Kapitel Drei­und­zwanzig

Eine Schar hoffnungsvoller Spieler säumt das Casino, die Spielautomaten klingeln, Gewinne werden ausgezahlt. Nummern beim Keno, bei Craps sowie beim Roulette werden ausgerufen und die Croupiers ziehen das Geld für das Haus ein. Abseits des Lärms, hinter den verschlossenen Türen des größten Separees, sind hunderte von Fans und dämpfen ihre Anspannung mit Alkohol und Reden. Das Konzert des Latin-Pop-Stars Michael Barron beginnt mit Orchestermusik, abgestimmten, bunten Lichtern und einer Feuerwerkskanone, worauf das Publikum ausgelassen jubelt.

Barron tänzelt auf die Bühne, singt einen Hit nach dem anderen und labt sich in der Bewunderung wie eine Biene am Nektar. Es lässt sich nicht abstreiten, er hat Ausstrahlung und Talent. Es lässt sich nicht abstreiten, sein Gesicht, das einst vernarbt war, ist das Gesicht, das in Marc Jordans Kopf immer wieder abläuft wie ein Film. Und jetzt, in Großaufnahme, auf riesigen Bildschirmen, ist dieses Gesicht makellos, genau wie auf den Aufnahmen aus seiner Krankenakte.

„Bist du sicher, du bist deshalb hier?“, fragt Dante Marc besorgt. Er kann sich kaum vorstellen, wie schwierig es für ihn werden wird, zu sehen, wie der Bruder seiner Verlobten in Handschellen abgeführt wird, sobald die Show vorbei ist.

„Das schulde ich meinem Mandanten.“ Und Angela Bolane und Dr. McMillan. Und meiner Mutter.

Groupies und Bühnenpersonal werden von Kommissaren in Zivil aus der Umkleidekabine geworfen, was Barron und seinen Agenten verwirrt.

„Wer sind Sie? Was geht hier vor?“

Sie zeigen ihre mi finsteren Minen ihre Dienstmarken, ihr Puls rast. „Sind Sie Michael Barron, alias Miguel Ibarra?“

„Was soll das alles?“

„Beantworten Sie die Frage, bitte. Sind Sie Michael Barron, alias Miguel Ibarra?“

Barron steht auf und wirft sein Handtuch auf den Boden. „Der bin ich.“

„Sie haben das Recht, zu schweigen. Sollten Sie von diesem Recht keinen Gebrauch machen, kann alles, was sie sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt und ein Anwalt darf bei der Vernehmung dabei sein.”

„Kommt Leute“, versucht Roberto die Polizei und seinen Klienten zu beruhigen, man befiehlt ihm aber, zur Seite zu treten. „Wenn das eine Beschwerde wegen sexueller Belästigung ist oder es um einen enttäuschten Fan geht, der kein Autogramm ...“

Man befiehlt Barron, die Hände hinter den Rücken zu nehmen und Handschellen werden ihm angelegt. „Sie sind verhaftet wegen eines Unfalls mit Fahrerflucht, bei dem Angela Bolane zu Tode kam.“

„Wer ist Angela Bolane, zum Teufel? Michael, was soll das alles? Kennst du diese Frau.“

„Ich habe keine Ahnung, wer sie ist, Roberto. Ruf meinen Anwalt an.“

Nach der Anhörung wird Barron auf Kaution freigelassen, er darf den Staat nicht verlassen, bekommt Hausarrest und darf das Anwesen der Ibarras nicht verlassen. In der Klatschpresse überschlägt man sich mit Mutmaßungen und haltlosen Spekulationen. Michael Barrons wirkliche Identität und seine Beziehung zu Amador Ibarra kommt ans Licht. Amador Ibarra steht immer noch unter Verdacht, Victor McMillan ermordet zu haben, was Michaels hart erarbeiteten Erfolg als Sänger beschmutzt.

Miguel flucht: „Zum Teufel mit dem elenden Pop und auch mit dir, Mutter. Wie konntest du das zulassen? Ich bat dich um Hilfe, aber du hast sie mir nicht gewährt!“

„Das ist nicht meine Schuld, Miguel. Nichts von alldem. Du und dein Vater haben etwas Grauenvolles getan, von Anfang an, als ihr sein Verbrechen vertuscht habt, anstatt zur Polizei zu gehen. Ganz zu schweigen davon, dass ihr mich angelogen und um Hilfe angefleht habt. Jetzt, da sie deine DNS und deine Fingerabdrücke haben und auch dank deines Vaters wurdest du identifiziert. Und vergiss nicht: Ein anderer saß für dich im Gefängnis, 15 Jahre, wegen etwas, das du getan hast.“

„Das wollte ich nie. Ich bat nur Papa um Hilfe. Ich wollte nie, dass jemand stirbt. Und ich wollte nie, dass ein anderer für mein Verbrechen büßt!“

„Du wolltest nur einfach nicht selbst dafür geradestehen, wie so oft.“

„Wäre nicht meine verrückte Schwester und ihre kranken Tiraden auf dem Band gewesen, hätte mich nie jemand verdächtigt. ”

„Es wäre früher oder später herausgekommen. Nun müssen wir uns überlegen, was wir tun“, drängt Madalena.

„Nicht nur das müssen wir uns überlegen, Mutter. Du hast etwas, das mir noch größeren Ärger bereiten könnte, wenn das überhaupt möglich ist.“

„Es ist an einem sicheren Ort. Vorerst“, betont sie. „Aber sag mir die Wahrheit, Miguel. Ich bin deine Mutter und liebe dich, weiß aber über so vieles immer noch nicht Bescheid. Bitte sag mir, was wirklich geschah.“

Miguel erzählt ihr alles, das er weiß, von dem Tag, als Helena Morales starb, wie er es für seinen Vater vertuschte, um sich zu revanchieren, dass er ihn bei dem Unfall mit Fahrerflucht geholfen hatte.

„Sind deine Fingerabdrücke auf dem Messer, Miguel? Können Sie dich auch für diesen Mord drankriegen?“

„Nein, nein. Ich schwöre. Ich selbst habe das Messer nie angefasst. Ich wickelte es in das Handtuch.“

„Und die Fingerabdrücke deines Vaters sind noch darauf. Du hast es all die Jahre aufgehoben, dass du ein Druckmittel gegen ihn hattest. Wozu?“

„Keine Ahnung. Schon dämlich. Ich wollte nur, dass er mich in Ruhe lässt mit seinem Gerede, ich solle auf dem Weingut arbeiten. Ich wollte, dass er aufhört, mir zu sagen, mein Beruf ist eines Ibarras unwürdig.“

Dumm und egoistisch, denkt Madalena. Wie der Vater, so der Sohn. Egoistisch, hinterhältig, amoralisch. Und nun fangen beide an, die Folgen ihrer grauenhaften Handlungen zu erkennen. Dennoch ist Miguel ihr Sohn und sie will ihm unbedingt helfen, wie sie auch Anabel immer helfen wollte. Sollte sie das Messer wegwerfen oder es, wie Miguel, als Druckmittel gegen Amador verwenden? Aber wie konnte sie das tun, ohne zu vermitteln, dass Miguel etwas ist, mit dem sie noch nicht abgeschlossen hatte.

„Miguel. Warum bist du überhaupt noch hier? Woher wusstest du, dass dein Vater in Helenas Landhaus war? Bist du ihm gefolgt?“

„Ja. Nicht zum ersten Mal. Ich wusste immer, er macht mit ihr rum. Es gab so viele Frauen. Aber das war schlimmer. Eine Frau auszunutzen, nachdem Anabel ihren Ehemann tötete. Wir krank das ist. Am meisten hasste ich, was er dir antat. An diesem Tag wollte ich ihn aufhalten, ihm sagen, dass er sie nicht mehr sehen könne. Ich kam nicht rechtzeitig. Und das werde ich für den Rest meines Lebens bereuen.“

* * *

„Was ist in Sie gefahren, Ms. Starr? Ich bat nur um ein paar geringfügige Änderungen am Entwurf und Sie nahmen mir den Kopf ab. Das ist doch sonst nicht Ihre Art. Und ich möchte nicht das Ventil für Ihre Verachtung werden, nicht nachdem ich Ihnen so viele Aufträge verschaffte.“

Normalerweise ist Anabel ruhig und selbstsicher, darauf bedacht, die Kunden zufrieden zu stellen, heute ist sie aber grob und offensiv und nimmt keine noch so kleine Kritik an ihrer Arbeit sanft auf.

„Nun, Ihre Verbesserungen, wie Sie es nennen, sind, gelinde gesagt, kitschig. Ich dürfte doch annehmen, Sie vertrauen meinem Urteil, nach all den erfolgreichen Kampagnen, die ich ins Leben rief.“

„Normalerweise schon. Hier aber sind Sie über das Ziel hinausgeschossen. Ich möchte nur ehrlich sein. Ich stelle kein Ultimatum, erwarte aber, dass Sie kooperieren.“ Beruhigen Sie sich und schlafen Sie eine Nacht darüber. Ich rufe Sie morgen früh an.“

Anabel schaut trotzig und zeigt keine Regung, als sie ihrer Klientin durch die Bürotür hinaus folgt. Sie ist verunsichert. Seit McMillans Tod ist sie es. Sie kann mit niemandem reden, niemand, mit dem sie ihre Gefühle teilen kann, die sie so quälen und bedrohen, dass sie fast den Verstand verliert. Und jetzt steckt Miguel, ihr verantwortungsloser Bruder, wieder in Schwierigkeiten, die ihrer Beziehung zu Marc in die Quere kommen.

Die große Zinn Vase ist das perfekte Gefäß. Sie zerknüllt den Zeitungsartikel und wirft ihn hinein. Dann nimmt sie aus ihrer Schreibtischschublade ein Feuerzeug, entzündet damit ein Räucherstäbchen und wirft es mit hinein. Die Flämmchen genügen, um sie zu beruhigen, sie wünschte sich aber, sie wären größer, groß genug, das Büro ab zu brennen. Zunächst sind es blaue und gelbe Stichflammen, die oben aus der Vase schießen, dann werden sie zu einem betörenden Duft nach Lavendel und Rosmarin, der in hellgrauen Schwaden emporsteigt. Besänftigend. Beruhigend.

Anabel sitzt im geblümten, bequemen Drehstuhl und sieht ihr Spiegelbild ein Dutzend Mal in den Spiegeln mit Goldrahmen, die alle vier Wände zieren. Sie hat das Gefühl, alles, was sie durch Fleiß und Ehrgeiz erreichte, entgleitet ihr. Sie nimmt das grüne Seidentuch von Hermès ab, denn sie erstickt, zumindest hat sie das Gefühl. Sie streicht sich ihre langen, braunen Haare aus dem Gesicht und steckt sie hoch. Sie will, dass eine kühle Brise durch die Fenster kommt, die sich aber nicht öffnen.

„Was ist das? Brennt da was?“ Marc kommt überraschend vorbei und steckt seinen Kopf ins Büro. Ein verbrannter Geruch schreckt ihn auf.

Erschrocken, aber überaus froh, ihn zu sehen, lässt sie ihr Haar sinnlich über ihre Schultern fallen. „Ach das. Nein, ich brannte nur etwas Weihrauch ab und mir fiel versehentlich Papier mit hinein. Schon gut. Das wird von selbst abbrennen.“

Marc und sie bewegen sich aufeinander zu und umarmen sich sanft. „Ich weiß, was in letzter Zeit geschah, hat dir sicher den Mut genommen.“ Er legt seine Hand auf ihr Gesicht und streicht ihr über das Haar. „Ich wollte nur nachsehen, wie es dir geht und dich zum Abendessen einladen.“ Er küsst sie sanft auf die Stirn.

„Ja. Ja. Das fände ich schön. Gehen wir an einen ruhigen Ort, wo ich nur deine Stimme höre.“

„Natürlich. Vielleicht sollten wir einfach Essen mitnehmen und dann wieder zu mir in die Wohnung gehen. Dort ist es sicher ruhig. Und wir können reden. Wir müssen reden.“ Marc zerreißt es innerlich, jedoch will er sich das nicht anmerken lassen, um ihretwillen. Noch immer ist sie die Frau, die er von Herzen und leidenschaftlich liebt. Nicht auszudenken, wenn er sie verlieren würde, trotz all des Trubels, den ihre Familie in sein Leben brachte.

Anabel möchte mehr, als nur reden. Sie möchte alles, was passiert, aus ihrem Gedächtnis tilgen. Es macht ihr große Angst, dass sie wieder anfing, Feuer zu entfachen. Die mögen zwar klein sein, könnten aber ihr Verlangen nach größeren, gefährlicheren, wecken. Beide müssen hier weg. Ja, so ist es. Sie müssen an den Ort, wo sie glücklich sind, die Luft rein, das Licht angenehm und wo sie ihre Seele baumeln lassen kann.

„Es wird schwer, weg zu kommen, aber ich glaube, ich brauche das auch, Anabel.“ Bevor das Unheil seinen Lauf nimmt.

Marcs Faible für die Coronado Ferry ist wie gemacht für einen romantischen Abend mit Anabel. Bevor die Coronado Bridge gebaut wurde, die San Diego mit Coronado Island verbindet, konnte man nur mit der Fähre direkt von einem Ort zum anderen. Es ist eine kurze Fahrt und dauert nur eine Viertelstunde, jedoch hat man einen atemberaubenden Blick auf die Küste San Diegos, die Seeluft weht einem um die Ohren und das Schiff schaukelt gemächlich. Die Fahrt über eine lange Brücke hingegen ist langweilig, oft langsam, es kommen einem mehr Autos entgegen, als einem lieb ist, oft gibt es Staus und gelegentlich macht noch ein Bungeespringer sein Seil fest.

Von der Anlegestelle der Fähre nehmen sie ein Taxi zum Hotel Del, einer märchenhaften Anlage, fernab der Realität. Der Mythos, dass dieses Hotel etwas Magisches umgibt, zieht jeden Besucher in seinen Bann.

„Zimmer 3327“, sagt Anabel zum Portier.

„Ach, die Kate-Morgan-Suite“, sagt er und identifiziert das meistverlangte Zimmer im Hotel. „Sie haben Glück, denn sie ist noch zu haben. Heute Abend wurde eine Buchung storniert, was so gut wie nie vorkommt.“

„Hat nicht in ihr diese Frau Selbstmord begangen?“, fragt Marc und strahlt leicht über das Gesicht, meint das fast schon scherzhaft.

Der Aufzugführer korrigiert: „Eigentlich beging sie auf der Treppe, die zum Strand führt, Selbstmord. Man munkelt, dass sie sich einer Liebesaffäre wegen, die in die Brüche ging, in den Kopf schoss.“

Der Legende nach wurde seit ihrem Tod, 1892, Kate Morgans Geist auch in zahlreichen Zimmern und Gängen des Hotels gesehen. In dieser Suite sahen Besucher flackernde Lichter, einen Fernseher, der sich von selbst ein- und ausschaltet, spürten Windstöße wie aus dem Nichts, rochen und hörten unerklärliche Dinge, Gegenstände bewegten sich von selbst, die Türen schlossen und öffneten sich wie von Geisterhand, die Temperatur im Raum änderte sich schlagartig und sie hörten auch Schritte und Stimmen.

„In dieses Zimmer wollte ich schon immer mal", jubelt Anabel, lässt sich auf das Bett fallen und macht darauf einen Schneeengel. „Mir gefällt die Legende von Kate Morgan. Ich hoffe, wir sehen sie. Sie war damenhaft, schön, zurückhaltend und gut gekleidet, aber vom Schicksal getroffen und sehr melancholisch.“

Marc legt sich vorsichtig auf Anabel und fragt: „Sucht sie je männliche Besucher heim?“

„Nein, ich glaube, sie hasst Männer. Deshalb brachte sie sich um, weil ihre große Liebe sie verließ.“

Marc legt sich auf den Rücken. „Ich bin froh, dass du Waffen hasst.“

Anabel stützt sich auf den Ellbogen und schaut ihm in die Augen. „Ich würde mich nie erschießen, wenn du mich verlässt, mein Geliebter. Ich würde vermutlich meinen Leib dem tiefen, blauen Meer übergeben.“

„Du kannst nicht schwimmen.“

„Eben darum. Und was würdest du tun, wenn ich dich verließe? Oder mit einem anderen Mann eine Affäre hätte? Oder aufhören würde, dich zu lieben?“

Er schließt sie in die Arme und sie schmiegt den Kopf an seine Brust. „Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, dass du nie einen Grund hast, mich zu verlassen, eine Affäre hast oder aufhörst, mich zu lieben.“

„Von jetzt an?“

„Von jetzt an.“

Nach und nach legen sie ihre Kleidung ab, liegen auf dem Boden, ihre Körper verschmelzen zu einem und sie verfallen in einen ekstatischen Rausch. Kate Morgan lässt ein laues Lüftchen zu ihnen wehen, sodass die Vorhänge flattern und das Paar ohne Zeugen ihrer Leidenschaft frönen kann.

Obwohl sie normalerweise stark ist und weiß, was sie will, hat Anabel Momente, in denen sie sich verletzlich fühlt und deshalb noch mehr zu Marc hingezogen fühlt. Heute Abend ist einer dieser Momente. Sie schläft unruhig und wimmert leise wie ein Kind, das Albträume hat. Das Wimmern nimmt zu, dann schreit sie auf. Marc rüttelt sie wach und fragt: „Was ist los?“

Sie schreit: „Ein Licht. Ein grelles Licht, eine Explosion...keine Ahnung, was es bedeutet.“

„Sch. Es war nur ein Traum. Du bist in Sicherheit.“ Er wickelt sie in die Decke, umarmt sie und lässt sie nicht mehr los. Er fragt sich, ob Kate Morgan sie heimsucht. Ist sie eifersüchtig, ein glückliches Paar in ihrem eigenen Bett vorzufinden?

„Verlass mich nie“, fleht Anabel. „Egal, was auch passiert. Versprochen?“

„Das werde ich nicht. Ich bin für dich da. Gehe nirgendwo hin.“

Marc tut es gut, ihr Beschützer zu sein. Warum hatte er seine Mutter nicht beschützen können?