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»Psst, nicht so laut, Melanie und der Kleine schlafen.« Tina Hausmann führte den Zeigefinger an die vollen Lippen, ihr Mann goss gerade das bauchige Rotweinglas zum dritten Mal ein.

»Ermordet. In seiner eigenen Wohnung. Bei uns nebenan.« Hastig trank Robert Hausmann zwei Schlucke und stellte das Glas energisch auf dem Küchentisch ab, die teure Lampe aus gebürstetem Stahl warf einen warmen Lichtkegel auf die Platte. »Natürlich war heute die Polizei schon bei mir in der Kanzlei und wollte alles Mögliche wissen.«

»So?«

»Das kannst du dir doch denken, oder? Ob Thoralf Probleme hatte, beruflich oder privat, welche Fälle er bearbeitet hat, mit welchen Mandanten er zu tun hatte.« Robert trank noch einen Schluck. »Ob er glücklich war in seiner Ehe.«

»Was hast du geantwortet?« Prüfend sah Tina ihren Mann an.

Ein paar Sekunden hielt sein Blick ihrem stand, den fragenden und doch teilnahmslosen Augen, blau wie Vergissmeinnicht. Dann stand Robert mit einer ruckartigen Bewegung von seinem Stuhl auf, ging zur Balkontür und sah hinaus.

»Woher soll ich was von Problemen wissen?«, sagte er. »Im Job lief für Thoralf alles rund. Und er war stolz auf seine Familie, ganz vernarrt in seinen Sohn. Welche Probleme soll es da gegeben haben?«

Tina betrachtete den breiten Rücken ihres Mannes, das dezent karierte, helle Hemd, die stramm sitzende braune Anzughose. Als sie Robert geheiratet hatte, war sein Lachen so anziehend gewesen, seine Lebenslust und die gute Laune. Im Bett hatte er nicht genug von ihr bekommen können. Er hatte sie auf Händen getragen und ihr ein wundervolles Leben versprochen.

Langsam drehte Robert sich um und kam wieder an den Tisch. Er griff nach dem Glas und trank es leer.

»Die Frau und der Mann von der Polizei haben mich gefragt, wo ich Sonntagabend war.«

»Wo warst du denn?«, erwiderte Tina ungerührt.

»Tu doch nicht so, als würde dich das interessieren.«

Tina zuckte mit den Achseln. Dabei kam Robert zwei Schritte weiter auf sie zu, beugte sich zu ihr herunter und funkelte sie zornig an.

»Außerdem haben sie mich gefragt, was für ein Mensch Thoralf war.« Er knallte das Glas auf die Tischplatte. »Was war er für ein Mensch, Tina? Sag du es mir!«

Für einen Moment hielt Tina Hausmann den Atem an, dann ließ sie langsam die Luft ausströmen und sah auf ihre manikürten Fingernägel.

»Ich habe dich etwas gefragt«, stieß Robert dicht an ihrem Ohr hervor.

»Er war nett«, sagte sie trocken.

»Nett?« Das Wort schnitt wie ein Peitschenknall durch die Küche. »So nennst du das? Denkst du, ich habe nicht bemerkt, wie ihr euch angesehen habt? Wie er deinen Körper mit Blicken aufgefressen hat, an deinen Lippen hing, wenn du Geschichten erzählt hast, amüsant, wie du sein kannst.«

»So ein Unsinn«, entgegnete Tina kalt. »Das ist ja lächerlich.«

»Oh nein, meine Liebe, ich habe Augen im Kopf. Seit deinem Geburtstag im letzten Jahr ging das so. Die abgespannte, müde Melanie saß wie die Langeweile in Person am Tisch, während du strahlend alle Aufmerksamkeit auf dich gezogen hast. ›Wusstet ihr, dass es vor Kroatien Inseln gibt, die ›Große Schlampe‹ oder ›Kleiner Weiberhintern‹ heißen?‹« Robert äffte Tinas hohe Stimme nach. »›Lasst uns doch da mal hin.‹ Du hast gelacht und Thoralf zugezwinkert.«

»Und? Ein harmloser Scherz unter Freunden. Früher hast du Spaß verstanden«, blaffte Tina.

»Ich habe es gerochen.« Roberts Gesicht war sehr nah an ihrem, sie nahm den Wein in seinem Atem wahr. »Ich habe ihn an dir gerochen, Tina. Sein Rasierwasser. Ich weiß, wie es riecht, ich habe es jeden Tag in der Kanzlei in der Nase gehabt.«

Tina wich zurück. »Du bist ja betrunken«, zischte sie. »Lass mich in Ruhe.« Abrupt stand sie auf, ging zur Spülmaschine und begann, das benutzte Geschirr vom Abendessen hineinzuräumen.

»Hör mir zu, wenn ich mit dir rede«, brüllte Robert.

»Sei endlich leise, oder soll Melanie alles mitbekommen?«

»Melanie? Als würdest du einen Gedanken an sie verschwenden. Es ist Zeit für die Wahrheit, Tina. Thoralf ist tot, jetzt ist es Zeit für die Wahrheit, ich halte nicht länger hinterm Berg damit«, schrie Robert. »Du hast dich schwängern lassen. Von Melanies Mann.« Die laute Stimme überschlug sich. »Plötzlich hast du abends keinen Wein mehr getrunken, du, die doch sonst nie Nein gesagt hat. Plötzlich lag so ein ruhiges Strahlen in deinem Ausdruck, plötzlich hast du weite Oberteile getragen.«

Das Klappern der Teller verstummte, unsicher sah Tina auf.

»Ich weiß, dass es nicht von mir war, Tina. Wie sollte es auch?«

»Tina?« Eine dünne Frauenstimme klang von der Tür herüber. Melanie Kaiser stand dort, fahl und mit dunklen Ringen unter den Augen. Unverständnis spiegelte sich in ihrer Miene, das sich ein paar Sekunden später in ungläubiges Entsetzen wandelte.

»Sag, dass das nicht wahr ist«, kam es tonlos über die blassen Lippen.

»Natürlich ist es wahr!«, schrie Robert. »Dein feiner Thoralf hat meine Frau geschwängert!«

Wie von Sinnen stürzte er an Melanie vorbei in den Flur. Kurz darauf fiel die Wohnungstür mit einem lauten Knall zu.

Melanie öffnete den Mund und machte ihn wieder zu, kein Laut kam heraus. Ihr dunkelblondes Haar hing strähnig herunter, auf ihrem ausgeleierten T-Shirt zeichneten sich in der Höhe der Brust Milchflecken ab.

Plötzlich gellte ein markerschütternder Schrei durch die Wohnung, gleichzeitig sprang Melanie auf Tina zu, die reflexartig die Arme hob. Doch schon umfassten Melanies Hände ihren Hals und drückten zu.