Diesmal wurde Christina auf den Rücksitz bugsiert, wieder leistete sie keinen Widerstand. Aus dem Autoradio kam leise Musik, Charts, seltsam belangloses Getöne, das so gar nicht in diese Nacht passen wollte. Auf dem Sitz neben Christina saß bereits Marietta, und sie sah zum Lachen aus: Ihr Haar war auf riesige Lockenwickler gedreht, es sah aus wie ein Hut aus Schaumrollen. Der übergroße Parka, den sie trug, täuschte nur schlecht über den lachsfarbenen Pyjama hinweg, welchen sie darunter anhatte, und vielleicht hatte sie bis eben auch noch Gurkenscheiben auf den Augen kleben gehabt. Marietta sagte kein Wort, sie blickte Christina nicht einmal an, sondern stur aus dem Fenster, als gäbe es dort irgendetwas anderes zu sehen als endloses Schwarz. Angelina war wieder eingestiegen, sie war herausgeputzt wie immer, hoher Pferdeschwanz und Hosenanzug. Eine wie sie schlief nicht und wenn doch, immer mit einem geöffneten Auge. Das Auto setzte sich holpernd in Bewegung, im Radio lief eine Schnulze, Angelina summte leise mit. So fuhr Angelina Bacio also zu ihren Verbrechen, mit einem Ed-Sheeran-Song auf den Lippen.
»Was weißt du?«, fragte Marietta plötzlich. Sie saß immer noch dem Fenster zugewandt und zeigte Christina nur den, durch die Lockenwickler monströs angewachsenen, Hinterkopf, Christina musste wieder an die Dornenkrone denken.
»Alles«, antwortete sie.
»Was genau ist ›alles‹?«, hakte Marietta nach, ihre Stimme drohte sich wieder zu überschlagen, aber noch konnte sie sich beherrschen, noch kündigte sich kein Ausbruch an.
»Du … ihr … ihr werdet Marcello ermorden«, antwortete Christina. Marietta nickte, die Schaumrollen wackelten.
»Was noch?«
Christina wusste nicht, wie viel sie verraten sollte, durfte, musste, ob es überhaupt noch eine Rolle spielte.
»Jordie ist nicht wirklich der Bruder von Elena und dir.«
Nun wandte Marietta ihr das Gesicht zu, auf ihren Wangen waren trotz schlechter Beleuchtung die hellen Spuren von noch nicht eingezogener Hautcreme zu erkennen.
»Was hat das damit zu tun?«, rief sie und ihre Stimme wurde schrill, als hätte Christina ihr gerade eine Beleidigung ins Gesicht gesagt. Angelina hatte aufgehört zu summen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Christina, sie stotterte ein wenig, »aber dein Vater, Onkel Tonio, also er glaubt, dass alles damit zu tun hat …«
Marietta ließ ein Lachen ertönen, das wie ein Kreischen klang und an Kettensägen erinnerte. Dass selbst Angelina erschrak, merkte man an dem kleinen Schlenker, den sie mit dem Lenkrad machte.
»Mein Vater glaubt immer, dass alles mit ihm zu tun haben muss«, sagte Marietta, nun wieder mit gefasster, kühler Stimme, »wenn man ihn fragen würde, würde er sagen, die Sonne ginge jeden Morgen nur seinetwegen auf.« Wieder lachte sie, diesmal aber ernsthaft amüsiert, als wäre Tonio tatsächlich eine höchst lächerliche Figur. Christina war das unangenehm, sie fand, dass Onkel Tonio, so viele Fehler er auch gemacht hatte, diesen Spott nicht verdient hatte.
»Er fühlt sich schuldig deswegen …«, versuchte sie ihn zu verteidigen, aber Marietta fiel ihr ins Wort: »Mein Vater erträgt es einfach nicht, nicht im Zentrum der Welt zu stehen. Was er Schuld nennt, ist in Wahrheit Macht. Er glaubt, es hätte in seiner Macht gestanden, den Lauf der Dinge zu ändern, mich zu ändern, und nur seine persönlichen Fehlentscheidungen haben ihn und uns hierhergeführt. Dabei ist das doch alles scheiße. Wir wissen alle, dass er Mama betrogen hat und Jordie ein unkonventionelles Kuckuckskind ist, der Mutter fälschlich untergeschoben. Na und? Hätte er es nicht getan, hätte Marcello trotzdem sterben müssen. Es liegt eben nicht alles in seiner Macht.«
Es begann bereits zu dämmern, bald würde die Sonne hervorsteigen, alles in ein unwirkliches Rosa tauchen und mit ihrem Strahlen den Hochzeitstag einläuten, wieder ein einwandfreier Sommertag, nicht die kleinste Trübung am Himmel.
»Er hat auch gesagt, dass er nicht weiß, was dir zugestoßen ist, weil er nie zugehört hat«, versuchte Christina es noch einmal, und als Marietta nicht darauf antwortete, sagte sie vorsichtig: »Aber ich weiß es. Ich weiß, was Coccodrillo getan hat.«
Christina hatte eine große Reaktion erwartet. Ihr Geblödel am Polterabend, die dumme Ballett-Parodie, hatte Marietta schon zur Explosion gebracht, um wie viel schlimmer musste es sein, Coccodrillos Namen zu nennen, und hätte Christina nicht an einer gewissen Lebensmüdigkeit gelitten, hätte sie es bestimmt nicht gewagt. Marietta blieb jedoch ruhig, sie starrte wieder aus dem Fenster und schwieg. Stattdessen drang nun Angelinas Stimme nach hinten: »Dafür hat sie mich ursprünglich ja auch engagiert. Coccodrillo ermorden, den großen, notgeilen Tänzer, der sich an den kleinen Mädchen in den engen Kostümen vergreift. So etwas ist nämlich sozusagen mein Kerngeschäft. Ich schneide den Schweinen die Eier ab. Manchmal auch nur metaphorisch, aber auf jeden Fall sind sie hinterher tot.«
»Sie ist ein moderner Robin Hood«, murmelte Marietta gegen die Glasscheibe, »sie gibt den Schwachen und nimmt den Präpotenten, nicht wahr, Angelina?«
»Ich lebe schon lange genug auf dieser Welt, um erkannt zu haben, dass Verwarnungen, Geldstrafen, Gerichtsbeschlüsse einen Dreck wert sind. So lange man junge Frauen vor dunklen Gassen warnt, werden Männer wie Könige durch die Straßen marschieren und sich nehmen, was sie wollen. Ich sorge nur für Gerechtigkeit und verbreite ein wenig Angst unter jenen Herren, die das Gefühl bis dahin nicht kannten«, erklärte Angelina.
»Blanca und ich haben schon lange etwas ausrichten wollen gegen den, der unsere Jugend zerstört hat, unser halbes Leben. Ich habe mit dem Tanzen aufgehört, mit der Schule, beinahe mit dem Atmen, lag auf meinem Bett und habe die Zimmerdecke angestarrt, während andere auf Partys gingen und erste Dates hatten und herumknutschten. Mir hingegen wurde schon beim Gedanken daran schlecht, sofort spürte ich die Krokodilzunge in meinem Mund und die knorrigen Hände an meinem Hintern. Am schlimmsten aber war das Tanzen, dieses Winden und Drehen der Körper, ich konnte es nicht einmal mehr im Fernsehen ertragen und kann es bis heute nicht. So ist mein Leben einfach, habe ich gedacht, grau und ekelhaft, bis ich mir eines Tages eine ganze Packung Schlaftabletten einverleibe oder den Kopf ins Backrohr stecke. Aber dann stößt Blanca im Internet auf diese Angelina Bacio und schafft es, ihre Spur aufzunehmen. Dann war die Sache klar.«
Marietta blies laut hörbar die Luft aus, als würde sie den Lauf einer Waffe kühlen, dann lächelte sie Christina an, aber ihr Lächeln sah traurig und, vor allem, unendlich müde aus. Jetzt, da die Sonne sich endgültig im Aufgehen befand und die ersten Strahlen durch die staubigen Fensterscheiben drangen, waren die Augenringe gut zu erkennen, und ihr Gesicht schien über und über mit einem Netz aus feinen Falten überzogen zu sein. Dabei war sie doch noch nicht einmal über dreißig.
»Und dann?«, fragte Christina.
Da Marietta keine Anstalten machte, weiterzusprechen, übernahm wieder Angelina das Erklären: »Sie haben Kontakt mit mir aufgenommen, und wie gesagt, solche Fälle sind mein Kerngeschäft, keine große Sache. Zuallererst musste ich ihn allerdings ausfindig machen. Sein Ballettstudio, das Marietta und Blanca besucht hatten, gab es schon lange nicht mehr, und niemand schien zu wissen, wohin es das Schweinskrokodil verschlagen hat.«
»Wir haben es uns ausgemalt«, unterbrach Marietta abermals und es wirkte, als hätte sie gar nicht wirklich zugehört, sondern würde einfach nur ihren eigenen, abgerissenen Erzählfaden wieder aufnehmen: »Blanca und ich, in bunten Farben! Ich, ja, ich habe nach den grauen Jahren wieder bunte Farben gesehen! Wir sahen Coccodrillo blutüberströmt alle Stationen des Infernos abgrasen, sahen ihn gekocht, gegrillt, im Höllensturm der Wolllüstigen zerrissen. Blanca und ich lagen nebeneinander auf dem Bett, hielten uns an den Händen und kicherten, wie wir es als kleine Mädchen getan hatten und dann lange nicht mehr. Wir schritten durch die Weingärten und schilderten einander, wie Angelina sich jetzt in diesem Moment über ihn beugte und das Messer ansetzte, aber nicht am Hals, den schnellen Tod eines Holofernes verdiente er nicht, und das Blut spritzte in herrlichstem Dunkelrot! Es kam ein Leben in mich, wie ich es gar nicht mehr kannte, und wenn Blanca nicht bei mir war, musste ich mich anderweitig beschäftigen, so quirlig war ich geworden. Ich las wieder Bücher und manchmal, wenn ich gar nicht mehr stillsitzen konnte, putzte ich das Haus. Ja, wirklich, ich schloss mich unseren Angestellten an und schrubbte Fenster im Akkord. Das war für mich der beste Sport und ich begann, mir wieder eine Zukunft auszudenken, vielleicht, dachte ich, könnte man auch aus dem Schrubben eine Karriere machen, eine Reinigungsfirma gründen oder Ähnliches, zuerst aber wollte ich vor allem eines: putzen, putzen, putzen, alles wieder sauber machen, so sauber, wie es vor Langem einmal gewesen war. Bald war mir die Villa nicht mehr genug, ich wollte hinauskommen, endlich wieder neue Menschen treffen, und so bewarb ich mich als Reinigungskraft bei der Bank. Dort habe ich Marcello kennengelernt.«
Die Radiomusik, Christina hatte sie kaum noch wahrgenommen, wich einem sphärischen Rauschen, die magische Grenze war überschritten, der Esposito’sche Einflussbereich wieder erreicht. Angelina schaltete das Radio aus, dann erklärte sie: »Coccodrillo war aus gutem Grund nirgendwo zu finden: Er war tot, seit vielen Jahren schon. Ein ›natürlicher‹ Tod, wie man so schön sagt, Hodenkrebs. Wenigstens das. So hat er seine Eier doch noch verloren.«
»Aber ohne Grund!«, kreischte Marietta. Ganz plötzlich war ihre Stimmung wieder gekippt, sie malträtierte mit den Fäusten ihre eigenen Oberschenkel, die Lockenwickler wackelten bedrohlich auf ihrem Haupt. »Er hat nie die Angst gespürt vor dem Mädchen, das er so bedenkenlos abgegriffen hatte wie Spielzeug, bis es alt und kaputt war! Kein Schicksalsschlag, sondern die menschengemachte Strafe seiner Mädchen hätte ihn treffen sollen, so wäre es gerecht gewesen, nur so!« Ihre Stimme war schrill, überschlug sich mehrere Male wie bei einem stimmbrüchigen Jüngling und Angelina drosselte instinktiv das Tempo. Unberechenbares war nun zu erwarten, ein unbedachter Schlag hätte auch die Fahrerin treffen können. Aber Marietta fasste sich diesmal schnell, sie hörte sofort auf zu schreien und, statt mit den Fäusten zu hämmern, strich sie sich die Pyjamahose glatt. Dann zog sie den Parka enger, schien ganz verschwinden zu wollen in seinem camouflagegrünen Stoff. Ihr Gesicht hatte einen so entspannten Ausdruck angenommen, wie Christina ihn an ihr noch überhaupt nie gesehen hatte, und jetzt erst fiel ihr auf, wie nervös Marietta eigentlich immer wirkte, sogar, wenn sie scheinbar ruhig war, sich amüsierte, wenn sie lachte. Es war gar nicht ihre Schönheit, die alle Blicke auf sich zog, sondern die ständige Spannung des Körpers, die Intensität ihrer Erscheinung, die man deutlich spüren konnte, sobald sie einen Raum betrat.
»Ein zweites Mal wäre meine Welt beinahe auseinandergebröckelt«, sagte Marietta, und auch ihre Stimme hatte jede Spannung verloren, lasch kamen die Worte über ihre Lippen: »Aber dann habe ich zu Marcello gefunden. Aus reinem Zufall bin ich hinzugestoßen, als er einer jungen Muslimin den Arsch tätschelte, während sie sich nach seinem überfüllten Papierkorb bückte. Sie sagte nichts, ich sagte nichts, er lachte. Dabei schien sie ihm nicht einmal besonders zu gefallen, er tat es, weil er es konnte, weil er ihr und mir zeigen wollte, dass er es konnte. Und hinterher räumte sie seinen Müll weg. Von da an ließ ich mir meinen Dienstplan immer so gestalten, dass ich allein für Marcellos Büro verantwortlich war, und dass die anderen Frauen da nichts dagegen hatten, erklärt sich von selbst. Wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, setzte ich mich mit Blanca und Angelina, später auch mit Elena, die sich in der beschissenen Modewelt ihre ganz eigenen Wunden zugezogen hatte, zusammen auf einen Espresso in den kleinen Salon und wir malten uns aus, wie wir Marcello den Garaus machen.«
»Es sollte etwas ganz Spezielles werden«, mischte Angelina sich ein, »ich würde beinahe sagen: ein Kunstwerk. Etwas, dessen Strahlkraft weit über die üblichen Grenzen der Betroffenheit hinausgeht. Ein Mord, den man in den Uffizien ausstellen könnte, so beispielhaft sollte er sein. Wir haben viel recherchiert, zahlreiche Brainstorming-Sitzungen veranstaltet und so kamen wir irgendwann auf die Hochzeit und die Säure.«
»Zwei Dinge, mit denen Männer von jeher das Leben von uns Frauen versaut haben, auf einmal auf ihn angewendet«, erklärte Marietta mit bitterem Lächeln, »und es wird ein paar grausige Bilder geben, bis sein Körper vollständig aufgelöst und von der Erde getilgt ist. Ein großer Spaß und eine große Warnung. Aber dann ist uns Blanca in die Quere gekommen.«
In Mariettas Stimme war keine Veränderung zu hören. Immer noch saß sie vollständig entspannt in ihrem Parkazelt, die Arme hatte sie bereits aus den Ärmeln und an die Brust herangezogen, nur der riesige Kopf blickte noch oben heraus. Blancas Name schien keinerlei Reue in ihr zu erzeugen, nicht einmal Wehmut. Angelina hingegen klang, wenn schon nicht reumütig, so doch zumindest defensiv, verständnisheischend: »Was hätte ich denn machen sollen? Die Vorbereitungen waren in vollem Gange, alles war gefährdet, alles! Wir haben ja versucht, vernünftig mit ihr zu reden, aber da war nichts zu machen, sie wollte unbedingt aussteigen und außerdem zur Polizei! Also musste Marietta ein Machtwort sprechen. Aber ich habe Blanca zuerst erschossen und dann erst, weil es sich eben anbot, die Säuren an ihr ausprobiert, gestorben ist sie ganz schnell und schmerzlos, das schwöre ich.«
Angelina schwieg einen Moment lang, schien sich wieder ganz aufs Fahren zu konzentrieren und auch Marietta sagte nichts. Blanca tot im Bach, vom Wasser schon leicht aufgedunsen, das Gesicht so entstellt, dass nicht einmal Jordie, der sie von Kindheit an kannte, sie hatte identifizieren können. Christina sehnte sich zurück nach der Zeit, als sie noch nichts gewusst hatte und Jordie sie noch nicht hasste, sie im Auto und am Wasser herumalberten und sie glaubte, das Beste, was ihr jetzt passieren könnte, wäre David zu vergessen. Aber da war nichts zu machen, jetzt waren sie alle wieder in ihrem Kopf: Blanca, die Verräterin, Miri, die Verräterin, Coccodrillo, der Mädchenschänder, Marcello, der Frauenverachter, und Marietta, die Rächerin, sie alle tanzten einen wilden Reigen, Christina kam unter ihre Füße und wurde zertreten wie Emily Davison. Diesmal aber sagte sie nicht, dass sie mit all dem nichts zu tun haben wollte, diesmal klammerte sie sich nicht an das Rufzeichen. Es wäre auch nicht mehr ehrlich gewesen. Denn irgendetwas an der ganzen Geschichte betraf sie ganz persönlich, das spürte Christina, auch wenn sie nicht sagen konnte, was genau es war.
»Woher wusstet ihr, dass Blanca zur Polizei gehen wollte?«
»Marcello hat angerufen und es uns gesagt. So wie jetzt auch. Wie, glaubst du, sind wir sonst auf dich gestoßen?«
»Marcello benutzt euch.«
»Ich weiß«, sagte Marietta, »und wir ihn.«
Der Weg wurde kurvig, sie fuhren nun die breiten Serpentinen den Hügel hinauf, am Straßenrand reckten sich Mohnblumen dem Morgenlicht entgegen und sogar das Monstrum von Villa wirkte von der Ferne zumindest ein wenig pittoresk.
»Er will die Fotos seiner Ermordung veröffentlichen lassen«, erklärte Christina.
»Das wollen wir auch«, antwortete Marietta. Christina wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Plötzlich überkam sie wieder die alte Müdigkeit: Schlaf, ewiger Schlaf, warum nicht? Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe.
»Er will den Leuten Angst machen und wir wollen den Leuten Angst machen«, sprach Marietta weiter. »Er glaubt, dass Angst Hass erzeugt, dass man die von ihm gefürchteten Frauen schließlich aus Hass vertreiben und vernichten wird. Dabei ist das alles Blödsinn. Angst erzeugt keinen Hass, sondern Respekt. Solange ich Coccodrillo fürchtete, habe ich ihn respektiert. Kein Wort habe ich gesagt, weder zu den Eltern noch zu sonst wem, und erst als die Angst gewichen war, konnte ich ihn hassen. Man wird uns fürchten und man wird uns respektieren. Nie mehr wird jemand ein Mädchen oder eine Frau anfassen gegen ihren Willen, weil ihm sofort die Bilder einfallen werden, von dem von der Säure zerstörten Körper und von Marcellos schmerzverzerrtem Gesicht. Die Männer werden endlich wissen, was ihnen blüht.« Marietta strahlte. Das Faltennetz war aus ihrem Gesicht verschwunden, die Haut spannte sich glänzend über ihre Wangenknochen und ihre Augen leuchteten in reinstem Himmelblau, der Farbe der Madonna. Anders als Elena blieb Angelina nicht einfach irgendwo stehen, sondern kutschierte ihre Mitfahrerinnen direkt zum Eingang und hielt genau vor der Tür, als handle es sich um einen Notarzteinsatz. Kurz dachte Christina an Onkel Tonio und wo er sich wohl im Augenblick gerade befand, aber er begann bereits in ihrer Erinnerung zu verblassen. Er hatte, im Gegensatz zu ihr, tatsächlich nichts mehr mit all dem zu tun.
»Aber wie hängt Ada da mit drin?« Eine letzte Frage, die Christina stellen konnte, Antwort erhielt sie keine mehr, denn die Haustür wurde geöffnet und Ada selbst trat heraus, sie trug Hausschlapfen, einen bunten Morgenmantel und in den Händen den Hörer eines Schnurlostelefons. Marietta und Angelina stiegen aus, Christina tat es ihnen gleich.
Anstatt einer Begrüßung sagte Ada nur: »Es ist Anne«, und hielt Christina den Hörer hin, »sie will mit dir sprechen.«