»Nachts sind alle Katzen grau …«
»Was!?«
Ich zuckte zusammen, weil mir Sandras Stimme unangenehm schrill zu klingen schien, obwohl ich wusste, dass sie das niemals war – einer der vielen Gründe, weshalb ich lieber Zeit mit ihr als mit meinen Klassenkameraden verbrachte. Doch mir kam heute die ganze Welt vor wie ein einziger, lästiger Lärm. Zu grell und bunt war sie für mein Empfinden ebenfalls. Vermutlich fühlten sich andere Menschen so, wenn sie zu viel getrunken und einen Kater hatten. Außerdem hatte ich überhaupt keine Lust, zu reden. Jedes Wort war eines zu viel und kostete mich Unmengen von Kraft. Trotzdem hatte ich diesen einen Gedanken, mit dem ich aufgewacht war und der mich nicht mehr loslassen wollte, gerade aussprechen müssen – ganz so, als würde er dadurch meine letzten Zweifel zerstreuen.
»Was hast du da eben gesagt?«
»Nachts sind alle Katzen grau«, wiederholte ich träge und unterdrückte ein Gähnen. »Stimmt doch, oder?«
»Jaaa, ich glaube schon. Die Dunkelheit hat keine Farben.« Verständnislos und ein wenig zweifelnd blickte Sandra mich an. »Und was hat das mit dem zu tun, was ich eben gesagt habe?«
»Du hast was gesagt?«
»Oh, Vicky …« Schnaufend gab Sandra mir einen Stups in die Seite. »Wo bist du heute nur wieder mit deinen Gedanken? Warum denkst du über graue Katzen nach?«
Ich dachte nicht über graue Katzen nach. Ich dachte über dunkelgrüne, blitzende Wasserwesenaugen nach, die es nicht geben durfte, nicht geben konnte … und doch hatte ich sie gesehen. Im Traum. Ja, im Traum! Denn nachts gab es keine Farben. Das war der finale Beweis. Es sei denn …
»Aber bei Mondlicht. Wie ist das, wenn der Mond scheint?«
Sandras Augen wurden noch größer. »Bitte?«
»Was ist dann mit den Katzen – sieht man ihre Farben bei Mondschein?«
»Nein, ich … ich glaube nicht. Mondschein ist ja eher silbrig, manchmal auch bläulich, aber es ist immer noch dunkel. Der Mond reflektiert das Licht der Sonne ja nur. Also … graue Katzen. Warum willst du das denn wissen?«
»Ach, einfach so«, schwindelte ich und trank ein paar Schlucke Wasser. Noch immer hatte ich unerträglichen Durst, und es gelang mir nur für wenige Minuten, ihn zu löschen. Allerdings war es heute brütend heiß, schon seit den Morgenstunden lagen die Temperaturen knapp über dreißig Grad. »Ging mir halt gerade durch den Kopf.«
»Aha.«
Ich ignorierte Sandras durchbohrende Blicke und versuchte, mir meine plötzliche Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Bei Mondschein gab es also auch keine Farben, vielleicht allenfalls ein schwaches Blau. Damit war die Sache wohl endgültig geklärt. Kein Tageslicht, keine grünen Augen und keine roten Haare. Kein Wesen, das halb Mensch, halb Fisch war … Wobei ich bei seinem Anblick nicht an einen Fisch hatte denken müssen. Trotzdem erinnerte ich mich an eine markante, zweigeteilte Flosse. Ja, da war eine Flosse gewesen … statt Beinen …
»Bitte sag, was los ist.« Erneut verpasste Sandra mir einen Stups. »Ich werde hier sonst verrückt. Was geht in deinem Kopf vor sich?«
Ich wollte Sandra antworten, mit einer neuen Schwindelei, doch plötzlich fuhr ein heftiges Zittern durch meinen Körper, das mich von der Bank schnellen ließ, als hätte ich mit beiden Händen an eine offene Stromleitung gefasst. Unter pfeifendem Keuchen presste ich die Fäuste auf meine Brust. Kalt klebte mein dünnes Shirt auf meiner Haut. Mir war schlagartig der Schweiß ausgebrochen – aber nicht, weil mir heiß war, sondern weil ich das Gefühl hatte, mir würden die Lungen zerquetscht.
»Vicky, alles okay? Hey, was ist denn los mit dir, du bist ja auf einmal schneeweiß …« Sandra griff nach meinem Handgelenk, und nun war sie es, die zusammenzuckte. »… frierst du etwa?«
»Ich … ich habe …« Nein, das konnte ich ihr nicht sagen. Das war zu abgefahren, zu schräg. Niemand würde es verstehen. Mühsam holte ich Luft und kämpfte dabei gegen das überwältigende Engegefühl an, das mir gerade den Atem genommen hatte. Ich konnte Sandra nicht anvertrauen, was ich gerade so deutlich gespürt hatte, dass ich tatsächlich unter Schock stand. Ein Netz hatte sich um mich geschlungen und meine Kehle eingeschnürt … ausgeworfen von Männern, die mich lieber tot als lebendig sehen wollten … unten in der Cenote. »Es geht schon wieder.« Auch das war gelogen. Zitternd drehte ich mich zu Sandra um, die ebenfalls aufgestanden war und noch immer mein eiskaltes Handgelenk umfasste. Sie hatte Angst, wie ich. »Ich halte das nur nicht aus, hier oben zu sitzen und nicht zu wissen, was gerade passiert«, stotterte ich. »Mir ist kalt, weil ich Angst habe. Ich mache mir Sorgen um Till und …« Und um das Wesen. Dieses Wesen, das ich eben noch als Traumerscheinung entlarvt hatte, weil nachts alle Katzen grau waren. Selbst bei Mondschein. Mein Herz aber interessierte das nicht. Und mein Körper stellte sich an, als würde er gerade selbst in einem engen Netz zappeln.
»Okay, das verstehe ich. Mir ist auch nicht wohl. Hab schon seit heute Morgen Bauchschmerzen.« Wie zum Beweis strich Sandra mit der freien Hand über ihren Unterleib. »Aber wir können jetzt nicht runtergehen, da ist kein Platz für uns, die Männer brauchen die gesamte Plattform für ihre Ausrüstung und die Netze und …«
Die Harpunen? Falls es wieder angriff und die Situation zu eskalieren drohte? Dann würden sie mit den Harpunen auf das Wesen feuern.
»Weißt du was? Wir schauen einfach von oben zu, wie gestern. Das kann uns keiner verbieten und ist besser, als hier wieder tatenlos herumzusitzen.« Entschlossen zog Sandra mich hinter sich her. »Ich kriege nämlich langsam selbst einen Rappel. Du weißt, ich liebe dich, aber wenn du einen deiner Schweigetage hast, kannst du einen wirklich wahnsinnig machen …«
Ja, ich wusste das. Sandra redete gerne. Sie liebte es, mit anderen Menschen über Gedanken, Erlebnisse und Erinnerungen zu sprechen. Manchmal hatte ich das Gefühl, ihre Kindheit besser zu kennen als meine eigene. Aber in letzter Zeit war es immer öfter vorgekommen, dass ich mundfaul war und lieber stumm und still in einer Ecke saß und vor mich hin träumte … So extrem wie heute war es allerdings noch nie gewesen, und ich konnte verstehen, dass das nicht leicht zu ertragen war – nicht, während die Männer da unten gegen einen tollwütigen Fisch in die Schlacht zogen. Das Camp wirkte wie ausgestorben ohne sie, und Sandra und ich hatten im Küchenzelt längst alles getan, was getan werden musste. Wir hatten aus Langeweile sogar Wachstropfen von der Tischfläche geschabt.
»Geht es denn wieder? Bist du fit genug? Du siehst immer noch so blass aus.«
Sandra zögerte und schaute mich an, als überlege sie, was eine gute Mutter jetzt machen würde. Doch ehe sie eine vernünftige Entscheidung fällen und mich auf die Luftmatratze ins Zelt schicken konnte, um mir einen Kamillentee zu kochen, schallten plötzlich aufgeregte Rufe zu uns herauf – ein Durcheinander aus verschiedenen Sprachen, aber so chaotisch und drängend, dass jedes weitere Überlegen überflüssig wurde. Ohne ein Wort setzten wir uns in Bewegung und trabten hintereinander den schmalen Pfad zum Steilufer der Cenote entlang, bis wir den Abgrund erreicht hatten und uns auf die Knie fallen ließen, um hinunterzuschauen.
Die kreisrunde Wasseroberfläche sah aus, als hätten die Männer eine unterirdische Wellenanlage installiert und würden sie nun auf höchster Stufe testen. Die Plattform und die Kalksteinwände wurden immer wieder von kräftigen Wogen überschwemmt, deren Brandung teilweise das Konzert der Vögel und Zikaden übertönte und in meinen Ohren wie Musik und Kriegsgeschrei in einem klang. Die Taucher konnten sich offenbar nur mit Mühe über Wasser halten, doch auf ihren Gesichtern leuchtete eine beklemmende Mischung aus Triumph, Siegeswillen und Anstrengung.
»Zieht!«, brüllte Till, der es gerade geschafft hatte, an die Plattform zu gelangen, und sich keuchend an der Leiter nach oben hangelte, ein dickes Seil in seiner linken Faust.
»Das Netz hängt fest!«, rief Michelle von der anderen Seite der Cenote zurück, tauchte ab und nach einigen Sekunden wieder auf. »Ich kann es nicht genau sehen, aber es hängt, vielleicht an einer dicken Wurzel!«
Nun erkannte ich Jack und Carlos, die ebenfalls Seile in den Händen hielten. Es sah aus, als würden sie immer wieder von unten durchgeschüttelt und könnten sich nur mit letzter Kraft an der Wasseroberfläche halten – ich wusste längst, warum. Sie hatten das Wesen in ihrem Netz gefangen, und es versuchte gerade verzweifelt, sich zu befreien. Es war keine unterirdische Wellenanlage, die die Cenote zum Schäumen brauchte. Ihre Beute verursachte die Wogen, und am liebsten hätte ich die Männer angeschrien, die Seile loszulassen und sich aus einem Reich zu entfernen, das ihnen nicht gehörte – für alle Zeiten.
»Verdammte Scheiße …«, flüsterte Sandra angespannt und umfasste wie vorhin mein Handgelenk. Es war immer noch eiskalt. »Was machen die da, warum kommen sie nicht aus dem Wasser?«
Immerhin befand sich Till nun in Sicherheit, auch wenn ich mich um ihn wesentlich weniger sorgte als um seinen Fang, der das Wasser noch immer zum Brodeln und Schäumen brachte. Kniend schlang Till das Seilende um einen Pfosten der Plattform und sicherte es mit einem festen Knoten. Erst dann wandte er sich wieder zu den anderen. »Were you able to see it?«
»Nope!«, antwortete Jack nach Luft schnappend und schaffte es, sich an einer etwas seichteren Uferböschung nach oben zu hieven, sodass er sein Seilende an einem versteinert wirkenden Ast befestigen konnte. Stumm tat Carlos an einer anderen Stelle dasselbe, während die Wasseroberfläche sich langsam zu beruhigen begann. Doch das Floß hatten die Wellen mit sich gerissen. Es war nicht mehr zu sehen.
Gab das Wesen auf? Oder wartet es lediglich ab, was nun geschehen würde?
»Sie haben es, oder? Sie haben was«, murmelte Sandra.
Ich antwortete nicht, sondern sah mit ihr zusammen ängstlich dabei zu, wie Carlos, Jack und Michel sich wieder vollständig ins Wasser gleiten ließen und am Steilufer entlang zur sicheren Plattform vorarbeiteten. Einer nach dem anderen zog sich an der Leiter in Sicherheit. Michel hatte nicht nur seine Ausrüstung, sondern auch eine Kamera bei sich, und mir wurde ein wenig übel, als ich erkannte, dass Jack mehrere Harpunen an seinem Tauchergürtel befestigt hatte. Schweigend streiften sie die Sauerstoffflaschen von ihren Rücken, sobald sie die Plattform erreicht hatten, öffneten ihre Anzüge und klatschten einander ab, als hätten sie gerade gemeinsam das achte Weltwunder entdeckt – und womöglich lag ich mit diesem Vergleich gar nicht so falsch.
Erst nachdem alle zu Atem gekommen waren und ein paar Schlucke Wasser getrunken hatten, begann Till auf Englisch zu sprechen. Obwohl es eigentlich unmöglich war, sein gedämpftes Raunen hier oben zwischen all dem Rufen der Vögel und dem ununterbrochenen Sägen und Zirpen der Zikaden wahrzunehmen, verstand ich jedes Wort – und einmal mehr war ich froh um mein feines Gehör. Mühelos konnte ich seine kurze Ansprache übersetzen.
»Sie haben es gefangen, in ihrem Netz, aber es hat so viele Sedimente aufgewirbelt, dass sie es nicht sehen können. Hochziehen können sie das Netz auch nicht, es hängt unter Wasser anscheinend irgendwo an einer Wurzel fest, und es ist zu gefährlich, ans Netz heranzuschwimmen, solange die Sicht so schlecht ist … Aber das Tier scheint unverletzt zu sein, und sobald es sich beruhigt hat und die Sedimente sich wieder abgesetzt haben, können sie einen neuen Anlauf wagen … Morgen früh sollte es so weit sein, sagt Till gerade …«
»Sagt Till gerade!?«, unterbrach Sandra mich fassungslos.
O verdammt … Ertappt senkte ich den Blick und strich mir eine eigenwillige Locke hinter mein Ohr – dort, wo die Kerben eifrig vor sich hin pulsierten und brannten, seitdem wir uns hier oben auf die Lauer gelegt hatten.
Jetzt war es Sandra, der sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. »Du – du hast gehört, was er gerade zu den anderen gesagt hat?«
»Ich … Also ich …«, stammelte ich. »Ich denke mir das so, ich … Ich habe es von seinen Lippen abgelesen.«
»Sei nicht albern, er steht mit dem Rücken zu uns. Gott, was hast du nur für gute Ohren? Das ist ja gruselig.«
»Wie gesagt, hab mir das so zurechtgereimt.«
»Aha.« Langsam kam wieder Farbe in Sandras Wangen, während sich glitzernde Schweißtropfen an ihren Schläfen bildeten und im zarten Flaum unter ihrem Haaransatz hängen blieben.
Ich hatte so etwas nicht. Flaum im Gesicht und Nacken oder Haare auf meinen Armen und Beinen. Meine Waden würde ich mir wahrscheinlich niemals rasieren müssen. Stattdessen trug ich zum Ausgleich eine groteske Lockenmähne auf dem Kopf. Ich erschauerte, als mir wieder einmal bewusst wurde, wie anders ich doch war – nicht nur anders als Sandra, sondern anders als alle Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte. Und jetzt hatte ich vor lauter Nervosität auch noch verraten, dass meine Ohren nicht nur seltsam geformt waren, sondern dass ich mit ihnen auch unnatürlich gut hören konnte.
»Außerdem ist es doch irgendwie klar!«, startete ich einen letzten kläglichen Versuch, mein kleines Geheimnis zu bewahren. »Das … Tier ist im Netz, aber das Netz hängt fest, deshalb können sie es nicht hochziehen, und jetzt müssen sie eben warten.«
»Ja, und wir können sie gleich selbst danach fragen, anstatt hier wild herumzuspekulieren, denn sie kommen nach oben.«
Sandra ließ mir keine Zeit, abzuwarten und dabei zuzusehen, wie das Wasser immer stiller und glatter wurde, sondern zog mich auf die Füße, hakte sich in gewohnter Manier bei mir unter und dirigierte mich zum Küchenzelt, als wollte sie es vermeiden, dass Till von unserem Lauschangriff erfuhr.
Dort angekommen wartete ich die Ankunft der Männer nicht mehr ab, sondern gab vor, leichte Kopfschmerzen bekommen zu haben und deshalb eine Dusche nehmen und mich anschließend im Zelt hinlegen zu wollen. Wie Sandra war ich erleichtert und dankbar, dass Till und die anderen Männer unverletzt geblieben waren.
Doch ich hatte keine Lust, ihnen zuzuhören, wie sie sich mit ihren Heldentaten brüsteten, und erst recht nicht, wie sie gemeinsam neue Pläne schmiedeten.
Denn ich hatte längst meinen eigenen Plan.