Marc fliegt, so langsam es die Bestimmungen erlauben, über die Hochhäuser an der Küste San Diegos. Durch die großen Fenster des luxuriösen Privatflugzeugs, kann er alle Orientierungspunkte der Innenstadt sehen. Petco Park, wo die Padres Baseball spielen, das Messezentrum, in dem alles, von der Comic Con bis zur Pest World stattfindet, den Embarcadero, mit dem Blick auf das legendäre Segelschiff Star of India und das USS Midway, das jetzt ein schwimmendes Museum ist. Im County Administration Center, ein historisches Gebäude im Stil Beaux-Arts/Spanish Revival, mit Spitznamen Juwel der Bucht und daneben im County Office of Assigned Counsel, verbringt Marc den Tag, und auch in der Nacht noch viele Stunden, und bereitet Fälle für seine Mandanten bei Gericht vor.
Geschickt landet Marc das schlanke Flugzeug auf einer der geschäftigsten, schwierigsten Landebahnen weltweit. Nördlich und östlich sind Berge, südlich der mexikanische Luftraum und von Westen gibt es starken Rückenwind, Piloten müssen also gut aufpassen. Mehrere epochale Unfälle sind schon passiert, einmal ist sogar ein Flugzeug in die eisigen Tiefen der San Diego Bay gestürzt.
„Mir bleibt immer das Herz stehen, wenn du die Motoren drosselst. Ich könnte schwören, du suchst den Tod. Muss aber ich dabei im Flugzeug sitzen?“, fragt Anabel und atmet tief und erleichtert aus, als sie hört, dass das Fahrwerk, ohne zu poltern auf den Boden trifft.
Marc ist ein erfahrener Pilot, aber ein kleiner Hitzkopf, der aus unerklärlichen Gründen das Schicksal herausfordern will. Vielleicht liegt ihm das im Blut. Marcs Großvater flog im Zweiten Weltkrieg in Frankreich ein Kampfflugzeug und er greift oft Geschichten von Gefahr und Heldentum auf, die ihm sein Vater erzählte. Heute fliegt Marc die Cirrus SF50 Vision, dank einer unglaublichen Glückssträhne bei der Tombola des Kunstmuseums.
Zugang zum Flugzeug zu bekommen, war nicht einfach. Es gab eine gründliche Untersuchung seiner Erfahrung als Pilot, sein Privatleben wurde beleuchtet, um Selbstmordabsichten auszuschließen und er musste sich an eine bestimmte Flugroute halten. All das nahm Zeit in Anspruch, zusätzlich zu seinen Gerichtsterminen, seinen persönlichen Verpflichtungen und unzähligen anderen zeitraubenden Dingen, die ihn vom Steuerknüppel fernhielten.
Das V-förmige Heck mit der Turbodüse oben am Rumpf wirkte seltsam, Marc war aber weniger abgeneigt, als er sie aus der Nähe sah. Im Cockpit der überaus geräumigen Maschine mit der geteilten Windschutzscheibe zu sitzen, war, man kann es nicht leugnen, cool.
Marc hielt sein Versprechen und Ben Parker war sein erster Passagier. Ben war noch nie zuvor in einem Privatflugzeug geflogen und der wenige Platz und das Gefühl, das Flugzeug könnte nicht sicher sein, zehrten an seinen Nerven. Da war ihm eine große Maschine mit Platz für mehr als 300 Passagiere, wo man kaum spürte, dass sie sich bewegte und man den Boden erst kurz vor der Landung sah, tausend Mal lieber. Geschickt steuerte Marc das Flugzeug vom Hangar auf die Startbahn, drückte das Gaspedal durch und hob vom Boden in den unendlichen, blauen Horizont ab. Ben leerte zwei kleine Flaschen Wein, um sich zu beruhigen, als aber der kurze, spannende Flug vorbei war und sie landeten, übergab sich Ben schon bald und schwor sich, nie mehr in etwas zu fliegen, das kleiner als der Goodyear-Zeppelin war.
Anabel ist nicht weniger aufgeregt und die meiste Zeit hat sie die Augen geschlossen und klammert sich an den Sicherheitsgurt, dass ihre Knöchel weiß werden. Oh, sie wünschte, sie hätte die Tombola nie zu Marcs Gunsten manipuliert.
„Hier sind wir sicher und geborgen wie immer. Du weißt, deine Sicherheit geht mir über alles, meine Liebe.“ Marc wischt sich selbst etwas Schweiß von der Stirn und löst seinen Gurt.
„Nächstes Mal fliege ich mit Amtrak“, schimpft Anabel, nachdem sie die kurze Strecke vom McClellan-Palomar Airport in Carlsbad, wo das Flugzeug steht, zum San Diego International Airport, wo er es der Charterfirma zurückbringt, hinter sich hat. „Wie du weißt, hätten wir zum Hotel und zurückfahren können. Warum musst du 30 Meilen mit einem Flugzeug zurücklegen, das 555km/h schnell ist.
„Weil es mir Spaß macht. Keine Autobahnen, keine Staus. Nur der blaue Himmel, sonst nichts. Perfekt. Und umsonst, dank eines glücklichen Händchens bei der Tombola.“
Anabel beißt sich auf die Zunge.
Da er wusste, mit voller Kraft würde es nur etwa zehn Minuten dauern, verlängert Marc den Flug, indem er die Maschine drosselt. Er wollte noch ein paar Sehenswürdigkeiten von San Diego sehen, so flog er über das Meer mit der weißen Gischt, über Coronado Island, über die Buchten mit den Segelbooten, bevor er dann sanft auf dem Asphalt aufsetzte.
„Ich brauche den versprochenen Drink“, sagt sie und klammert sich an seinen Arm, als er sie die Treppe hinunterführt, ganz der Kavalier, zu dem ihm seine Mutter erzogen hat. Marc verabschiedet sich schweren Herzens von dieser Flugmaschine, sein Wochenend-Highlight ist vorbei.
„Lass uns auf die Dachterrasse des Hyatt gehen, dort ein leichtes Abendessen und ein paar Drinks zu uns nehmen“, meint Marc. „Der Blick auf die ganze Stadt ist für mich immer wieder schön. Ich habe eine Suite reserviert, wenn du es vorziehst, dass wir für uns sind und nur der Zimmerservice hin und wieder vorbeischaut.“
„Das Hyatt hört sich wunderbar an“, meint sie, ganz die kokette Frau mit heißen, nicht damenhaften Gedanken. „Die Suite gibt es zum Nachtisch. Um wieviel Uhr musst du morgen im Gerichtssaal sein?“
„Nicht vor 10:00 Uhr. Richter Larimer ist kein Frühaufsteher, Gott sei Dank. Nicht, seit er nächtliche Pornosender für sich entdeckte.“ Sie steigen in ein wartendes Taxi.
Im Aufzug zu den oberen Etagen sind überraschend wenige Leute und Anabel drückt auf Stopp, noch ehe er im 30. Stock ankommt. Was sie vorhat ist klar und Marc will sich die Chance nicht entgehen lassen, sich auf eine von Anabels plötzlichen Launen einzulassen. Als die Ruftaste aufleuchtet, schalten sie die Stopptaste stumm, streichen sich die Kleider und Haare zurecht und sehen unberührt aus, als die Aufzugtür sich öffnet, bereit, weitere Fahrgäste einzulassen.
Hinter durchgehenden Scheiben, die, dreht man sich um 180 Grad, 40 Stockwerke über San Diego, eine großartige Aussicht bieten, stoßen Marc und Anabel an. Anabel trinkt einen Champagnercocktail, Marc einen Whisky mit Eis.
Von ihrem Tisch am Fenster aus bietet sich eine Vogelperspektive auf die ikonischen roten Dächer des Del Coronado, eines historischen Hotels im viktorianischen Stil, das seit mehr als 100 Jahren die Top-Adresse für Präsidenten, Könige und Prominente ist. Durch das intime Coronado Island und die kräftige Farbpalette, die sich durch den Sonnenuntergang bildet, taut sie immer mehr auf. Die Wochenenden verbrachten sie und Marc dort, tanzten und es war wie im Film. Lange Strandspaziergänge machten sie auf Sand, der so weiß war, wie die Dachplatten des Hotels. Sie surften, aßen das exotische Essen und liebten sich hemmungslos und leidenschaftlich.
„Wir müssen bald wieder mal ins Del", meint Anabel.
„Hört sich gut an. Sobald dieser Fall vorbei ist.“
„Und wann wird das sein? Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, seit wir am Strand spazieren gingen, in einem eigenen Bett Sex hatten und andere romantische Dinge taten, die normale Männer und Frauen tun.“
Marc teilt ihre Sehnsüchte, auch wenn es gerade drei Tage her ist, dass sie im Loft grenzenlos und ausgiebig Sex hatten. „Nicht viel länger. Ich glaube, morgen früh haben wir ein Urteil. In der Zwischenzeit könnten wir zu unserem Abendessen einen guten Wein trinken. Vielleicht haben sie einen neuen Bordeaux, den wir probieren könnten.“
„Eigentlich denke ich, zu unserer Bestellung passt der Cabernet am besten. Ein 2009er Vintage“, sagt sie zum Sommelier. Er nickt aufmerksam.
„Woher weißt du so viel über Wein?“, fragt Marc.
„Ich trinke einfach gern“, sagt der Nachkomme von Amador Ibarra, dem berühmten Weinbauer, der, wie Marc jetzt weiß, auf dramatische, tragische Weise sein Leben änderte.
„Darauf trinke ich“, stimmt er zu und weist den Kellner an, ihre Bestellung auf ein iPad zu schreiben. „Für die Dame die marinierten Oliven, die Tacos mit geräuchertem Lachs und das Roquefort-Dreierlei, für mich den Angus-Burger mit Salat in einem flachen Brötchen.
„Vermutlich auch noch ein paar Pfefferminzbonbons", scherzt Anabel mit dem Kellner. „Und woher weißt du so viel über Essen?“
„Meine Mutter war eine super Köchin und ich esse gern.“ Mehr will Marc noch nicht sagen.
Sie genießen ein wunderbar zubereitetes und serviertes Essen, während sie eine lockere, lustige Unterhaltung in ruhigem Ambiente führen, als es in der noblen Lounge plötzlich sehr laut wird.
Frauen schwärmen und kreischen, als der Popstar Michael Barron den Raum betritt. Der Narzisst zeigt seine strahlend weißen Zähne und seinen nussbraunen Teint. Hin und wieder küsst er eine Wange und die Frauen werden rot, ihre Münder stehen offen, vor Freude. Barron wird auf die Bühne gebeten, um einen Song mit der Latin-Pop-Band zu singen. Protzig beglückt er seine Fans mit einer sinnlichen Interpretation von Dímelo - Tell Me . Er geht durch die Menge, zerrt ein Mädchen auf die Tanzfläche und muss sie festhalten, als er ihrem straffen und gekrümmten Körper gefährlich nahekommt.
„Du liebe Zeit, was für eine Show er abzieht“, stöhnt Michael. „Ein Tänzchen mit dem großen Star?“, fragt er Anabel spöttisch.
Fotografen und Fans greifen zu ihren Kameras und übermitteln die Bilder direkt zu Fernsehsendern und teilen sie in den sozialen Medien. Anabel ist froh, dass ihr Tisch weit genug weg ist und man sie durch das grelle Licht nicht wahrnimmt.
Als Antwort auf Mikes Frage schüttelt sie abwehrend den Kopf. „Nein, danke. Außerdem erinnere ich mich an Zeiten, da konnte er ums Verrecken kein Date klarmachen“, rutscht es Anabel ungewollt heraus.
„Echt? Du kennst den Typ?“
„Ähm...könnte man sagen.“
„Ein alter Freund? Liebhaber?“
Sie lacht ironisch und denkt sich, flüchtig . Das wäre inzestuös. Sie lügt nicht direkt, als sie sagt: „Er hatte mal was mit einer Freundin von mir, bis er ein B-Promi wurde. Das bleibt aber erst einmal unter uns.“
„Warum? Die meisten Frauen würden es von den Dächern pfeifen, einen solch großen Star zu kennen.“
„Nicht bei diesem. Und eigentlich weiß ich gar nicht mehr, wer er wirklich ist.“ Sie sieht in ihm mehr ihren verschwenderischen Bruder.
In jungen Jahren war Anabel von Miguels Musik angetan. Selbst hinter verschlossenen Türen konnte sie die traurige Melodie und die ergreifenden Textzeilen hören, die sie ergriffen. Er zupfte die Saiten der Akustikgitarre präzise und sie passten irgendwie zu allen Emotionen, die er empfand. Er war ein begnadeter Songschreiber, hatte sich das Musizieren selbst beigebracht und wollte ein Star werden. Er versteckte sich aber hinter verschlossenen Türen, wo niemand das Ergebnis der üblen Kneipenschlägerei sah, die sein hübsches Gesicht entstellte.
Anabel liebte seine Musik, hätte das vor ihm aber niemals zugegeben. Rivalität unter Geschwistern war etwas, das seinem hässlichen Kopf nie eine Ruhe ließ. Sie schienen es zu genießen, sich gegenseitig zu quälen, wenn aber jemand fragte, warum, konnten sie es nicht erklären. Sie gingen mit dem Verlust ihrer Mutter unterschiedlich um und jeder nutzte seine eigene kreative Ausdrucksstärke, um mit dem Schmerz umzugehen.
Jetzt ist er Michael Barron, ein Star, der er immer sein wollte. Von seiner Familie losgelöst, aber das Objekt der Begierde für Fans, die ihn verehren, bei seinen Auftritten Hallen füllen und in Discos scharenweise zu seiner Musik tanzen. Wenigstens hier, so dachte Anabel, konnte sie frei ihr eigenes Leben gestalten mit dem Mann, den sie liebt.
Aus der Ferne schaut Barron in Anabels Richtung und zögert kurz. Zum Glück, für sie beide, führt man ihn in einen privaten Essbereich und sie wird endlich ruhiger. Aber Anabel ist noch immer etwas aufgebracht.
„Marc, verschwinden wir hier. Mir gefällt diese PR nicht. Ich glaube, es wartet ein Zimmer mit herrlicher Aussicht auf uns. Und ein Nachtisch?“
„Natürlich. Ein Nachtisch.“