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Klara betrachtete den Bildschirm und führte die halb volle Tasse zum Mund. Der Kaffee war kalt und zu stark. Von außen drangen die Geräusche der auf der Römerstraße vorbeifahrenden Autos in ihr Büro. Es war für Klara immer noch ein befremdliches Gefühl, dass auch nach einem Mord das Leben ganz normal weiterging. Aber was hätte es sonst tun sollen? Für ein paar Menschen hatte sich alles geändert, für den Rest der Welt nichts.

Auf der professionell aufgemachten, in Hellgrau und Blau gehaltenen Internetpräsenz der Kanzlei »Schöller und Kollegen« war Klara bis zur Seite »Unsere Mitarbeiter« gekommen. Die untereinander angeordneten Fotos zeigten sechs Anwälte und zwei Anwältinnen, die alle ein verbindliches und gleichzeitig steriles Lächeln aufgesetzt hatten. Nummer vier von oben war Thoralf Kaiser, das Bild zeigte ihn in dunklem Anzug, weißem Hemd und mit silbergrauer Krawatte. Er war glatt rasiert, gepflegt, die entblößte Zahnreihe strahlte hell und makellos.

Über Thoralf Kaiser befand sich das Konterfei seines Kollegen Robert Hausmann. Mit seinen vollen Wangen, den Lachfalten um die Augen und dem lichten braunen Haar kam er Klara rustikaler, aber auch lebenslustiger vor als die anderen Mitarbeiter.

Sie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und trank einen letzten Schluck bitteren Kaffee. Noch ein paar Minuten hatte sie Zeit bis zur Dienstbesprechung, die Kriminaldirektor Klaus Conrad für dreizehn Uhr angesetzt hatte.

»Was heißt eigentlich Medienrecht genau?«, fragte Klara Sebastian. »Welche Fälle vertreten die da?«

»Urheberrechtssachen, Datenschutz, eventuell auch Jugendschutz? So was in der Art?« Sebastian lugte kurz hinter seinem Bildschirm hervor. Er war dabei, das Eintreffen der Hauptkommissare am Fundort der Leiche protokollarisch festzuhalten.

»Hm.« Klara überlegte. Die Internetseite der Kanzlei war modern und ansprechend, aber trotz der aufgeführten Informationen wirkte sie beliebig und austauschbar.

Klara öffnete ein neues Fenster im Browser, gab Thoralf Kaisers Namen und Beruf in die Suchmaschine ein und ging die angezeigten Treffer durch. Es gab den Link zur Kanzleiseite, daneben Einträge in zwei beruflichen Netzwerken, einen im Branchenbuch und einen in einem Juraforum. Außerdem war eine Seite mit Anwaltsbewertungen aufgeführt. Klara klickte sich durch die Trefferliste und überflog die Texte. Alles wirkte unauffällig. Auf der Plattform mit den Bewertungen gaben die beiden für Thoralf Kaiser eingetragenen Kommentare vier von fünf möglichen Sternen, es ging um arbeitsrechtliche Fälle.

Klara wollte wissen, wer der Getötete war, hoffte, ihn über die Spuren, die fast jeder im World Wide Web hinterließ, näher kennenzulernen. Bislang wurde das Bild eines arrivierten, unbescholtenen Anwalts nicht in Frage gestellt.

Ob das für seinen Freund und Kollegen auch gilt?, überlegte Klara. Sie gab »Robert Hausmann«, »Anwalt« und »Mannheim« in die Suchmaschine ein. Wieder wurden etliche Internetseiten angezeigt. Klara klickte sich durch, ließ ihren Blick über die Texte fliegen, prüfte die in Grün gehaltenen Webseitenadressen. Plötzlich stutzte sie.

»Was ist das denn?«, murmelte sie und klickte »tantra-heartsome.de« an.

Die Seite eines Tantra-Studios öffnete sich, augenblicklich wurde der Bildschirm orange und violett. In geschnörkelter Schrift hieß man den Besucher im Tantra-Paradies »Heartsome« herzlich willkommen. Eine Mittvierzigerin mit blond gesträhnter Kurzhaarfrisur und hellblauem Lidschatten war lächelnd in Aktion. Ihre, je nach Betrachter, ansprechende bis einschüchternde Oberweite presste sich an einen Kunden, der Klara entfernt an einen Kollegen aus dem Streifendienst erinnerte.

Am linken Rand der Seite fanden sich mehrere in der Form orangefarbener Blüten gestaltete Schaltflächen – »Tantra für dich«, »Deine wahre Energie«, »Videos«, »Galerie«, »Gästebuch«.

»Was ist was denn?«, fragte Sebastian leicht zeitverzögert hinter seinem Computerbildschirm.

»Warte mal …« Klara scrollte auf der Internetseite nach unten zum Impressum. »Diese Homepage ist ein Produkt der VSE GmbH.« Darunter standen eine Kölner Adresse, der Handelsregistereintrag, die Umsatzsteuernummer und die Namen der Geschäftsführer: Stefan Braun und Gabriele Schulze.

Klara las den nächsten Absatz: »Jugendschutzbeauftragter gemäß Paragraf sieben JMStV Rechtsanwalt Robert Hausmann.« Es folgte die Adresse der Kanzlei in Mannheim.

»Ach nee«, meinte Klara. »Das musst du dir ansehen.« Sie zögerte kurz. »Also die Infos hier.«

Sebastian stand auf, kam heran und stellte sich hinter Klara.

»Der Kollege von Thoralf Kaiser ist Jugendschutzbeauftragter für die Seite eines Tantra-Studios.« Klara neigte den Kopf schräg, sodass sie Sebastian ansah. »Internetseiten mit jugendschutzrelevanten Inhalten brauchen diese Angaben ja. Aber Webseitenbetreiber ist nicht etwa die gute Fee hier, sondern eine Firma namens VSE GmbH in Köln.«

»Das ist praktisch«, erwiderte Sebastian, und es klang ein bisschen wie auf einer Tupperparty. »Damit kann die Fee anonym bleiben und muss selbst keine Anschrift im Impressum angeben. Sieh mal nach, was VSE noch so macht.«

Klara gab den Firmennamen ein und überflog die angezeigten Seiten. Bei der VSE GmbH handelte es sich offenbar um eine Medienagentur, die sich auf Webpräsenzen mit erotischen Inhalten spezialisiert hatte. Klara öffnete die Seite des Unternehmens, sofort sprang ihr der breit gesetzte Slogan »Marketing mit Lust« ins Auge. Das Unternehmenskonzept wurde mit freizügigen, sich überblendenden Fotos verdeutlicht, die von Kundenseiten stammten: FKK-Clubs, Bordelle, Massagestudios.

Am unteren Seitenrand befand sich ein breites Banner – »Wir bilden aus«. Man dachte auch an die Nachwuchsförderung.

»Ist Robert Hausmann noch bei anderen Etablissements, die VSE-Kunden sind, der Jugendschutzbeauftragte?«, meinte Sebastian und beugte sich ein Stück näher zu Klara herunter. »Vielleicht gibt es so etwas wie eine Paketlösung. Webseite und Anwalt.«

»Das Rundum-sorglos-Paket?«, fragte Klara und gab mehrere Suchwörter zusammen ein.

»Allerdings wird auf manchen Internetseiten das Impressum nicht mit indexiert, sodass die Suchmaschinen die Informationen daraus erst einmal nicht erfassen. Der Programmierer der Seite kann das so einrichten.«

»Woher weißt du das denn?«, fragte Klara.

»Hab ich mal gelesen. Aber schau, da unten, Robert Hausmann und die Seite ›Sauna-fuer-dich.de‹.«

Klara rief die Internetpräsenz auf. Bei den Angaben zum Impressum fand sich das gleiche Muster: das Unternehmen VSE und Robert Hausmann als Jugendschutzbeauftragter.

Sie ging noch einmal zu den Suchergebnissen. In den Trefferlisten gab es fünf weitere einschlägige Seiten, die gleiche Angaben aufwiesen.

»Ob Thoralf Kaiser ebenfalls solche Mandanten hatte?« Sebastian rieb sich über seinen Dreitagebart.

Klara nahm das vertraute Geräusch dicht neben ihrer Wange wahr. »Bei ihm habe ich nichts dergleichen gefunden, aber wir sollten uns das noch einmal genauer ansehen.« Ein paar Sekunden lang fixierte sie schweigend den Bildschirm vor sich. »Hat deine Erbschaft eigentlich auch eine Internetseite?«, hörte sie sich plötzlich selbst fragen. Es war einfach so über ihre Lippen gekommen, und im selben Moment ärgerte sie sich schon über ihren angesäuerten Ton.

»Keine Ahnung«, sagte Sebastian.

»Ach Quatsch. Erzähl mir nicht, du hättest noch nicht nachgeschaut.«

»Ja, okay, kurz. Es gibt eine Seite.«

»Am Ende bist du auch Kunde von VSE und Robert Hausmann.«

»Unwahrscheinlich. Aber es geht auch nicht um mich, Klara. Allenfalls um einen Betrieb, mit dem ich bis vor drei Tagen rein gar nichts zu tun hatte.«

»Jaja.« Klara fühlte sich unwohl und wand sich so aus ihrem Bürostuhl, dass sie Sebastian nicht berührte. »Wir müssen rüber, die Besprechung beginnt.«

Gemeinsam verließen sie das Büro. Auf dem Flur kam ihnen Harald entgegen.

»Na, ihr zwei Hübschen, habt ihr schon eine heiße Spur?« Er hustete, und es klang, als könnten ihn nur noch kalter Entzug und sechs Wochen Nordseeluft vor dem sehr nahen Ende bewahren. Dann zwinkerte er Klara und Sebastian zu. »Conrad hat Schweißflecken unter den Armen. Es sind schon an die zwanzig Anrufe von besorgten Bahnstädtern eingegangen.«

Immer wieder hatte Klara in den letzten Jahren gerätselt, wie die Hemden des Chefs auch am Ende eines anstrengenden Arbeitstages wie frisch gebügelt und gerade erst angezogen aussehen konnten. Schweißflecken klangen gerade beruhigend normal.

»Die Kanzlei, in der Thoralf Kaiser arbeitete, hat Kontakte ins Rotlichtmilieu«, bemerkte Sebastian an Harald gewandt.

»Mach Sach. Wie das denn?«

»Sie stellt den Jugendschutzbeauftragten für etliche Pornoseiten.«

Harald pfiff durch seine gelben Zähne. »Da könnte doch eine Spur sein. Zwischen Puff-Laken findet sich immer was.«

»Ist das nicht ein bisschen zu viel Klischee?« Sebastian verschränkte die Arme vor der Brust. »Heute ist das doch alles mehr wie … Erlebnisgastronomie.«

»Was?«, fragten Klara und Harald gleichzeitig. Klara sah Sebastian verständnislos an.

»Na ja, die meisten sind doch längst raus aus der Schmuddelecke. Guck dir doch die Läden in Heidelberg an. Bio-Bordell, Passivhaus-Puff, clean und schick.«

Sebastian hatte recht. Als ein großes deutsches Boulevardblatt über Heidelbergs Öko-Freudenhaus titelte, hatte das zu einiger Erheiterung auf dem Revier in der Römerstraße geführt. Bei der Angelegenheit ging es natürlich auch um einen Imagewechsel der Etablissements. Klara wollte das allerdings nicht ausgerechnet von Sebastian in Erinnerung gerufen bekommen.

Die drei Ermittler kamen in den Besprechungsraum mit den u-förmig gestellten weißen Tischen und der großen Wandtafel an der Frontseite. Der ältere Beamte, der als Hobbyfotograf bereits die Wände der Gänge mit Landschaftsbildern verzierte, hatte mittlerweile auch in dem einst sterilen Konferenzraum einige gerahmte Fotos untergebracht. Sie zeigten bewaldete Hügel im Sonnenaufgang. Oder -untergang.

Mehrere Kollegen saßen an den Tischen. Kurz nach Klara, Sebastian und Harald betrat Kriminaldirektor Klaus Conrad den Raum, gefolgt von seinem Stellvertreter Horst Maibaum. Klara lugte auf Conrads Hemd – es war makellos und sah wie frisch gebügelt aus. Leicht irritiert nahm sie zwischen Harald und Sebastian Platz.

»Gut. Oder besser gesagt nicht gut«, begann der Chef, stellte sich vor die weiße Tafel und öffnete einen der dicken Filzschreiber, mit dem er »Thoralf Kaiser« auf die blanke Fläche schrieb. Dahinter notierte er »22 bis 0 Uhr« als angenommenen Todeszeitpunkt.

»Den ersten Ergebnissen aus der Rechtsmedizin nach wurde das Opfer zunächst mit einer sichergestellten Pfeffermühle aus Marmor niedergeschlagen. Die Kopfverletzung wurde von Frau Professor Hansen als noch nicht tödlich eingestuft. Sodann hat der Täter zwei Teile eines Grillbestecks in unmittelbarer Folge in den Rücken des Opfers gerammt. Der Stich des Messers war letal, es drang bis in den linken Lungenflügel und den Herzbeutel vor. Die beiden kleineren Stichkanäle der Gabel sind nur fünf Komma fünf Zentimeter lang, verletzten allerdings eine Arterie, sodass starke Einblutungen erfolgten.« Conrad machte Notizen an die Tafel. »Aufgrund der Analyse der insgesamt drei Stichkanäle mittels der etablierten bildgebenden Verfahren kann von einem etwa einen Meter fünfundsiebzig bis einen Meter fünfundachtzig großen, rechtshändigen Täter ausgegangen werden.«

»Jou«, grummte Harald neben Klara. »Ziemlicher Durchschnitt.«

»Die bislang befragten Nachbarn des Getöteten haben in der Tatnacht oder am Abend keine weitere Person in der Wohnung der Kaisers oder in Begleitung des Opfers gesehen«, fuhr Klaus Conrad fort. »Jedoch wurden nicht alle Bewohner der Nachbarschaft angetroffen. Frank und Nicole, ihr seid für die möglichst lückenlose Befragung verantwortlich.«

»In Ordnung«, antwortete Nicole Neubert, eine junge, ehrgeizige Beamtin. Seit ihre Frau vor ein paar Wochen ein Baby zur Welt gebracht hatte, wirkte sie allerdings häufig unausgeschlafen.

»Wir brauchen mehr Informationen zum Umfeld von Thoralf Kaiser«, erklärte Conrad. »Die Sachlage gibt Hinweise darauf, dass sich Täter und Opfer kannten. Harald und Herr Maibaum kümmern sich bitte um die Befragung seiner Familienangehörigen, Eltern, Geschwister und so weiter. Außerdem muss überprüft werden, ob Frau Kaiser zur Tatzeit wirklich in Karlsruhe bei ihren Eltern war.« Conrad schrieb »Melanie Kaiser« an die Wandtafel und setzte ein Fragezeichen dahinter. »Klara, Sebastian, ihr fahrt zum Arbeitgeber des Getöteten.«

»Chef, wir haben da was gefunden.« Sebastian streckte seine langen Beine, die in ziemlich großen Turnschuhen endeten, aus.

»Ach ja?«, fragte Conrad auffordernd.

In wenigen Sätzen berichtete Sebastian über den von der Kanzlei »Schöller und Kollegen« angebotenen Service, Jugendschutzbeauftragte zu stellen.

»Dann findet heraus, ob der Getötete ebenfalls in dem Bereich tätig war. Daneben müssen wir seine E-Mail-Kommunikation auswerten … und lasst euch die Fälle der letzten sechs Monate geben, die er vertreten hat. Sprecht mit seinem Chef und seinen Kollegen, vor allem auch mit diesem Freund, Robert Hausmann.« Conrad schrieb weitere Stichpunkte an die Tafel. »Also, an die Arbeit. Das Letzte, was wir in der Bahnstadt brauchen, sind Kapitalverbrechen.« Mit zwei Fingern lockerte er seinen Hemdkragen.

»Brauchen wir die etwa irgendwo anders?«, raunte Harald neben Klara, und eine nikotinschwangere Atemwolke wehte zu ihr herüber. Doch sicher wusste auch er, was Conrad meinte. In diesem Vorzeigestadtteil, der weltgrößten Passivhaus-Siedlung, in der das enge, vertrauensvolle Zusammenleben der Bewohner im Konzept festgeschrieben worden war, machte sich ein Mord wirklich schlecht.

Klara und Sebastian standen auf und verließen mit einem kurzen Abschiedsgruß den Raum.

»Auf nach Mannheim.« Sebastian legte Klara die Hand auf die Schulter. »Sicher hat Tina Hausmann ihren Gatten Robert schon von dem tragischen Geschehen unterrichtet.«