Marc wollte nie eine Obduktion seiner Mutter, aber die Ereignisse in letzter Zeit spornen ihn an. Die ein oder andere Erinnerung. Ein Bild im Kopf. Ein Wunsch, es zu wissen. Er zeigt dem zuständigen Richter, was er hat und bittet um die Akte seiner Mutter.
„Das ist über 15 Jahre her“, erinnert ihn der Richter.
„Ist das auf Ihrem Computer?“
„Nein, erst vor zehn Jahren haben wir alles vollständig digitalisiert. Die Akte ist immer noch auf Papier gebannt.“
Das ist nicht Marcs erster Besuch in der Pathologie. Er musste einmal einen Mandanten, der einen Angehörigen identifizieren sollte und dann in Tränen ausbrach, begleiten und auch einem Mann nachweisen, dass er seine Frau misshandelte. Diesmal geht er ins Labor, als ziehen ihn die Leichen, die darauf warten, aufgeschnitten zu werden, dass jedes Organ unter dem Mikroskop untersucht werden kann, regelrecht an. Es ruhen Tote hier, manche verhüllt, andere nicht. Das Engelsgesicht eines Mädchens täuscht nicht über die Prellungen und Schnittwunden auf ihrem kleinen Körper hinweg. Junge, Alte, Männer, Frauen. Die Todesursachen natürlich, durch Unfälle und Gewaltverbrechen.
In Marcs Kopf sind lauter Fragen. Wurden ein paar der Frauen, die hier liegen, vom Mann mit der Narbe getötet? War das einzige Opfer dieses Killers seine Mutter? War es ein Verbrechen aus Leidenschaft oder schlicht ein Akt der Gewalt? Ist er ein Serienmörder? Wird er das wieder tun und vielleicht Marc eine Pause beim Mordfall Helena verschaffen? Vielleicht ist eine der männlichen Leichen der Mörder seiner Mutter und ihn hat endlich sein Schicksal ereilt.
Marc durfte, als seine Mutter getötet wurde, die Leiche nicht identifizieren. „Sie“ dachten, der Stress, dass sie tot war, sei zu schmerzlich. Irgendwie kam die Polizei, der Pathologe steckte sie in einen Leichensack und schaffte sie ins Leichenschauhaus, dann kam ihre Schwester Rosa von Stockton her, um sie zu identifizieren.
Er öffnet die Akte. Die Tatortfotos seiner Mutter sind ein Schock für ihn. Sie liegt auf dem Boden, auf einem Foto nicht zu erkennen, bei einem weiteren mit dem Gesicht nach oben. Blut ist auf ihrem Kleid und der Schürze und so viel Blut fließt kreisförmig aus ihrem Bauch, dass Marc nicht glaubt, dass noch welches in ihr ist, als die Polizei kommt.
„Alles gut, Mr. Jordan?“, fragt der Pathologe und hebt die Akte auf, die Marc aus der Hand gefallen ist.
„Ja. Verzeihung. Ich...können Sie sie mir vorlesen?“
„Natürlich. Wollen Sie sich zuerst setzen?“
„Ja. Danke.“
„Verstorben: Helena Morales. 34 Jahre alt. Weiblich, 1,70 m, 60 kg. Stichwunde am Bauch, lebenswichtige Organe verletzt. Todesursache unklar...“
„Unklar? Sie wurde ermordet.“
„Als die Akte zusammengestellt wurde, wurde die genaue Todesursache noch untersucht. Nach einer vollständigen Obduktion wurde es dann offiziell als Mord bezeichnet.“
„Ja. Natürlich. Bitte, fahren Sie fort.“
„Der Tatort wurde gesäubert, sodass man keine Fingerabdrücke fand, bis auf die des Opfers und es gab auch keine Einbruchsspuren. Unter ihren Fingernägeln wurden Hautpartikel gefunden, aber die DNS konnte man nicht ausmachen. Es gab Abwehrverletzungen, die darauf schließen lassen, dass sie sich gewehrt hat. An den Händen fand man Schnitte und Hämatome. Sie und ihr Mörder kämpften womöglich um das Messer.“
„Was ist mit der Mordwaffe?“
„Keine Spur von ihr. Die Polizei geht davon aus, der Mörder nahm sie mit.“ Der Pathologe liest weiter: „Die Tote war im gebärfähigen Alter und, Verzeihung, wenn ich das sage, sie hatte vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr..."
„Was? Nein...woher wissen Sie das? Fand man Sperma?“, platzt es aus Marc. Das wäre doch hilfreich, oder?
„Kein Sperma, aber...“
„Aber was?“
„Tut mir leid, das zu sagen, aber sie war schwanger, im dritten Monat.“
Als er das hört, nimmt Marc die Akte und liest sie selbst. Er ist bestürzt, dass seine Mutter zu jemandem ein solch inniges Verhältnis hatte, so kurz nachdem sein Vater gestorben war. Es schockiert ihn auch, dass er einen Bruder oder eine Schwester hätte haben können. War es möglich, dass es Francos Kind war? Marc überschlägt die Zeitspanne im Kopf und kommt zu einem traurigen Schluss. Seine Mutter hatte mit irgendjemandem ein Verhältnis. Mit wem? Einem verheirateten Mann? Jemand, der sie betäubte und anschließend schwängerte? Hätte sie ihn geheiratet? Hätte er ihr einen Antrag gemacht?
War ihr Geliebter ihr Mörder, vielleicht deshalb, weil sie schwanger war und er deswegen wütend war? Oder war sie wütend und stellte ihn zur Rede, stritt mit ihm, provozierte ihn? War ihr Tod ein Verbrechen aus Leidenschaft? War es ihre Schuld und er unschuldig?
Marc zieht im Kopf Vergleiche über Anabel und seine Mutter, zwei ganz unterschiedliche Frauen: Die eine heiß, feurig und sexy, die andere zurückhaltend, gesetzt, aber mit einem Hauch leicht sinnlicher Selbstsicherheit. Verliebte er sich in Anabel, weil sie das genaue Gegenteil seiner Mutter war, um seinen Anspruch als Sohn geltend zu machen und Helena auf ein Podest zu stellen?
Viele Jungen verlieben sich in Frauen, die so sind wie ihre Mütter, wenn auch sie eine treusorgende Geliebte brauchen. Und andere, wie er, wollen die Beziehung Mutter Sohn besonders halten, sodass keine Frau vergleichbar oder eine Konkurrenz ist. Nun kommt diese neue Erkenntnis, dass Helena eine Affäre hatte, eine heimliche, unerlaubte, da merkt er, dass sie auch unehrenhaft war, wie viele andere Frauen.
* * *
„Und, wie geht Ihnen? Privat, meine ich?“~
„Ich bin mit jemandem zusammen.“
„Was Ernstes?
„Ja. Ich bin seit kurzem verlobt“, sagt Marc ganz offen, was
Dr. McMillan überrascht. „Also wollen Sie heiraten? Wirklich? Und dieses Detail haben Sie ausgelassen?“
Marc hatte seine Therapiesitzungen nicht mehr regelmäßig wahrgenommen, seit das mit Anabel etwas Ernstes wurde. „Ich hatte so viel mit einem Prozess und anderen Dingen zu tun.“
„Die da wären?“
Marc erzählt ihm vom Bericht des Pathologen, wie grausam es war, ihn zu lesen, wie befreiend es dennoch war.
„Meine Mutter war schwanger. Sie hatte was mit einem anderen Mann, so schnell nach dem Tod meines Vaters. Meine heilige „Mutter“, sagt Marc schmerzerfüllt, aber auch mit einem Hauch Zynismus.
„Ihre Mutter war ein Mensch, Marc, die mit dem tragischen Tod Ihres Vaters fertig werden musste, eine alleinstehende Frau, die einen Sohn allein großziehen musste, aber auch Trost und Liebe brauchte. Seien Sie nicht zu hart mit ihr.“
Peinlich berührt schüttelt Marc den Kopf und tadelt sich im Stillen. „Ich bin kleinlich und kindisch, ich weiß. Ich fasse es nicht, dass ich solche Gedanken habe.“
„Die Beziehung zu Ihnen und Ihrer Mutter wurde eine völlig andere, als sie ermordet wurde. Sie fühlen sich nicht nur schuldig, weil Sie sie nicht beschützen konnten, Sie fühlen sich auch von ihr im Stich gelassen. Sie hielten so große Stücke auf sie, zurecht. Sie war eine treusorgende Mutter und ein bewundernswerter Mensch. Nun, da du entdecktest, dass auch sie weibliche Bedürfnisse und Emotionen hatte und eine Affäre, die vielleicht ihr Tod hätte sein können, fühlst du dich wieder verlassen.“
Marc hat daran eine Weile zu knabbern und neigt in Gedanken den Kopf. Er kann nur nicken, denn diese schmerzliche Erkenntnis verschlägt ihm die Sprache.
Dr. McMillan wechselt zu einem pragmatischeren Thema, dass es für seinen Mandanten angenehmer wird. „Wie läuft es in Ihrem neuen Fall? Ich sah die Zeitungsartikel und las, dass der Mandant glaubt, man hätte ihn zu Unrecht bestraft.
„Ja, gerade ist es verwirrend“, meint Marc, wobei er jedes Wort haucht. „Aber Details kann ich nicht verraten.“
„Ja, ich weiß. Das werde ich dann einfach alles in den Nachrichten lesen müssen. Ich fragte mich nur, wie Sie das alles unter einen Hut bringen. Wollen Sie noch einen Termin?“
„Ähm...ich muss mir über ein paar Dinge klar werden, Doktor.“
„Dazu bin ich da.“
„Nein. Das muss ich allein handhaben. Vorerst. Ich melde mich dann.“
Marc geht den Gang hinunter, wartet dann ungeduldig auf den Aufzug, sieht dann aber, in vielen Stockwerken warten noch Fahrgäste. Er entschließt sich, die Treppe zu nehmen. Als wäre es Schicksal, schließt sich die Tür hinter ihm und die Tür vor ihm öffnet sich und Anabel tritt heraus. Sie läuft an den Türen vorbei den Flur hinunter.
Anmutig setzt sie sich in Dr. McMillans Lehnstuhl und sorgfältig zieht sie ihre Bluse und ihren Rock zurecht. Sie legt die Füße hoch, fühlt sich entspannt und plaudert ausgelassen über das Abendessen bei ihrer Verlobung und wie Marc ihre Familie zum ersten Mal traf.
„Marc?“
„Er ist mein Verlobter. Erzählte ich das nicht?“ Sie streckt die Hand aus und zeigt einen geschmackvollen Verlobungsring, Gold mit einem Diamanten, drei Karat. „Ich weiß, ich war eine Weile nicht hier, war aber sicher, ich erwähnte ihn. Sein Name ist Marc Jordan. Er ist Anwalt. Strafverteidiger.“
McMillan lässt Anabels Hand los, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Er verbirgt sein Erstaunen über den Namen und widersteht dem Drang zu sagen, auch er ist ein Patient von mir! „Nein, das wusste ich nicht. Wollen Sie beide bald heiraten?“
„Oh, ich hoffe es. Er weiß aber überhaupt nichts von meinem Problem. Sie wissen, wie sehr ich versuchte, meine Impulse zu kontrollieren. Ich brauche sie, dass ich völlig geheilt werde,
Dr. McMillan. Ich habe Albträume und Marc ist bei mir, aber ich erzähle ihm nie, wovon ich träume. Er darf nie erfahren, was ich getan habe. Ich will nie wieder ein Feuer entfachen. Warum sollte ich? Ich bin jetzt glücklich und solange ich Marc habe, werde ich es immer sein.“
McMillan kommen Gedanken über ernste Konsequenzen und ihm ist wohl bewusst, dass er ethisch eine Grenze überschreitet, weil er nicht sagt, dass er ihr Arzt ist, zögert aber, sich bei etwas einzumischen, was für Anabel ein Durchbruch sein könnte. Sie ist drauf und dran, etwas zu verraten, was für die Behandlung überaus belebend ist.
„Erzählen Sie mir von dem Feuer, Anabel. Das, welches ihnen so viel Schmerz bereitet, wegen dem Sie hier in Behandlung sind.“
„Ich weiß nicht mehr viel davon. Ich brauche Sie, Sie müssen mir helfen, mich zu erinnern. Ich befürchte aber, damit komme ich nicht zurecht.“
„Hier kann man am sichersten damit umgehen, also finden Sie einen Genesungsprozess. Sollten Sie zustimmen, könnten wir es mit Hypnose, einer ganz leichten Trance, versuchen.“
„Ja. Ja. Ich muss mich erinnern, habe aber auch richtig Angst.“
„Na schön, Anabel. Legen Sie sich zurück und entspannen Sie sich einen Moment. Atmen Sie ruhig und machen Sie ihren Geist frei, so gut Sie können.“
„Na schön.“
„Gleichmäßig ein- und ausatmen. Aber zwingen Sie sich nicht. Nur den Atem fließen lassen, als ob sie einschlafen, bleiben sie aber wach. Nun, stellen Sie sich vor, Sie sind an einem ruhigen Ort, wo Sie sich wohl fühlen. Irgendwo, wo Sie schon einmal waren, vielleicht an einem Strand, wo sie Ebbe und Flut zuschauen.
Ich zähle von zehn bis eins runter, dann fühlen Sie, wie sie treiben... Atmen Sie tief ein, ja, ruhig und gleichmäßig, wieder, ein und aus...
„Erzählen Sie mir von dem Feuer, Anabel. Das, welches ihnen so viel Schmerz bereitet, weswegen Sie hier in Behandlung sind.“
„Ich wollte nicht, dass es so schlimm wird“, sagt sie verträumt. „Es sollte nur ein kleines Feuer werden. Ich war so wütend auf meinen Vater und vermisste meine Mutter so sehr.“
„Wo sind Sie, Anabel?“
„Im Reiferaum, wo die Weinfässer lagern.“
„Und was geschah? Wie entzündete sich das Feuer?“
„Ich entzündete ein Streichholz und hielt die Flamme an eines der Fässer. Irgendwie sprang die Flamme von einem Fass zum nächsten über. Eine Dose Methanol war offen, der dumme Hausmeister, die entzündete plötzlich alles, es war groß und schön und ich konnte nicht wegsehen.
„Was hatten Sie für ein Gefühl, angesichts der möglichen Gefahr, der Vernichtung?“
„Oh, ich fühlte mich überhaupt nicht gefährlich oder vernichtend. Es war himmlisch, leidenschaftlich, umhüllte mich, beruhigte mich.“ Jetzt fällt sie vor Ekstase fast in Ohnmacht. „Ich hatte das Gefühl, die Flammen laden mich in ihre Wärme ein und rotgoldene Arme wollen mich umschließen. Aber ich konnte mich nicht bewegen.“
Er ermutigt sie, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Was passierte dann?“
„Dann hob mich plötzlich jemand hoch und trug mich aus dem Schuppen.“
„Was wollte er?“
„Er wollte es löschen, das Feuer, das Tohuwabohu, das konnte ich aber nicht zulassen. Ich musste ihn aufhalten.“
„Was taten Sie, um ihn aufzuhalten?“
„E...er legte den Schlauch in den Schuppen, um das Feuer zu löschen, das konnte ich aber nicht zulassen. Den Wasserhahn zuzudrehen, war das einzige, woran ich denken konnte.“
„Sie wussten, was geschehen würde, wenn Sie das tun.“
„Ich dachte lediglich, dass Wasser würde versiegen. Und das Feuer würde weiter brennen.“
„Aber nicht nur das passierte.“
„Nein. Nein. Plötzlich hörte ich diesen Schrei, irgendwo in der Ferne.“ Das fühlte sich so unwirklich an. Meine Gedanken und Gefühle übermannten mich.“
„Wer schrie, Anabel?“
„Keine Ahnung. Ich konnte die Stimme nicht zuordnen...“
„Überlegen Sie. Wer war noch mit Ihnen im Schuppen? Es war jemand, den Sie kannten und dem Sie vertrauten.“
„Ich glaube, es war Franco. Franco schrie um Hilfe. Ich konnte mich aber nicht bewegen. Ich wollte mich nicht bewegen.“
„Was geschah mit Franco, Anabel?“
„Er...er...“ Sie windet sich auf dem Stuhl und möchte die Bilder im Kopf verdrängen.
„Was geschah mit Franco, Anabel? Warum schrie er?“
„Er...er...ich konnte ihn in den Flammen nicht sehen.“
„Er verbrannte bei lebendigem Leib, nicht wahr?“
„Ja. Das habe ich zumindest gehört.“
„Was war das für ein Gefühl, als sie wussten, Franco war tot?“
„Ich konnte es nicht glauben. Franco war mein Freund, für mich fast wie ein Vater. Er war immer für mich da, tröstete und beschützte mich.“
„Was war das für ein Gefühl Anabel?“
„Ich wollte, dass ich krank bin. Nicht Franco. Franco nicht mehr.“ Anabel schreit laut und vergeblich nach ihrem Freund: „Komm zurück, Franco...“
„Wer war Franco, Anabel. Was war seine Aufgabe auf dem Weingut?“
„Er war der Verwalter des Weinguts. Franco Jourdain, der Verwalter des Weinguts. Franco, mein Freund. Mein einziger Freund. Ich mochte Franco sehr. Und ich tötete ihn!“ Anabel weint vor Schmerz und Reue, ihr Körper möchte der quälenden Erinnerung entkommen, sie schlägt mit den Fäusten gegen den Stuhl.
Dr. McMillan dreht sich vor Abscheu der Magen um. Sein Verdacht wurde jetzt bestätigt. Franco war Marc Jordans Vater. Marc ist sein Patient. Marc ist Anabels Verlobter. Wie kann er sie beide objektiv behandeln mit diesem Wissen? Er steht auf und trinkt einen großen Schluck Wasser. Er wünschte, es wäre etwas Stärkeres. Er wünschte, er könnte diese Sitzung abbrechen. Aber es gab noch mehr, das ans Tageslicht kam. Sicher war, dass sich Anabel zumindest eines Totschlags schuldig gemacht hatte. Er konnte aber nichts von diesem Geständnis der Polizei oder sonst jemandem mitteilen. Man hatte ihr und auch der Polizei gesagt, dass es ein grausiger Unfall war, verursacht durch eine offene Dose Methanol. Etwas Anderes konnte er nicht sagen.
„Na schön, Anabel. Beruhigen Sie sich. Tief einatmen, ein und aus. Sie wachen jetzt auf. Sie werden sich an alles, bis auf den Schmerz und die Schuld erinnern. So können Sie mit den Folgen umgehen und wir können einen Weg finden, Ihnen zu helfen.
„Na schön.“
Sie erwacht, erfrischt und ruhig, aber diese Ruhe währt nur kurz. Plötzlich ist sie aufgedreht und erregt. Die Hypnose bewirkte bei ihr das Gegenteil, was vorkommt, aber selten. Entweder war sie noch nicht vollständig wach oder noch nicht damit fertig, ihrem Gewissen Luft zu machen. Sie redet jetzt wie ein Wasserfall, erzählt von ihrem Bruder und seinen Kneipenschlägereien und wie ihr Vater ihm immer wieder aus der Patsche half, selbst nach einem Unfall mit Fahrerflucht, in den Miguel irgendwie verwickelt war. Sie ist neidisch und wütend, McMillan versetzt sie aber wieder in Trance.
„Welche Fahrerflucht, Anabel?“
Sie keucht schwer, dann ruhig, dann teilnahmslos. „Eine Frau wurde von einem Auto angefahren und der Unfallverursacher ließ sie am Unfallort liegen und fuhr davon.“
„Warum glauben Sie, Ihr Bruder hätte damit etwas zu tun?“
„Oh, er gerät immer in Schwierigkeiten. Es würde mich nicht überraschen, wenn er etwas wusste, aber es nicht zugeben wollte. Ich erinnere mich nur, dass er eines Nachts nach einer Schlägerei nach Hause kam und diese üble Schnittwunde im Gesicht hatte. Lange hatte er eine Narbe. Dann verließ er uns eines Tages. Als er zurückkehrte, war sein Gesicht verheilt. Alles an ihm war anders.“
McMillan sagt nichts mehr, außer dass Anabel diesmal langsam aufwachen soll. Ihre Zeit ist um. Sie werden nächste Woche weitermachen. Anabel kramt ihre Habseligkeiten zusammen, verlässt heiter die Praxis, fühlt sich frei von jeder Last.
Als er Anabels überraschende Geständnisse verarbeitet, kommen in McMillans Kopf verstörende Erinnerungen: Der Besuch der Kommissare, die Fahrt ins Leichenschauhaus, um die Leiche zu identifizieren, die Beerdigung, wie er versuchte, die Kinder zu trösten, die ebenso wenig zu trösten waren, wie er selbst. Ein unbekannter Mann wurde gesehen, als er in sein Auto stieg. Dieser überfuhr sie, sie war tot, er beging Fahrerflucht und ließ sie auf der Straße sterben.
McMillan spult die Tonbandaufnahme von Anabels Sitzung zurück und spielt eine bestimmte stelle immer wieder ab.
„Eine Frau wurde von einem Auto überfahren und der Fahrer ließ sie liegen und fuhr weg... Warum meinen Sie, ihr Bruder hätte etwas damit zu tun?... Oh, er gerät immer in Schwierigkeiten. Es würde mich nicht überraschen, wenn er etwas wusste, es aber nicht zugeben wollte... Nach einer Schlägerei kam er nach Hause, mit dieser üblen Schnittwunde im Gesicht. Lange hatte er eine Narbe. Dann verließ er uns eines Tages. Als er zurückkehrte, war sein Gesicht verheilt. Alles an ihm war anders.“
McMillan öffnet seine Schreibtischschublade und holt den Zeitungsartikel, den er aufbewahrte. Er ist vergilbt und zerknittert, weil er ihn jahrelang immer wieder las und dabei an den grausigen Vorfall dachte. „Zeugen konnten den Fahrer des Autos nicht identifizieren, sondern sahen nur sein blutiges Gesicht. Er raste von einem Parkplatz weg und überfuhr eine Frau, die des Wegs kam. Der Motor lief noch, er fuhr weg und er ließ sie auf der Straße liegen.“ Dieser Mann konnte nie gefunden werden, bis jetzt.
McMillan ist sich sicher. Der Bruder seines Patienten, Miguel Ibarra ist derjenige, der seine Schwester, Angela Bolane, vor 15 Jahren tötete. Ihm dreht sich der Magen um. Er unterdrückt einen Würgereflex.