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»Ich glaub fast, Rosi hat mir dasselbe Grillbesteck zu Weihnachten geschenkt.« Ein kerniges Raucherhusten war Hauptkommissar Harald Benders Satz vorangegangen und folgte nochmals, als er geendet hatte.

»Das gleiche«, murmelte Klara. Dabei sah sie auf den leblosen Körper des Mannes vor ihr.

»Wat?«, fragte Harald in seinem ortstypischen Dialekt.

»Das gleiche Grillbesteck. Wenn es dasselbe wäre, hättest du ein Problem.«

»Ah geh fott, Klara, jetzt werd mal net kleinkariert. Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

Die kleinkarierte »Favorit«-Laus, dachte Klara und schwieg.

Als sie heute morgen gegen acht Uhr dreißig ins Büro gekommen war, hatte Sebastian sie mit einem warmen Lächeln begrüßt und ihr kurz darauf einen Kaffee auf den Schreibtisch gestellt.

»Es ist alles okay«, hatte er dicht an ihrem Ohr geflüstert, aber für Klara war die Sache nicht so einfach okay.

Dann war zwei Stunden später der Anruf gekommen, und die Welt war seitdem noch ein Stück weniger in Ordnung. Ein Mann lag ermordet in seiner Wohnung in der Heidelberger Bahnstadt, jenem angesagten, frisch aus dem Boden gestampften Stadtteil, für dessen teure Wohnungen man sich auf Wartelisten eintragen musste. Ein Quartier, das boomte und aufstrebte – und nun sein erstes Mordopfer hatte.

Klara war mit Sebastian und ihrem älteren Kollegen Harald Bender zum Fundort geeilt. Es war nur ein kurzer Weg vom Revier in der Römerstraße bis dorthin.

Die Wohnung des Getöteten lag im ersten Stock eines der besonders begehrten Gebäude an den Pfaffengrunder Feldern, vierstöckige, modern gestaltete Passivhäuser. Die vormittägliche heile Bahnstadt-Welt war bereits durch ein Aufgebot an Einsatzfahrzeugen gestört worden, die dort hielten, wo striktes Halteverbot galt.

Die Ehefrau des Toten hatte ihren Mann auf dem Bauch liegend in der gemeinsamen Wohnung gefunden. Klara und Sebastian waren kurz nach dem Notarzt eingetroffen, der die leichenblasse Frau gerade aus dem Wohnbereich in ein anderes Zimmer führte.

Klara betrachtete wieder den sportlichen Körper des Toten. An seinem Hinterkopf zeichnete sich eine blutende Wunde ab, vermutlich war sie durch einen stumpfen Gegenstand zugefügt worden. Der Kopf war nach links gedreht, sodass man das immer noch attraktive Gesicht des Mannes erkennen konnte. Die Lider waren geschlossen, das volle dunkle Haar leicht gewellt. Die Kleidung war klassisch-leger, aus der Kategorie »Damit sind Sie immer gut angezogen«: Lederslipper, ockerfarbene Chinohose, grauer Kaschmirpullover. Der tellergroße, dunkelrote Blutfleck am Rücken ruinierte allerdings das Outfit.

»Morgen.« Klara vernahm eine ihr gut bekannte tiefe Altstimme. Es war die von Professor Monika Hansen, der Leiterin der Heidelberger Rechtsmedizin. Hinter der großen, schlanken Frau folgten die Kollegen der Spurensicherung.

»Wen haben wir denn da?«, fragte Monika Hansen und betrachtete den Toten.

»Hallo, Monika. Der Mann heißt Thoralf Kaiser, zweiundvierzig Jahre, seine Frau Melanie hat ihn gefunden«, gab Sebastian einen kurzen Bericht. »Sie war mit dem gemeinsamen Sohn Ruben übers Wochenende bei ihren Eltern in Karlsruhe gewesen.«

Als hätte er zugehört, setzte aus einem Nachbarraum das laute Weinen des etwa sechsmonatigen pausbackigen Säuglings ein.

»Was hat der Mann da im Rücken?«, fragte Monika Hansen. »Ist das ein Grillbesteck?«

»Sieht so aus, Messer und Gabel«, antwortete Harald trocken. »Manche grillen ja auch im Winter.« Er wandte sein von zu vielen Zigaretten fahl gewordenes Gesicht zum Balkon. Dort standen ein ziemlich neuer Barbecuegrill und teure Loungemöbel – auf den wenigen Quadratmetern ließen sich mühelos mehrere tausend Euro unterbringen.

»Okay«, meinte Monika Hansen und nickte den Männern von der Spurensicherung zu. »Ihr zuerst.«

Die Kollegen machten sich an die Arbeit.

In dem Wohnbereich war es sehr hell, die Januarsonne fiel durch die großen Fenster. Sie gaben freien Ausblick auf die lange, schnurgerade Promenade vor dem Haus und die dahinterliegenden Pfaffengrunder Felder.

Die Einrichtung der Kaisers war geschmackvoll. Ein hellgraues Designersofa, weiße Regale, ein großer Esstisch aus dunklem Holz mit modernen Stühlen aus Plexiglas und Stahl. Etwa in der Mitte der Tischplatte lag ein Handy, das gerade von einem Kriminaltechniker in einen Plastikbeutel befördert wurde.

In einer Ecke neben dem Sofa befanden sich ein paar Spielsachen, unweit des Kopfes von Thoralf Kaiser lächelte ein kleiner Plüschhund vor sich hin.

Mit ihrer Tochter Josephine war Klara ein paarmal auf dem sogenannten Feuerwehrspielplatz neben der Schwetzinger Terrasse hier in der Bahnstadt gewesen. Sie hatte sich das Treiben der jungen, wohlhabenden Familien angesehen und sich gefragt, wie der Stadtteil wohl in fünfzehn Jahren aussah. Scheidungsrate über dreißig Prozent. Wegzug, Aufgabe der schicken Eigentumswohnung, aus einem Haushalt mach zwei. Klara war es wie eine große Blase vorgekommen und gleichzeitig wie ein Gewinnspiel. Hundertfaches trautes Heim gegen die Statistik. Die Statistik gewann immer.

»Da dran sind Blutanhaftungen.« Die Stimme eines Kollegen von der Kriminaltechnik riss Klara aus ihren Gedanken. Er hielt einen durchsichtigen Beutel hoch, in dem sich eine massive Pfeffermühle aus hellem Granit oder Marmor befand. »Die stand drüben auf der Anrichte in der Küche.«

Monika Hansen sah sich das Fundstück an. »Könnte zu der Kopfwunde passen.« Sie ging vorsichtig neben dem Toten in die Hocke, strich ein paar Haarsträhnen von der blutigen Stelle weg und nickte nach ein paar Sekunden. »Schauen wir weiter«, sagte sie und nahm mit einem Thermometer zunächst die Körpertemperatur. Anschließend begann sie, Thoralf Kaiser zu untersuchen.

»Rigor mortis ausgeprägt. In Anbetracht der Kerntemperatur würde ich sagen, der Mann ist seit etwa zehn bis zwölf Stunden tot, also seit gestern Abend beziehungsweise Nacht.«

Klara erinnerte sich, dass sie an einen britischen Adligen gedacht hatte, als sie vor vielen Jahren zum ersten Mal die lateinische Bezeichnung für die Totenstarre hörte. Dass der Sachverhalt mit englischer Noblesse wenig zu tun hat, war ihr jedoch schnell klar geworden.

»Die anderen Tatwerkzeuge müsst ihr ja auch nicht lang suchen«, bemerkte Monika Hansen lapidar und zog das lange scharfe Grillmesser aus dem Leichnam heraus. »Voilà.« Vorsichtig ließ sie es in einen Plastikbeutel gleiten und verfuhr anschließend mit der Gabel ebenso.

»Ich sach’s jo«, grummelte Harald. »Genau desselbe Besteck.«

Klara deutete ein Kopfschütteln an. Aber eigentlich hatte sie sich längst an Haralds abgeklärte, bärbeißige Art gewöhnt. Seit dreißig Jahren fluchte er sich, »Arsch, Sack«, durch die Ermittlungsarbeit, doch sein Instinkt und seine Routine gehörten zum Besten, was die Heidelberger Polizei vorzuweisen hatte.

»Die Analyse der Kopfwunde und der Stichkanäle inklusive der ungefähren Körpergröße und Händigkeit des Täters gebe ich euch später durch«, sagte Monika Hansen. »Die toxikologische Auswertung von Blut- und Gewebeproben dauert wie gewohnt etwas länger.«

»In Ordnung«, antwortete Klara. Immer noch drang das Weinen des kleinen Jungen in ihre Ohren und zerrte an ihren Nerven – es war eines der wenigen Geräusche, die sie kaum ertragen konnte.

»Kann sich mal jemand um das Kind kümmern?«, fragte sie. Fast gleichzeitig erntete sie Blicke von Harald, Sebastian und Monika, die alle zu fragen schienen: Wer ist denn hier Mutter?

Hörbar blies Klara Luft aus, zögerte noch einen Moment und ging dann, immer dem Geschrei nach, in das benachbarte Kinderzimmer.

Die Sonnenstrahlen fielen durch die halb heruntergelassenen Jalousien und malten Muster auf die hellblau gestrichenen Wände. In einem Babybett saß der blonde Junge mit einem vom Weinen rot angelaufenen Gesicht. Er klammerte seine Händchen um die Gitterstäbe. Als Klara sich lächelnd zu ihm hinunterbeugte, streckte er ihr seine Arme entgegen. Klara hob ihn hoch.

»Ist ja gut«, sagte sie sanft. »Nicht weinen.« Mit dem sonderbaren Gefühl, das die Nähe zu einem fremden Kind manchmal mit sich bringt, schaukelte sie ihn ein wenig hin und her und versuchte, ihn zu trösten.

Auf einmal tat es Klara unendlich leid, dass dieser Junge ohne seinen Vater aufwachsen musste, dass er ihn nie kennenlernen konnte. Dabei hatte der Kleine keine Ahnung, wie sehr dieser Tag heute sein Leben veränderte. Eine Familie war zerstört worden, durch die Willkür eines anderen. Vor Klaras geistigem Auge erschien ein blasser, zurückhaltender Schulbub, der sich immer sehnte und nichts lieber wollte als Vater und Mutter.

»Ich glaube, ich kann ihn jetzt nehmen«, sagte eine leise Stimme hinter Klara. Sie drehte sich um. Melanie Kaiser stand am Türrahmen.

Die große, etwas füllige Frau war immer noch kalkweiß, die Augen waren gerötet. Der Kleine reckte die Arme nach seiner Mutter, und etwas in Klara war froh, ihn abgeben zu können.

»Es tut mir wirklich sehr leid, Frau Kaiser. Ich kann Ihnen versprechen, dass wir alles tun werden, um das Verbrechen aufzuklären.«

»Danke«, murmelte die Frau. »Aber davon wird Thoralf auch nicht mehr lebendig.«

»Nein, leider nicht.« Klara beobachtete Melanie Kaiser, die apart war, aber gerade starr und leblos wirkte. Fast mechanisch streichelte ihre Hand über das Haar ihres Sohnes, der immer noch weinte.

»Frau Kaiser, Sie waren über das Wochenende bei Ihren Eltern?«, fragte Klara.

»Ja.«

»Heute Vormittag haben Sie Ihren Mann bei Ihrer Rückkehr so vorgefunden und seitdem nichts in der Wohnung verändert?«

Melanie Kaiser nickte stumm und knöpfte mit abwesendem Ausdruck die oberen Knöpfe ihrer rosafarbenen Bluse auf. Dann hielt sie inne. »Ich darf Ruben ja gar nicht stillen, hat der Arzt gesagt«, nuschelte sie, ihre Aussprache war verwaschen. »Das Beruhigungsmittel.« Ein ratloser Blick ging an Klara. »Was mache ich denn jetzt?«

Der Junge steigerte sich in der Lautstärke.

»Schnuller?«, fragte Klara.

»Bekommt er nicht.«

»Fläschchen mit Tee?«

»Wie?«

»Tee. Etwas trinken.«

»Hm.« Verloren sah Melanie Kaiser Klara an.

Der Arzt hat das Sedativum ordentlich dosiert, dachte die und überlegte, ob es derzeit viel Sinn machte, Melanie Kaiser zu befragen. Aber es kam auf einen Versuch an.

Im Eingangsbereich der Wohnung hatte Klara eine abgestellte Wickeltasche gesehen. Sie verließ das Kinderzimmer und kam kurz darauf mit einer noch halb vollen Trinkflasche wieder, die in einem Seitenfach der Tasche gesteckt hatte.

»Versuchen Sie es.« Klara reichte die Flasche Melanie Kaiser, die sie ihrem Sohn anbot. Der drehte sich weg und schrie noch lauter.

Dann muss es so gehen, dachte Klara. Sie wollte nicht darauf verzichten, einige Fragen zu stellen.

»Frau Kaiser, ist Ihnen in der letzten Zeit irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Verhielt sich Ihr Mann anders, oder gab es Konflikte, zum Beispiel im Job?«

»Nicht dass ich wüsste.« Unbeholfen setzte sich Melanie Kaiser auf einen Korbsessel neben der Tür und begann, ihren Sohn vor- und zurückzuschaukeln. Die Bewegungen waren abgehackt, doch nach ein paar Sekunden hörte der Junge auf zu weinen, vermutlich eher aus Erstaunen als aus Wohlgefühl.

»Thoralf und ich waren sehr glücklich mit Ruben«, kam es schleppend aus dem Mund der Frau.

Klara nickte.

»Wir wünschten uns noch ein Kind.«

Einen zweiten Wonneproppen konnte sich Klara problemlos in dieser Umgebung vorstellen. »Verstehe«, sagte sie. »Und im Beruf? Gab es da Probleme? Was arbeitete Ihr Mann?«

»Thoralf war Anwalt in einer größeren Kanzlei in Mannheim. Er verstand sich gut mit allen Kollegen.« Für einen Moment schloss Melanie Kaiser die Augen, wie um sich zu sammeln. »Ich habe in einer großen Softwarefirma hier in der Nähe gearbeitet«, fuhr sie langsam fort. »Bis Ruben kam. Da wollte ich mich erst einmal ein Jahr lang ganz um den Kleinen kümmern.«

»Ja, sicher«, erwiderte Klara in verständnisvollem Ton. Melanie Kaisers Aussprache war zunehmend undeutlich geworden. Doch eine Frage wollte Klara noch stellen. »Frau Kaiser, der Täter oder die Täterin war in Ihrer Wohnung. Einbruchspuren fanden sich nicht, das heißt, Ihr Mann hat ihn oder sie wahrscheinlich hineingelassen.«

Verständnislos sah Melanie Kaiser drein. »Wie? Was soll das bedeuten?«

»Das frage ich Sie. Denken Sie bitte einmal nach. Gibt es irgendjemanden in Ihrem Bekanntenkreis, dem Sie so eine schreckliche Tat zutrauen würden?«

Einige Sekunden lang schwieg Melanie Kaiser, die ruckartig schaukelnde Bewegung ihrer Arme hörte auf. »Nein. Natürlich nicht. Wir kennen doch keine … Mörder.«

Ja, dachte Klara, das glauben die meisten, und doch ist es mitunter anders.

Aus dem Flur drang eine laute Stimme in Berliner Dialekt zu ihr. »Kiek ma, da vorn umme Ecke rum.«

Unwillkürlich räusperte sich Klara. Die Bestatter. Sie erkannte den Ton des Mannes, die Berliner Schnauze passte zu Taxifahrern und Bulettenverkäufern. In ein paar Minuten trat Thoralf Kaiser in einem Zinksarg seine Reise in die Rechtsmedizin an. Wenn möglich, sollte seiner Ehefrau der Anblick erspart bleiben.

Im Flur gab es einen lauten Rums. »Mensch, du Dussel, hasde keene Augen im Kopp, du musst die Kiste anheben

Klara atmete tief ein. »Frau Kaiser, haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert, um Sie und das Kind? Sie können nicht allein hierbleiben.«

»Ich möchte zu meinen Eltern zurückfahren«, flüsterte Melanie Kaiser.

»Sie können jetzt kein Auto fahren. Gibt es eine Freundin, die Sie anrufen könnten?«

»Hm …« Angestrengt kniff Melanie Kaiser die Brauen zusammen. »Wir sind seit einer Weile mit einem anderen Ehepaar aus der Bahnstadt befreundet. Tina arbeitet von zu Hause aus, ich könnte sie anrufen.«

»Dann tun Sie das bitte. Oder geben Sie mir die Nummer, und ich erledige das.«

Stumm nickte Melanie Kaiser und zog ein Handy aus ihrer Hosentasche. »Tina Hausmann. Die PIN zum Entsperren des Telefons ist null sechs null sechs.« Ein Schluchzen entfuhr ihr. »Unser Hochzeitstag.«

Eigentlich ein blödes Datum zum Heiraten, dachte Klara, gab die Zahlenfolge ein und suchte im Kontaktverzeichnis Tina Hausmanns Nummer. Dann wählte sie und trat aus dem Kinderzimmer hinaus in den Flur, in dem etliche gerahmte Babyfotos hingen. Die Bestatter waren mittlerweile im Wohnzimmer angekommen.

Nach dreimaligem Klingelton meldete sich eine Frauenstimme. »Hallo, Melanie, wie geht’s?«

»Frau Hausmann?«, fragte Klara.

»Ja?«

»Hier ist Klara Haag, Kripo Heidelberg. Ich rufe im Namen von Frau Kaiser an und würde Sie bitten, zu ihr zu kommen, sofern es Ihnen möglich ist.«

»Kripo? Ist etwas passiert?« Die Stimme klang erschrocken.

»Ja, Frau Kaiser braucht jemanden, der sich um sie und ihren Sohn kümmert. Ansonsten müsste sie der Arzt in die Klinik mitnehmen.«

»Klinik? Was ist denn los?«

»Frau Hausmann, das erkläre ich Ihnen ungern am Telefon. Können Sie in den nächsten fünfzehn Minuten etwa zur Wohnung der Kaisers kommen?«

»Ja, sicher«, klang es zögerlich an Klaras Ohr. »Ich komme sofort.« Tina Hausmann legte auf.

Aus dem Wohnzimmer kam Sebastian auf Klara zu. »Wie geht es Melanie Kaiser?«, fragte er. »Hast du was erfahren?«

»Bislang nichts Brauchbares. Ihr Mann verstand sich mit allen gut, keine Konflikte im Job oder privat.«

»Thoralf Kaiser war kein Zufallsopfer, davon können wir ausgehen. Irgendein Problem wird es wohl in seinem Leben gegeben haben.« Skeptisch runzelte Sebastian die Stirn. »Hast du den Messerblock in der Küche gesehen?«

Klara nickte.

»Wieso dann das Grillbesteck? Ich meine … Messer und Gabel? Hat das etwas zu bedeuten?«

»Weiß nicht. Kann sein.«

»Monika meinte, dass Kaiser vermutlich zuerst niedergeschlagen und dann erstochen wurde.« Sebastian trat einen Schritt näher an Klara heran, sie roch seinen Duft.

»Was ist mit den Nachbarn?«, fragte sie. »Hat jemand was beobachtet?«

»Einige Kollegen haben mit der Befragung begonnen. Aber sicher sind um diese Zeit nicht alle Bewohner anzutreffen.«

»Vom Haus nebenan kann man direkt auf den Balkon und unter Umständen auch in die Wohnung sehen«, sagte Klara. Die einzelnen Gebäude an der Promenade standen relativ nah beieinander, getrennt von einem breiteren Weg und etwas Grün.

»Es sei denn, die Rollos sind dicht«, erwiderte Sebastian.

»Dann hätte der Täter sie allerdings nach der Tat hochgezogen. Wozu das?«

Sebastian zuckte mit den Schultern.

»Hallo. Ich bin Tina Hausmann. Jemand von der Polizei hat mich angerufen.« Eine hohe Frauenstimme klang vom Eingang zu den beiden Hauptkommissaren herüber.

Klara drehte sich um. »Ist in Ordnung«, sagte sie.

Der Streifenbeamte an der Wohnungstür ließ Tina Hausmann eintreten.

Sie kam langsam näher, hellblondes Haar fiel schulterlang über den Kragen ihres beigefarbenen Trenchcoats. »Wo ist Melanie, was ist passiert?«

Tina Hausmann hatte ein klassisch schönes Gesicht mit vollen dunkelroten Lippen, hohen Wangenknochen und einer schmalen, geraden Nase. Wahrscheinlich drehten sich die Männer nach ihr um. Sebastian allerdings konnte einfach geradeaus gucken, und das tat er auch. Klara registrierte aus den Augenwinkeln seinen verhalten taxierenden Blick.

»Frau Kaiser ist gerade im Kinderzimmer«, sagte er. »Können Sie uns bitte ein paar Fragen beantworten, bevor Sie zu ihr gehen?«

»Ja, natürlich«, kam es aus dem schimmernden Lippenpaar. »Wurde etwa eingebrochen?«

Die muss doch den Leichenwagen vor der Tür gesehen haben, dachte Klara. Wieso eingebrochen?

»Nein, Frau Hausmann. Thoralf Kaiser wurde ermordet«, antwortete Sebastian.

»Oh mein Gott.« Tina Hausmann verlor fast das Gleichgewicht. Sie stützte sich an der Flurwand ab. »Etwa hier in der Wohnung?«

Wo sonst?, fragte sich Klara, bei dem ganzen Aufgebot an Polizei. Aber die Leute stellten oft unlogische Fragen, wenn sie schockiert waren.

»Offensichtlich«, sagte Sebastian. Seine Stimme klang in Klaras Ohren tiefer als gewohnt. »Sie sind mit den Kaisers befreundet?«

»Ja, Thoralf und mein Mann arbeiten in derselben Kanzlei in Mannheim. Schon seit drei Jahren. Seit etwa zwei sind wir befreundet.«

»Welche Kanzlei?«

»›Schöller und Kollegen‹. An der Augustaanlage.«

»Mit welchen Fällen war Thoralf Kaiser dort befasst?«, wollte Sebastian wissen.

»Es ist eine größere Kanzlei, die im Prinzip alles bearbeitet. Thoralf und mein Mann Robert sind spezialisiert auf Medienrecht, Urheberrecht, so etwas. Aber mein Mann macht auch Vermögensrecht, Thoralf Arbeitsrecht.«

»Ist Ihnen etwas von Konflikten oder Auseinandersetzungen im Beruf bekannt? Schwierige Fälle, aufgebrachte Klienten?«

Eine senkrechte Falte prägte sich über Tina Hausmanns zierlichem Nasenrücken ein. »Ich weiß von nichts. Natürlich bringt das Tagesgeschäft in einer Kanzlei Auseinandersetzungen mit sich. Meines Wissens war aber alles im Rahmen.«

»Und die Ehe der Kaisers? Waren Thoralf und Melanie glücklich?«, fragte jetzt Klara.

»Oh ja. Natürlich. Sehr glücklich. Sie haben ja den kleinen Sohn. Ja. Sehr glücklich.«

Vom Wohnbereich her kamen die beiden Bestatter an, einer am vorderen, einer am hinteren Ende des Sargs. »Eenmal Platz machen bitte, die Herrschaften.«

Klara und Sebastian traten gleichzeitig vor den Rahmen der offenen Kinderzimmertür und verstellten so die Sicht in den Flur. Entsetzt presste sich Tina Hausmann die Hand auf den Mund und wandte sich mit gesenktem Kopf ab. Das blonde wellige Haar verbarg ihr Profil.

»Ich möchte zu Melanie«, stammelte sie, nachdem der Sarg vorbei war. »Ich muss ihr doch beistehen.«

»Natürlich«, antwortete Sebastian, sein Ton war warm und sanft, irgendetwas daran störte Klara. Sie trat einen Schritt nach hinten.

»Oh Melanie!« Tina Hausmann eilte an den beiden Ermittlern vorbei auf ihre Freundin zu, die immer noch mit abwesendem Ausdruck in dem Korbsessel saß. »Wie furchtbar.« Sie ging vor dem Stuhl auf die Knie und umarmte Melanie samt dem kleinen Ruben. »Ich bin für euch da.«

Klara hörte ein unterdrücktes Stöhnen, wie einen Schmerzenslaut, und konnte nicht sagen, von welcher der beiden Frauen das Geräusch gekommen war.

»Wir gehen jetzt zu uns, du kannst nicht hier in der Wohnung bleiben«, sagte Tina Hausmann. »Es ist doch in Ordnung, wenn ich Melanie mitnehme?«, fragte sie Sebastian.

»Ja, tun Sie das. Wir werden uns später noch einmal an Frau Kaiser und sicherlich auch an Sie wenden. Hinterlassen Sie uns bitte Ihre Kontaktdaten.«

Während Sebastian Anschrift und Telefonnummer aufnahm, ging Klara aus dem Raum und kam kurz darauf mit dem auf dem Esstisch sichergestellten Handy wieder.

»Frau Kaiser, ist das das Telefon Ihres Mannes?« Sie hielt den durchsichtigen Plastikbeutel hoch.

Melanie Kaiser nickte.

»Hatte Ihr Mann auch einen Zugangscode eingerichtet?«

»Ja, auch das Datum unseres Hochzeitstags.«

Keine Geheimnisse voreinander?, fragte sich Klara und brachte das Telefon zurück. Wenig später trat sie wieder in den Flur. Tina Hausmann stützte ihre Freundin, die wie eine alte, gebrochene Frau wirkte. Dabei drückte Melanie den kleinen Jungen an sich, der nun ganz still war. Langsam verließen die drei die Wohnung.

Sebastian äußerte sein typisches lapidares »Tja«. Eigentlich hatte Klara schon darauf gewartet. Nach dem »Tja« kam erst einmal nichts mehr, aber auch das war typisch.

»Das Ende eines glücklichen, erfolgreichen Mannes«, ließ er schließlich verlauten.

»Genau«, erwiderte Klara. »Der Täter oder die Täterin war allerdings mit irgendetwas weniger zufrieden.«

»Beruf oder Privatleben?«

Es war das altbekannte Frage-und-Antwort-Spiel zwischen ihnen. Manchmal war es wie ein kurzer Schlagabtausch und manchmal wie ein kunstvoll langer Ballwechsel, ernst, philosophisch, analysierend oder ironisch. Jenseits der Polizeiarbeit hatte Klara bei diesen Dialogen viel über Sebastian erfahren.

»Beides geht auch«, sagte sie.

»Klar. Wie Messer und Gabel.« Sebastian zog die Mundwinkel nach unten.

Wie Puff und Polizei, schoss es Klara in den Sinn, aber sofort wollte sie den Gedanken wieder loswerden. Das war eine andere Baustelle, und Privates und Berufliches zu vermischen war noch nie eine gute Idee gewesen.

»Lass uns aufs Revier«, sagte sie. »Der Chef wird schon warten.«