Sie lachte ihn an mit ihren kleinen weißen Zähnen, Kordelschlaufen hielten die Enden ihrer geflochtenen Zöpfe zusammen. Auf ihren Knien balancierte sie einen abgestoßenen Blechteller mit einem süßen Brötchen darauf. Sie saßen in ihrer kleinen Hütte, die sie aus Zweigen im Unterholz gebaut hatten. Es war ihr geheimes Zuhause, ihre Zuflucht. Der Fluss war nicht weit, man roch das Wasser.
Ihr Kirschmund biss in das Brötchen, die Lider senkten sich einen Moment lang in Genuss über die meerblauen Augen.
»Hier, iss auch ein Stück«, sagte sie und hielt ihm das Gebäck hin.
Er war hungrig, aber er lehnte ab. Zwischen dem Blätterdach hindurch sah er die tiefstehende Sonne, kurz bevor sie am Horizont verschwand. »Wir müssen heim«, sagte er. »Komm.«
Sie kaute mit vollen Backen und stellte den Teller auf den Waldboden. Geduckt huschten sie zwischen dem raschelnden Laub aus der Hütte und liefen los. Er spürte den Sommerwind in seinem Gesicht und auf den nackten Armen. Das hohe, derbe Gras kitzelte seine Beine. Er lachte und hörte ihr Lachen neben sich. Ihre Zöpfe flogen nach hinten wie gespannte Schiffstaue.
Wie immer hielten sie zwanzig oder dreißig Meter vor dem schäbigen kleinen Haus an, in dem es nach Enge und Armut roch. Still standen sie nebeneinander, ein Vogel schrie aus einem Baum. Sie sahen sich an und gingen langsam auf die Eingangstür zu, auf der die braune Farbe abblätterte.
Er drückte die Klinke herunter, das Metall war warm in seiner gewölbten Hand. Zögernd traten sie ins Dunkle, die Holzdielen knarrten. In dem Licht, das durch das kleine Fenster fiel, tanzten Staubteilchen.
Sie tanzten um ein paar Füße in abgetragenen Schuhen herum.
Er sah hoch. Der Vater schwebte. Befestigt an einem Strick, der am Holzbalken hing, neben dem geräucherten Fleisch, von dem sie immer nur wenig essen durften. Die Zunge kam aus dem geöffneten Mund, die Augäpfel waren größer als sonst und ganz weiß.
Eine kleine feste Hand griff nach seiner und grub sich hinein. Stumm standen sie da. Bis er endlich sagte: »Komm, Katja. Komm.«
Sie drehten sich um und liefen hinaus, rannten zurück zu ihrer Hütte. Er spürte sein Herz rasen, keuchte, Schweiß trat ihm auf die Stirn und rann den Rücken hinab. Etwas gellte laut, wie der Schrei des Vogels.
Panisch schreckte er hoch und riss die Augen auf. Es war hell im Zimmer und kalt. Er versuchte, sich zu orientieren, brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo er war.
Ruckartig drehte er den Kopf und sah auf den Wecker neben seinem Bett, kurz nach neun. Die Türklingel schrillte, zweimal, dann nochmals. Kein Vogelschrei. Seine Hände pressten sich gegen die Schläfen. Wieder klingelte es.
Er sprang auf und taumelte an der kleinen Küchenzeile vorbei zur Eingangstür, riss den Hörer der Sprechanlage aus der Halterung. »Wer ist da?«
»Kripo Heidelberg. Herr Nowikow? Machen Sie bitte auf, wir haben ein paar Fragen an Sie.«
Ihm war schwindelig, er stützte sich am Türrahmen ab. Schon wieder Polizei. Sein Daumen presste sich auf den Knopf zum Öffnen des Hauseingangs, dann legte sich seine Hand auf die Klinke der Wohnungstür und drückte sie herunter. Das Metall war kühl. Einen Augenblick hielt er inne, verdrängte die Traumbilder und ging mit wenigen Schritten wieder ins Zimmer. Hastig streifte er die Hose über, die vor dem Bett lag, und gab der leeren Flasche einen Tritt, sodass sie unter das Bett rollte.
Es klopfte an der offenen Wohnungstür, er wandte sich um. Ein Mann und eine Frau traten ein.
»Guten Morgen«, sagte der Mann. »Sind Sie Leonid Nowikow?«
Er nickte.
»Sebastian Langer, das ist meine Kollegin Klara Haag. Sie sind der Bruder von Frau Jekaterina Nowikow?«
»Ja.«
Katja. Warum ging es wieder um Katja? Warum ließ man ihn nicht in Ruhe?
»Wir ermitteln in einem Mordfall«, sagte der Mann. »Und sind hier wegen eines Vorfalls in ›Shirleys Club‹.«
Die Augen der Polizistin blieben einen Moment an seinen hängen. Er kannte das, dieses Stocken im Blickkontakt, das kurze Verweilen, überraschte Registrieren der ungewöhnlich hellen Farbe. »Mein kleiner weißer Tiger«, hatte seine Mutter ihn manchmal genannt. Sie hatte traurig ausgesehen, als sie in das große Auto gestiegen war. Dabei hatte sie versucht zu lächeln und sich eine Träne von der Wange gewischt. »Pass gut auf deine kleine Schwester auf, Leonid.« Danach hatte er sie nie wiedergesehen.
»Wo waren Sie am Sonntagabend?«, fragte die Polizistin. Sie war hübsch, dunkelhaarig, mit heller Haut, sie erinnerte ihn an ein Mädchen in seinem Heimatort.
»Hier zu Hause.«
»Allein?«
»Ja.«
»Keine Zeugen?«
Er verneinte. Seine Zunge fühlte sich pelzig an, er hatte Durst.
»Sagt Ihnen der Name Thoralf Kaiser etwas?« Die Frau hielt ihm ein Foto entgegen.
Er schwieg. Vor seinem geistigen Auge überblendete sich das Gesicht auf dem Bild mit dem eines großen, schlanken Mannes, der in seinen teuren Wagen stieg. Der im hell erleuchteten Rechteck seines Wohnzimmerfensters auftauchte. Der eine schöne blonde Frau küsste. Der mit einer anderen einen Kinderwagen schob.
Immer noch beantwortete er die Frage nicht. Die Kornblumenaugen der Polizistin fixierten ihn. »Nein«, sagte er schließlich leise.
»Möglicherweise hat Ihre Schwester kurz vor ihrem Tod Post von ihm bekommen, von der Kanzlei ›Schöller und Kollegen‹?«, fragte die Frau.
Sie hatten vor seiner Tür gestanden, früh am Morgen, er hatte gerade zur Arbeit gehen wollen. Katja war schon am Tag davor gestorben, aber sie hatten so lange gebraucht, um ihn ausfindig zu machen.
»Waren Sie der Bruder von Jekaterina Nowikow?«, hatten sie ihn gefragt.
Ein paar Stunden später rief ihn ein Mann an, er solle Katjas Sachen abholen, »›Shirleys Club‹, Degerloch. Am besten heute noch.«
Wie betäubt war er hingefahren. Blankes Entsetzen hatte ihn gepackt, als er sah, wo Katja gearbeitet hatte.
Sie schickten ihn mit einem blauen Müllsack den Hinterausgang heraus. Gegen die Kunststoffhülle hatte sich von innen dunkle Wäsche gedrückt, bis heute hatte er nicht in den Sack hineingesehen.
»Haben Sie ein Anwaltsschreiben bei den Sachen Ihrer Schwester gefunden?«, fragte die Polizistin mit sanfter Stimme. Ihr Blick wanderte von ihm weg, durch das kleine Apartment, streifte über den Schreibtisch vor dem Fenster, verweilte kurz auf dem blauen Plastik darunter, lief über das Geschirr, das auf dem Sofatisch stand, und die Kleidung auf dem Boden.
»Herr Nowikow, ein Anwaltsschreiben?«, wiederholte die Polizistin.
Ein gefaltetes Blatt Papier, das auf Katjas Bett in dem muffigen kleinen Zimmer gelegen hatte. Ein in blau gehaltener Briefkopf mit einer stilisierten Justitia-Figur. »Sehr geehrte Frau Nowikow, … machen wir in Vertretung der Paradise Found GmbH Ansprüche auch gerichtlich geltend … Ladung von Zeugen … öffentliche Verhandlung … mit freundlichen Grüßen, Thoralf Kaiser, Fachanwalt für Arbeitsrecht«.
Fragend sah die Polizistin ihn an. Er schüttelte den Kopf.
»Herr Kaiser wurde ermordet«, sagte sie. »Sind Sie bereit, eine DNA-Probe abzugeben?«
Was bedeutete das? Er wusste nicht, ob er Nein sagen konnte, ob man ihn ohnehin zwingen würde. Unsicher zuckte er mit den Schultern.
»Sie haben in dem Club, in dem Ihre Schwester gearbeitet hat, randaliert, haben von Handlangern des Teufels gesprochen und dass man sie umbringen solle?«, fragte der Polizist. »Ein Handlanger, wie Thoralf Kaiser einer war?«
Er sah an den beiden Ermittlern vorbei zur Wohnungstür. Warum hatte er nicht besser auf Katja aufgepasst? Warum hatte er ihr geglaubt, als sie ihm erzählte, es gehe ihr gut, sie habe einen super Job in einem Restaurant? In ihm waren nur noch Schmerz, Schuld und Zorn, sie fraßen und höhlten ihn aus.
»Haben Sie eine Familie?«, fragte er tonlos an den Polizisten gewandt.
»Wieso?«
»Eine Familie. Haben Sie eine?«
Ein paar Atemzüge lang lag Stille im Raum. »Ja«, sagte der Mann schließlich. »Habe ich.«
Um die Mundwinkel der Frau entspannte sich ein Muskel, der folgende Atemzug war minimal tiefer, ihre Halsschlagader pulsierte ein klein wenig schneller. Die allermeisten Menschen nahmen derartige Veränderungen nicht wahr, er schon. Bei der Armee hatte er viel gelernt, seine Sinne wie Detektoren geschärft.
»Würden Sie uns bitte wegen der DNA-Probe aufs Revier begleiten?« Die Frau war höflich. »Natürlich können Sie, wenn nötig, bei Ihrem Arbeitgeber Bescheid sagen, dass Sie später kommen.«
»Nicht nötig.« Seit knapp sechs Wochen war er krankgeschrieben.
Er zögerte, wusste nicht genau, was er tun sollte. In seinem Kopf herrschte Unordnung und seit Katjas Tod immer dieses Pochen.
»Bitte, Herr Nowikow.« Der Arm des Polizisten wies zur Tür. »Gehen wir.«
»In Ordnung«, antwortete er, angelte einen Wollpullover vom Boden und streifte ihn über, danach die Jacke, die über dem Schreibtischstuhl hing. In dem kleinen Gang vor der Küchenzeile schlüpfte er in die dicken Lederboots und verließ mit den beiden Polizisten sein Apartment. Sie gingen die Treppe herunter und traten auf die ruhige Straße am Ortsrand von Eppelheim.
»Da lang, bitte«, sagte die Frau und wies den Weg zu einem silbergrauen Mittelklassewagen.
Er atmete tief ein. Es war kälter als am vergangenen Sonntagabend, er mochte die Kälte. Die junge blonde Frau hatte gefroren, er hatte sie gesehen, wie sie versuchte, sich im Gebüsch zu verbergen. Schon ein paarmal hatte er sie beobachtet und zuerst gedacht, sie verfolge ebenfalls den Anwalt. Aber dann war ihm klar geworden, dass es um dessen Geliebte ging. Sie huschte ihr hinterher, dilettantisch und naiv.
Was ihr Wissen über den Sonntagabend bedeutete, konnte er noch nicht einschätzen.