Kapitel Neun­und­zwanzig

Marc nimmt die Schlüssel für die Cessna 172 Skyhawk, die ihm der Verwalter der Rollbahn gibt, dann geht er an Bord der behaglichen einmotorigen Maschine und steigt ein. Er wird immer schneller und hebt schließlich ab. Sie ist nicht so leistungsstark, wie die Cirrus SF50, denn die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 300 km/h, sie ist auch nicht so schlank, aber nostalgisch: In der Skyhawk lernte er das Fliegen und bis heute ist sie für angehende Piloten eine der liebsten Maschinen.

Normalerweise fliegt er nachts nicht. Die Sonne ist sein Nährstoff, der blaue Himmel sein Trost, der Horizont seine außerkörperliche Erfahrung. Aber der heutige Abend ist anders. Er könnte in die finstere Nacht über die Markierungslinie fliegen, wo das tiefblaue Wasser auf den schwarzen Himmel trifft, die Übersicht verlieren, dann die Kontrolle über das Flugzeug und abstürzen wie John Kennedy Jr. Wie leicht es doch wäre, den Steuerknüppel los zu lassen und das Flugzeug fliegen zu lassen, bis alles vorbei ist.

Niemand würde seinen Tod betrauern und es gäbe weder Lobeshymnen noch eine Zeremonie. Es würde ihn nicht im Geringsten stören. Heute Abend braucht er Geschwindigkeit und Kraft und den Lärm des Propellers, um seine Dämonen zu besiegen.

Das Recht hat ihn immer auf dem Boden gehalten, so romantisch in seinen Idealen, dass man einen Unschuldigen vor Gefängnis und Unterdrückung bewahren könnte. Aber was ist mit den Schuldigen? Anabel hat seinen Vater ermordet und behauptet, es war ein Unfall. Amador Ibarra hat seine Mutter ermordet und die Geschworenen konnten sich nicht einigen. An was für einem Rechtssystem ist er beteiligt? Seine Welt fällt zusammen.

Selbst in seiner Verachtung und seinem emotionalen Chaos versucht er wieder seine moralische Richtung als Pflichtverteidiger zu finden ..., dass jeder unschuldig ist bis zum Beweis des Gegenteils. Gibt es nicht Erlösung, selbst bei den abscheulichsten Verbrechen? Wenn der Täter so unbegreiflich krank wird und behandelt werden muss? Selbst wenn der Täter ein geliebter Mensch war, den man jetzt hasst? Selbst wenn die Opfer die eigenen Eltern sind? Sind die Umstände wirklich immer schwarz und weiß.

Vielleicht sollte er Staatsanwalt werden, seine Angst nochmals durchleben, wenn er die Bösewichte dingfest macht. Als Instrument fungieren, wo sie alle bekommen, was sie verdienen, und er, Marc, der Vollstrecker ist. Sein Freund Ben fasst den richtigen Gedanken.

In seinem jetzigen verrückten Zustand hört Marc ihre Stimme, eine die er nie mehr hören wird, die aber bleibenden Eindruck bei ihm hinterließ: „Du bist das Licht meines Lebens, Marcus. Ich könnte nicht überleben, wenn du nicht wärst. Ich bin so stolz auf dich. Eines Tages wirst du etwas Wichtiges und Bedeutendes mit deinem Leben anfangen, dass die Erde ein besserer Ort wird. Du wirst dein eigener Herr sein und deinen eigenen Weg gehen. Welchen Weg du auch immer einschlägst, tue es stets mit Güte im Herzen.“

Es beruhigt ihn, ihre Worte wieder zu hören und zu wissen, sie glaubt an ihn. Wie könnte er sie im Stich lassen? Wie ihre Güte und inspirierende Führung verraten?

Weder sein Vater noch seine Mutter erlebten, wie er die Schule beendete und an einer der renommiertesten Universitäten für Rechtswissenschaften sein Studium abschloss. Sie sahen nie, wie glücklich er war, als er sein Examen abschloss und wie stolz, als er vereidigt wurde.

„Ich bin Pflichtverteidiger, der Hüter der Unschuldsvermutung, dem Prozess und einer fairen Verhandlung verpflichtet. Auf dass keiner meiner Feinde jemals vergessen möge, dass ich meine Mandanten mit Leib und Seele verteidige. Keiner kann für sie sprechen, außer mir...“

Er fliegt noch höher, beschleunigt auf eine Geschwindigkeit von 225 km/h und hat jetzt etwa 2400 Meter Höhe. Er sieht die Navigations-lichter aufleuchten, deren Licht eine Flotte Segelboote erhellt und fliegt sehr langsam wie in Zeitlupe. Er atmet jetzt tief und kontrolliert. Er fliegt zum Flugplatz zurück und steuert das Flugzeug auf die Lichter der Landebahn zu, im Hangar wartet man bereits auf ihn. Die Räder berühren sanft, fast geräuschlos die Erde und das Flugzeug kommt ganz zum Stillstand.

„Welchen Weg du auch immer einschlägst, tue es stets mit Güte im Herzen.“

Ihm kommen die Tränen. Sie fließen langsam und stetig.

„Danke, Mutter, dass du mich an meine Pflichten erinnert hast und immer da warst, wenn ich dich brauchte. Es tut mir nur leid, dass ich nicht da war, als du mich gebraucht hast.“

Marc kann das tun, was er jahrelang tun wollte: abschließen. Er weiß jetzt, wer seine Mutter getötet hat und wie sein Vater wirklich starb, auch wenn ihm diese Erkenntnis das Herz brach. Niemand wird zur Verantwortung gezogen. Er wünschte sich fast, er hätte die Wahrheit nie gefunden. Er fühlt sich krank und verraten. Nirgends kann er hin mit seiner Wut, sondern sie nur unterdrücken, bis sie ihn verzehrt. Madalena flehte: „Du musst nur einmal vergeben, aber dein Groll bleibt auf ewig bestehen. Lass dies nicht dich selbst zerstören.“ Wie kann er einem anderen Menschen vergeben, wenn er sich selbst nicht vergeben kann. Der Mann mit der Narbe hat Spuren in seiner Vergangenheit hinterlassen, davon lässt er sich aber nicht seine Zukunft zerstören.

Durch einen Kartellanwalt lässt er sich ein Darlehen von einer Bank außerhalb der Stadt auszahlen, der dieselbe Höhe hat, wie der Fonds, der für sein Studium aufgenommen wurde. Diesen überweist er auf das Konto der Ibarras. Er kann keine Verbindung mehr, gleich welcher Art, zu den Ibarras, ihrem Anwesen, ihren Firmen oder ihren Geschäften haben. Er ist nun hoch verschuldet, wie jeder andere auch, der ein Studium gerade abgeschlossen hat. Es sind seine Schulden, es liegt in seiner Verantwortung und sie zurückzuzahlen ist sein Seelenheil.

Er reicht seinen Rücktritt bei der Pflichtverteidigerkammer ein. Er kann nun private Fälle annehmen und der Weg, den er im Leben einschlägt, ist getragen von seinen Werten. Er möchte seine Eltern stolz machen, dass sie endlich in Frieden ruhen können.

Clive Parsons hat er geholfen, ihn aus dem Gefängnis geholt, sichergestellt, dass er Unterstützung erhält, dass er außerhalb der Gefängnismauern ein neues Leben beginnen kann. Er weiß, Clive kann sich das jetzt leicht leisten, deshalb hat Marc für seinen Mandanten eine Woche in einer Luxussuite des Del Coronado gebucht. Zuerst wird er Clive auf einer Fahrt mit der Fähre begleiten, wo sie die Küste entlang in den Sonnenuntergang fahren, ihn dann in der Kate Morgan Suite einquartieren. Vielleicht wird ihn Kate Morgan besuchen und ihm den Schreck seines Lebens verpassen.

Marc nimmt einen Anruf vom Chef von CIP an, der seiner Karriere nutzen wird. „Ich habe noch einen Gerichtstermin, ehe ich unterschreiben kann“, informiert ihn Marc. „Ich rufe zurück, wenn das über die Bühne ist. Nein, es ist nur eine Vereinbarung.“

Er tritt durch die Doppeltür des vertrauten Gerichtssaals, wo sein Mentor und Freund, Richter Larimer, den Vorsitz hat, und betritt den Tisch der Verteidigung. Neben ihm steht seine Mandantin, die angeklagt ist wegen Brandstiftung und vorsätzlichen Mordes. Er kann sie nicht ansehen, seine frühere Geliebte und Verlobte, macht aber, was er geschworen hat.

„Marc Jordan, für die Verteidigung, Euer Ehren.“

„Ben Parker, für die Anklage.“

Ende