich ihr nicht.
»Aber so oder so«, sagt sie, »müssen Sie ein Medikament gegen den hohen Blutdruck einnehmen. Er ist viel zu hoch.«
Großartig.
Dr. Sudermann beginnt mit ihrer Untersuchung, und ich empfinde die ganze Zeit einen tiefen Unmut. Ich bin noch nicht so alt. Ich sollte noch nichts gegen Bluthochdruck einnehmen. Das ist etwas, was mein Vater tat, als ich ein Teenager war. Er war damals alt . Ich bin … na ja, mindestens fünf Jahre jünger, als er damals war. Glaube ich.
Ich verlasse die Praxis mit dem Versprechen, auf dem Nachhauseweg das Rezept bei einer Apotheke einzulösen. Außerdem ordnet sie weitere Blutuntersuchungen, eine Mammografie und etwas, das sich Nierenultraschall nennt, an. Das alles nur, weil mein Blutdruck ein bisschen hoch ist. Okay, sehr hoch. Aber Enzo wird beunruhigt sein, wenn ich nicht alles tue, was sie sagt. (Er war übrigens vor ein paar Tagen beim Arzt und hat absolut keine gesundheitlichen Probleme. Er ist ein Musterexemplar an Gesundheit.)
Als ich zurück nach Hause komme, bemerke ich, dass Jonathan vorne auf der Veranda von Locust 12 auf der Hollywoodschaukel sitzt. Er schaukelt langsam und blickt dabei auf sein Handy. Als er mich aus dem Auto steigen sieht, hebt er zur Begrüßung die Hand.
»Millie!«, ruft er. »Hast du eine Minute?«
Eigentlich nicht. Mir ist nicht nach einem Gespräch mit meinem Nachbarn zumute, aber ich will nicht unhöflich sein, besonders da Jonathan immer äußerst freundlich ist. Was immer es ist, worüber er mit mir sprechen will, ich hoffe, dass es schnell geht. Denn in der Apotheke, bei der ich auf dem Nachhauseweg angehalten habe, hat es fast eine Stunde gedauert, bis ich mein Medikament bekam.
Jonathan springt von der Veranda und läuft über unsere jeweiligen Rasenflächen. Enzo würde es nicht gefallen, dass er das Gras betritt, aber ich werde ihm deshalb keine Vorhaltungen machen.
»Wie geht’s dir, Millie?«
»Oh, gut«, sage ich.
Er wirft mir ein entschuldigendes Lächeln zu. »Hör zu, wir habe Nico die letzten beiden Wochen gerne bei uns gehabt, um bei Hausarbeiten zu helfen, aber …«
O nein, was jetzt?
»Gestern hat er Geschirr weggeräumt«, sagt Jonathan, »und dabei hat er einen Teller fallen lassen. Es war keine große Sache, aber er hat ihn einfach liegen lassen und niemandem etwas gesagt.«
»O mein Gott.« Ich lege die Hand vor den Mund. Ich bin zugleich überrascht und gar nicht überrascht. »Es tut mir so leid.«
»Jedenfalls …« Jonathan fährt sich mit der Hand durch seine dünner werdenden Haare. »Was uns angeht, muss er jetzt nicht mehr im Haus helfen, um das Fenster abzubezahlen. Ich denke, es ist besser, wenn er nicht mehr kommt.«
»Okay. Tut mir leid. Wenn ich euch noch etwas schulde …«
Ich bete zu Gott, dass er nicht sagt, dass ich ihnen noch Geld schulde. Obwohl Enzo dank Suzette jetzt mehr Aufträge bekommt, haben wir immer noch ein sehr knappes Einkommen.
»Es ist in Ordnung«, sagt Jonathan. »Wirklich.«
Als ich über Jonathans Schulter zu seinem Haus sehe, bemerke ich eine Bewegung an einem der vorderen Fenster und erhasche einen Blick auf karamellfarbene Haare. Es ist Suzette. Sie beobachtet aus irgendeinem Grund unser Gespräch.
Traut sie mir nicht, was ihren Mann angeht?
Mir kommt der Gedanke, dass ich sie mit ihren eigenen Waffen schlagen könnte. Seitdem wir hier wohnen, flirtet sie mit Enzo. Wie würde es ihr gefallen, wenn ich dasselbe mit ihrem Mann machen würde? Und obwohl ich mich nicht von Jonathan angezogen fühle, ist nichts gegen einen harmlosen kleinen Flirt einzuwenden, oder?
Ich trete einen Schritt näher zu Jonathan, schiebe eine Strähne meiner dunkelblonden Haare hinters Ohr und lächle ihn einladend an. Es ist eine Weile her, dass ich geflirtet habe, und ich bin ein bisschen aus der Übung.
»Ich weiß das wirklich zu schätzen.« Ich lege die Hand auf Jonathans schmale Schulter. Ich drücke sie nicht oder tue sonst etwas Anzügliches, aber ich hoffe, dass es vom Fenster aus, wo Suzette steht und uns beobachtet, so aussieht. »Ihr seid wundervoll.«
»Oh, danke.« Jonathan lächelt mich unbehaglich an und tritt einen Schritt zurück, außerhalb meiner Reichweite. Er wirft einen kurzen Blick über die Schulter und sieht mich dann wieder an. »Dann wünsche ich dir noch einen guten Tag, Millie.«
Er läuft so schnell, wie er kann, zurück ins Haus und knallt die Tür hinter sich zu.
Wow. Das war eine kurze, knappe Zurückweisung. Etwas demütigend, wenn ich ganz ehrlich bin.
Jonathan hat nicht mal den Bruchteil einer Sekunde mitgespielt. Im Moment, in dem ich ihn berührt habe, konnte er nicht schnell genug wegkommen. Und das Erste, was er getan hat, war, sich zu vergewissern, dass Suzette nichts gesehen hat.
Er wusste, dass sie ihn beobachtet hat.
Was ist in Locust Street 12 los? Was will Suzette Lowell von uns? Auch wenn wir jetzt Jalousien haben, kommt es mir so vor, als würde sie die ganze Zeit ein Auge auf uns haben.