RETTUNGSANGRIFF

Ja, ich hatte meinen eigenen Plan. Es war ein Plan abseits jeder Vernunft, aber in seiner Konsequenz für mich ohne Alternative. Er würde alle anderen Pläne scheitern lassen und den Schrecken der Cenote beenden, ein für alle Mal.

Sandra leistete keinen Widerstand, als ich ihr ankündigte, mich zurückzuziehen. Pflichtbewusst, aber immer mit halbem Ohr den Gesprächen der Männer lauschend, begleitete sie mich zum Zelt und bot mir zerstreut eine Aspirintablette an, die ich jedoch dankend ablehnte. Inzwischen verspürte ich tatsächlich einen unangenehmen Druck im Nacken und zwischen meinen Augen, aber Medikamente wirkten manchmal unberechenbar auf mich. Nach meiner letzten Schmerztablette hatte sich die komplette Haut an meinem Rücken geschält – ähnlich wie nach einem leichten Sonnenbrand. Es hatte nicht wehgetan und war rasch wieder abgeheilt, doch ich wollte keine neuen kuriosen Nebeneffekte riskieren; nicht jetzt, wo ich so wach, fit und aufmerksam bleiben musste wie möglich.

Zum Glück ließ Sandra mich rasch wieder allein, nachdem sie mir noch eine Sprühflasche mit kaltem Wasser organisiert hatte. Als ich mich unter der armselig tropfenden Dusche erfrischte, sah ich beinahe teilnahmslos zu, wie ein schillernder Käfer über meine nackten Zehen krabbelte, so sehr war ich mit meinen Eindrücken und Überlegungen beschäftigt. Kaum hatte ich mich im Zelt auf die Luftmatratze gelegt, lastete die Hitze des Dschungels wieder auf mir. Das Wasser in der Flasche konnte ich zwar über meine Beine, Arme und mein Gesicht sprühen, wenn mir zu warm wurde, doch bevor die Verdunstung für einen kühlenden Effekt sorgte, sog meine Haut es auf wie ein Schwamm.

Obwohl ich mich bemühte, das Geschehen im Küchenbereich von der Ferne zu verfolgen – unruhiges Stimmengewirr, Klappern von Geschirr und hin und wieder Gelächter –, begann ich bald auf dem Rücken liegend vor mich hin zu dösen. Dabei driftete ich zu jenem Augenblick zurück, in dem ich kurz vor unserer Abreise nach Mexiko langsam von Zimmer zu Zimmer gegangen war. Ich hatte versucht, mir jedes Detail unserer Wohnung genau einzuprägen, als würde ich für immer Abschied von dort nehmen müssen. Dabei hatte ich keine Angst vor unserem Abenteuertrip verspürt und auch nicht befürchtet, der Flieger könne abstürzen. Allerdings war ich bei Start und Landung vor Panik fast gestorben, und ich hasste es, mich in einem engen Stahlkäfig Tausende von Metern über dem Meer in der Luft zu befinden. Außerdem waren meine Augen im Flugzeug so trocken geworden, dass ich nach einigen Stunden kaum noch blinzeln konnte, und meine Handrücken sahen irgendwann aus wie eine Salzwüste in Miniaturform.

Trotzdem – es hatte nicht am Reisefieber gelegen, dass ich die Räume unserer Wohnung noch einmal durchstreift und ihnen dann jeweils leise Tschüss gesagt hatte. Es war ein tiefer sitzendes Gefühl gewesen, das mich dazu getrieben hatte, und dieses Gefühl hatte mich seitdem nicht mehr verlassen. Mir war, als seien der Dschungel und die Cenote eine Art Endstation meines bisherigen Lebens, ohne dass ich mir das erklären konnte.

Ich befürchtete nicht, hier den Tod zu finden, und tief in meinem Inneren war ich sogar felsenfest davon überzeugt, dass das Wesen in der Cenote mir niemals auch nur ein Härchen krümmen würde. Den Männern vielleicht – aber nicht mir. Genauso hielt ich es für ausgeschlossen, dass Till und Sandra beschließen würden, für immer hierzubleiben, auch wenn Till heute Morgen angedeutet hatte, dass die Expedition wegen der Komplikationen möglicherweise länger dauern könnte als geplant.

Es war etwas anderes … Ein tiefes seufzendes Abschiednehmen von allem, was ich bisher erfahren hatte und gegen dessen Kraft und Konsequenz ich vollkommen machtlos war. Doch auch diese Erkenntnis jagte mir keine Angst ein. So wandelte ich im Halbschlaf wieder und wieder von Zimmer zu Zimmer meines früheren Zuhauses, als würde ich ihm erneut Lebewohl sagen, bis Sandra mich aufschreckte, indem sie durch das Moskitonetz am Zelteingang gekrochen kam, den wir wegen der Hitze offen gelassen hatten.

Sie brachte mir eine Schüssel mit Reis und scharf gewürzten Fleischstückchen vom Grill und frisches Wasser – und wirkte um ein Vielfaches lebendiger und munterer als heute Mittag. Aber sie merkte schnell, dass mir immer noch nicht nach Reden oder gar Gesellschaft zumute war. So kehrte sie ohne mich zu den Männern zurück, nachdem sie mir kurz berichtet hatte, dass Michels Fotos wohl nichts geworden seien, das Netz aber halte und die Männer es kaum erwarten könnten, ihren Fang bei Tageslicht und klarem Wasser zu begutachten.

Genau das musste ich verhindern. Wenn es nur eine winzige Chance gab, dass ich nicht geträumt hatte, sondern in der Cenote tatsächlich ein Wasserwesen lebte, wie man es nur aus Sagen und Legenden kannte, dann durften sie es niemals zu Gesicht bekommen. Es beschäftigte mich, was ich seit heute Morgen ununterbrochen durch das rhythmische Rauschen meiner Ohren zu hören glaubte: »Rette mich. Rette mich, und du wirst frei … Komm zu mir und rette mich!«

Es waren keine menschlichen Worte. Ich konnte sie nur grob wiedergeben; sie klangen eher wie ein melodischer, wellenartiger Singsang. Doch ich hatte sofort verstanden, was sie bedeuteten.

Das war die eine Seite. Empfindungen. Gefühle. Wahrnehmungen. Und auf der anderen Seite, immer weiter in die Ferne rückend, stand der bedrückende Gedanke, dass ich langsam wahnsinnig wurde und Stück für Stück meinen Verstand verlor.

Dennoch: Ich war eine gute Schwimmerin, konnte minutenlang unter Wasser die Luft anhalten, wenn es sein musste, das Mondlicht würde für ausreichend Helligkeit sorgen, und wie der Zufall es wollte, hatte einer der Männer sein Überlebensmesser im Banjo liegen lassen, wahrscheinlich nach dem Duschen. Ohne darüber nachzudenken oder gar ein schlechtes Gewissen zu bekommen, hatte ich es an mich genommen. Seitdem steckte es, gut geschützt durch seine Lederhülle, in meinem Hosenbund. Von Till wusste ich, dass die Klingen solcher Messer fast alle Materialien durchtrennen konnten, im Ernstfall sogar eine Autofensterscheibe. Dann wären die Maschen eines Fischernetzes ein Kinderspiel für sie, auch wenn sie mit Draht verstärkt worden waren.

Heute Abend schafften die Männer und Sandra es, die Stimmen der Tiere zu übertönen. Einer der Taucher spielte auf seiner Gitarre, und alle sangen lautstark mit; sogar Sandra, die zwischendurch kicherte und lachte wie ein übermütiges Kind. Sie und Till hatten offenbar einen glücklichen Abend, heiter und unbesorgt. Wieder einmal flossen bei mir die Tränen in Strömen, als ich spürte, wie sehr ich sie doch liebte – und dass es trotzdem keine andere Möglichkeit gab, als das zu tun, was ich nun tun würde.

Sobald der Mond durch die dünne Zeltwand schien, kroch ich nach draußen und schlängelte mich bäuchlings an der Küchenhütte vorbei zum Pfad Richtung Cenote. Wie in der vorigen Nacht fanden meine nackten Füße den Weg nach unten von selbst, und wieder überfiel mich der Wunsch, einfach kopfüber ins kühle Nass zu springen, anstatt mich umständlich abwärtszuhangeln.

Die Plattform war noch feucht, aber angenehm warm; die Luft hatte sich seit Anbruch des Abends kaum abgekühlt. Schwere, riesige Nachtfalter mischten sich torkelnd zwischen die umherschwirrenden Fledermäuse und streiften ab und zu meine Locken, als ich mich langsam in das kühle, seidige Wasser der Cenote gleiten ließ; das Messer fest in meiner linken Hand.

So einfach ist das also …, dachte ich und lächelte verzückt, als ich spürte, wie mein Haar sich schwerelos um meinen Kopf herum auszubreiten begann. So einfach … Dabei fragte ich mich einmal mehr, warum Till und Sandra solche Panik davor gehabt hatten, mich allein in der Cenote schwimmen zu lassen. Sie begrüßte mich sanft und vertraut wie eine uralte Gefährtin. Entgegen meinen normalen Gewohnheiten hielt ich in den ersten Sekunden vor lauter Wonne sogar meine Augen geschlossen. In der Badewanne hatte ich es immer geliebt, abzutauchen, mich zu drehen und die in allen Regenbogenfarben schimmernden Schaumbläschen an der Oberfläche von unten anzuschauen. Ich hatte mich kaum daran sattsehen können.

Jetzt genoss ich die Umarmung der Cenote erst einmal blind; dieses wundervolle Gefühl, ganz von ihrem Wasser umschlossen zu werden, kein Quadratmillimeter Luft an meiner Haut, bevor ich langsam meine Augen öffnete – und vor Verblüffung gluckernd auflachte. Helle Bläschen sprudelten zwischen meinen Lippen hervor, als ich mich, meinen Kopf weit in den Nacken gelegt, mit einer eleganten Bewegung einmal um meine eigene Achse drehte.

Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was ich da eigentlich beobachtete – winzige, letzte Sedimentpartikel, die langsam herabsanken und dabei vom Mondlicht angestrahlt wurden, sodass sie aussahen wie Körnchen aus funkelndem Kristall. Überall um mich herum blinkte und glitzerte es, und auch ich spürte einen magischen Sog abwärts, zum Grund der Cenote, sodass ich fast vergaß, warum ich eigentlich hier war. Doch ich hatte keine Zeit, wie eine verträumte Mee-
resprinzessin den Sedimentkristallen hinterherzutauchen, sondern trug ein Messer in der Hand und war kurz davor, jenem grausigen Fang gegenüberzutreten – oder besser: gegenüberzuschweben –, für den Till und die anderen Männer in den vergangenen zwei Tagen ihr Leben riskiert hatten. Außerdem musste ich langsam Luft holen, auch wenn mich schon wieder diese lästige, irreführende Stimme in meinem Bauch bedrängte, einfach tief einzuatmen, unter Wasser. Einmal hatte ich dieser Stimme in der Badewanne vertraut und mich dabei so fürchterlich verschluckt, dass ich beinahe das gesamte Abendessen wieder ausgespuckt hätte, und zwar mitten hinein in die knisternden Schaumberge.

Nein, ihr durfte ich nicht glauben, auch wenn die Vorstellung nach wie vor verlockend war. Unter Wasser zu atmen, funktionierte nur in meinen Träumen und hatte nichts mit dem Wunsch, sterben zu wollen, zu tun. Es war eher so, als würde ich erst dann wirklich zu leben beginnen, wenn es mir gelang, diese Träume zu meiner Realität werden zu lassen. Doch meine Lungen brauchten ihren Sauerstoff, und deshalb beförderte ich mich durch ein leichtes Paddeln meiner Beine an die Wasseroberfläche und sah mich in aller Ruhe um, wobei meine Augen sich nach und nach an die diffuse Dämmerung der beginnenden Nacht gewöhnten.

Ich hatte mich rasch orientiert. Es fiel mir nicht schwer, abzuschätzen, wo sich das Netz befinden musste. Mehr als fünf kräftige Schwimmzüge würde ich nicht benötigen, um die Stelle zu erreichen – und dann konnte ich mich hinabsinken lassen und endlich sehen, womit wir es zu tun hatten. Ein verhaltensgestörter Raubfisch oder … Oder? Unter Wasser presste ich die linke Hand auf meinen Magen und hatte plötzlich das Gefühl, eine Schüssel lebendiger Sardinen heruntergeschlungen zu haben, die nun in meinen Eingeweiden ein ehrgeiziges Wettschwimmen veranstalteten.

Ich hatte Angst. Angst, dass das, was ich sehen würde, nicht das war, was ich vorige Nacht zu sehen geglaubt hatte … Doch genauso fürchtete ich, mich nicht in einem märchenhaften Sekundentraum verloren zu haben. Denn dann würde ich mein Messer benutzen müssen – ohne zu wissen, ob es mich mein Leben kosten würde, wenn ich ein anderes rettete. Und ob es womöglich anschließend auch die Leben jener Menschen vernichten würde, die ich liebte. Dennoch – hatte ich keine Wahl.

Das Wasser machte kaum ein Geräusch, als ich mich in die Waagrechte bugsierte und in langen, gleichmäßigen Schwimmzügen jene Stelle ansteuerte, an der ich das Netz vermutete. Nichts regte sich. Nur die Fledermäuse schossen unentwegt über mir hin und her – ich glaubte sogar, ihre Ultraschalllaute zu hören.

Mit der Linken streifte ich die Schutzhülle von der Messerklinge, brachte mich wieder in die Senkrechte, holte tief Luft und ließ mich kerzengerade und mit weit geöffneten Augen hinabsinken.

Ich sah ihn sofort – ein Anblick, der mein Herz erschütterte und einen tiefen, reißenden Schmerz in mir auslöste. Mein gesamter Körper erbebte unter seiner Wucht, als würde er geschüttelt. Bläulich leuchtend verbreiteten sich Ringe im Wasser ringsum und erreichten schließlich auch ihn … Wie eine magische Verbindung zwischen uns, die nun sichtbar wurde, in Wahrheit aber schon immer da gewesen war, vom Anbeginn aller Zeiten.

Er ist real, dachte ich zitternd. Kein Traum, keine Einbildung oder gar Sinnestäuschung. Dieser junge Wassermann war echt – und er blutete; dunkelblaue Tropfen, die wie kleine Wolken aus Tinte aus den Wunden an Hals und Brust ins Wasser flossen. Er musste mit der Wut eines verletzten Hais gekämpft haben, um sich aus dem Netz zu befreien, und hatte sich dabei versehentlich selbst stranguliert. Sein Kopf steckte in einer Schlinge, deren Stränge fest auf seinen Hals drückten. Jede weitere Bewegung musste ihn unweigerlich töten. Ich verstand nicht, wie er atmen konnte. Ich sah nur, dass er es tat. Seine olivfarbene Brust, deren glatte Haut irisierend im Mondlicht schimmerte, hob und senkte sich angestrengt, doch es traten nur wenige Bläschen aus seinen leicht geöffneten Lippen. Immer wieder näherten sich fingerlange Fische seinem Kopf und streiften seine Wangen und seine Stirn, als wollten sie ihm durch ihre Berührungen Trost und Linderung verschaffen, doch auch sie konnten ihm nicht helfen.

Diese Macht hatte nur ich – und obwohl mir sein Anblick körperliche Schmerzen bereitete und ich die Männer anschreien wollte für das, was sie ihm angetan hatten, traute ich ihm nicht. Trotz seines Elends und seiner blutenden Wunden wirkte er ungeheuer stark auf mich, und in seiner Miene war kein Leid erkennbar – und erst recht keine Angst. Forsch sah er mich an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln; ein hypnotischer Blick, den ich nicht nur spürte, sondern auch hörte – ja, seine Augen sangen, sobald ich es zuließ, dass sein Blick dem meinen direkt begegnete.

War das ein Trick, eine Falle? Tat er nur so, als ob er festhing, und würde mich mit sich in die Tiefe ziehen, sobald ich ihm zu nahe kam? Mit einer drohenden Geste zeigte ich ihm mein Messer. Ja, sieh genau hin. Ich kann dich damit retten, aber ich kann dich damit auch verletzen. Im Notfall sogar töten. Such es dir aus.

Statt sich davon beeindrucken zu lassen, hob er mit dem spöttischen, überheblichen Anflug eines Grinsens seinen linken Mundwinkel, sog spielerisch einen der Fische zwischen seine Lippen und gab ihn wieder frei. Vor Empörung ließ ich die Luft aus meinen Lungen weichen – jetzt reichte es mir.

Der Kerl machte sich über mich lustig – und schien sich dabei immer noch verflucht sicher zu sein, dass ich ihm helfen würde. Dabei verkrampften meine Bronchien sich schon. Ich musste dringend zurück an die Oberfläche, um Luft zu holen und meine Gedanken zu sortieren.

Doch kaum hatte ich die Wasseroberfläche erreicht und die kühle Nachtluft eingeatmet, drang ein fernes, vertrautes Rufen an meine Ohren, was die Situation schlagartig verschärfte. »Vicky! Vicky, wo steckst du denn? Vicky!« Ich erkannte die Stimme sofort – und nun hörte ich auch Sandra rufen. »Bitte antworte uns! Vicky!? – Gott, wo ist die nur hin?«

Nein, ich hatte keine Zeit, zu überlegen, ob das Wesen dort unten es wert war, von mir gerettet zu werden. Schon näherten sich die Schreie, und ich sah die Lichtkegel der Taschenlampen durch das nächtliche Dickicht des Regenwaldes huschen. Ich musste handeln, bevor es zu spät war – ganz egal, was mir dabei geschehen konnte.

Weit öffnete ich meinen Mund, um so viel Sauerstoff in meine Lungen zu saugen, wie sie fassen konnten, und hechtete kopfüber ins mondlichtdurchflutete Wasser zurück. Pfeilschnell schoss ich auf das Netz zu, das Messer gezückt, während mein Herz im Stakkato hämmerte. Ich musste mehrere Maschen durchtrennen – erst, um selbst ins Innere des Netzes zu gelangen, und dann, um das Wesen aus seiner tödlichen Schlinge zu befreien. Ich schaute den jungen Wassermann gar nicht erst an, sondern machte mich ohne Verzögerung an die Arbeit. Mir war nicht danach, einen neuerlichen spöttischen Blick zu ernten – und noch weniger, seine spitzen Zähne zu sehen, wenn er grinste, weil ihm wahrscheinlich die ganze Zeit vollkommen klar gewesen war, dass ich ihn nicht im Stich lassen würde.

Das Netz war stabiler, als ich vermutet hatte, und ich musste das Messer mit aller Kraft hin und her bewegen, um die Taue durchzuschneiden. Das kostete Zeit – und wertvolle Luft. Gewaltsam versuchte ich meine aufsteigende Panik im Griff zu halten. Das hier war etwas völlig anderes, als in der Badewanne Tauchtests zu veranstalten und bunte Schaumbläschen zu beobachten. Das Säbeln war anstrengend, und ich hatte das beängstigende Gefühl, dass Till und Sandra schon auf dem Weg zur Cenote waren und mich jederzeit entdecken konnten. Endlich – nach dem nächsten durchtrennten Stück Netz hatte ich ein Loch fabriziert, das groß genug war, um mich hindurchzwängen zu können.

Meine Lungen flatterten bereits unruhig, weil sie unbedingt atmen wollten, doch ich versuchte meine Luftknappheit zu ignorieren und katapultierte mich mit einem kräftigen Paddeln meiner Unterschenkel dem gefangenen Wassermann entgegen. Er hielt ganz still, als ich mich ihm näherte, und seine funkelnden, schwarzgrünen Augen starrten mich unverwandt an. Dann drehte er sein Kinn ein Stückchen zur Seite, damit ich die Klinge leichter unter das Seil jener Schlinge schieben konnte, in der er sich verfangen hatte.

Doch jetzt begann der Sauerstoffmangel bereits meinen Verstand zu vernebeln. Ich dachte gar nicht daran, dass seine Hände ja gar nicht gefesselt waren – diese Tatsache hatte ich bisher völlig ignoriert; vielleicht, weil er seine Arme die ganze Zeit an seinen Körper gepresst hatte. Kaum hatte ich die Klinge unter das Seil geschoben, zuckte seine Rechte hoch, um mich zu packen. Ich erschrak so heftig, dass mir das Messer aus den Fingern rutschte. Mittels einer gewagten Rückwärtsrolle riss ich mich von ihm los und trat die Flucht an – und sah aus den Augenwinkeln, dass er das Messer geschickt auffing und das Seil um seinen Hals mit einem einzigen Ruck durchtrennte.

Also war das Ganze nur eine heimtückische Falle gewesen – er hatte auf mein Mitleid vertraut, obwohl er sich wahrscheinlich ohne jede Anstrengung selbst hätte befreien können … Ich musste die Oberfläche erreichen, bevor er mich innerhalb des Netzes einholen konnte, schnell! Schwarze Sternchen begannen vor meinen Augen zu tanzen, und der brennende Druck in meinen Lungen wurde nahezu unerträglich. Mit letzter Kraft kämpfte ich dagegen an, denn ich wollte keinesfalls der Stimme in mir nachgeben und einfach das Wasser einsaugen, tief und durstig …

Jetzt stolperte mein Herz, als würde es gleich zu schlagen aufhören, doch irgendwie gelang es mir, das Loch im Netz anzusteuern. Ich sah es durch die tanzenden Sternchen hindurch direkt vor mir – und kam trotzdem zu spät. Kurz bevor ich hätte hindurchgleiten können, gehorchte mein Körper mir nicht mehr. Meine Arme und Beine wurden schlaff und taub, und ich sank willenlos dem Grund der Cenote entgegen, dorthin, wo es dunkel und tot war, ins Reich der Geister …

»Nox«, flüsterte es tief in meinem Herzen, das seinen Rhythmus längst verloren hatte. »Nox, bitte verlass mich nicht …«

»Du kennst meinen Namen …«, erreichte mich seine Antwort, und ich hörte sie ebenfalls in meinem Herzen, nicht in meinem Kopf.

Ja, jetzt, im Augenblick meines Todes kannte ich ihn. Mein ganzes Leben hatte sich immer nur auf diesen einen Moment zubewegt – und doch wollte ich nicht, dass es schon vorbei war.

»Es ist nicht vorbei … Es fängt gerade erst an.«

Kühl und kraftvoll schlang sich sein Arm um meine Taille, und mit einem Ruck, der sich anfühlte, als würde ich durch die Fluten der Cenote fliegen, beförderte er mich durch die Lücke des Netzes. Mit einem weiteren Ruck schickte er mich zurück an die Oberfläche und schoss davon, ehe Till nach mir griff und meinen Kopf umfasste, um mein Gesicht nach oben zu drehen, dem Mond entgegen. Mein Atemreflex funktionierte nicht sofort. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich hustend und röchelnd nach Luft zu ringen begann, Wasser spuckte, dann keuchend zu atmen versuchte. Die Cenote hatte mich wieder freigegeben, ich war zurück in der Welt der Menschen, ich lebte.

Doch ich war nicht in der Lage, auf Tills und Sandras Fragen zu antworten, mit denen sie mich überfielen, nachdem sie mich an Land gebracht und nach oben zum Camp getragen hatten. Mit geschlossenen Augen lag ich auf dem Dschungelboden, während die beiden direkt neben mir hitzig darüber stritten, ob ich in ein Krankenhaus gebracht werden müsste oder nicht. Doch schließlich gab Michel nach einer gründlichen Untersuchung Entwarnung. Meine Atmung sei stabil und es gebe keinerlei Hinweise auf Wasser in meiner Lunge, aber wahrscheinlich stünde ich unter Schock. Schlaf und Erholung seien jetzt wichtiger als alles andere.

Nox …, dachte ich voller Sehnsucht, als endlich Ruhe einkehrte und sie mich für einen kurzen Moment im Zelt allein ließen. Du bist wieder frei!

Und ich – ich musste für immer in mein altes Gefängnis zurückkehren. Jetzt erkannte ich seine Mauern. Sie bestanden aus Luft, und ihre Hüter waren Menschen, die ich liebte.

Meine Bestimmung aber war das Wasser. So war es seit jeher gewesen.

Ich hatte das nur vergessen.