»Entschuldigung, da muss ich ran, das ist dienstlich.« Manuela Schneider griff nach dem Handy, das neben ihr auf der Couch lag, und tippte auf das Display.
»Nein, du Lutscher, ich habe dir verboten, mich anzurufen«, schrie sie durch das Wohnzimmer. »Spar dir die Winselei, sonst komm ich zu dir und versohl dir den Arsch.«
Klara blieb der Mund offen stehen, neben ihr bekam Harald einen Hustenanfall. Er drehte sich um und verließ fluchtartig den Raum.
»Du kleiner Haufen Scheiße«, röhrte Manuela mit einer Stimme wie Stahlbeton. »Verkriech dich in ein Mauseloch, denn wenn ich dich finde, kenne ich keine Gnade mehr. Du weißt genau, was ich dann mit dir mache … Nein, das weißt du nicht? … Ich bringe die große Schere mit!«
Unangenehm berührt sah Klara auf das gerahmte Bild über dem Sofa. Es zeigte die Rückansicht eines perfekt geformten Hinterns, der in lange, netzbestrumpfte Beine mit hochhackigen Stiefeln überging. »Ride it home, Baby«, stand darunter. Für einen Moment hatte Klara den starken Drang, nach Hause in ihr einsames Bett zu flüchten und sich die Decke über den Kopf zu ziehen.
»Äh, Frau Schneider«, meinte Sebastian neben ihr leise, aber bestimmt. »Können Sie bitte später weitermachen. Wir haben noch ein paar Fragen an Sie.«
Manuela Schneider drehte die Augen gen Zimmerdecke und deutete ein Nicken an. »So, du Kröte, ich lege auf … Ja, jetzt schon … Doch! Du warst so ungezogen, ich überlege mir die passende Strafe für dich … Ja, vielleicht in einer Stunde.« Sie tippte wieder auf das Display und legte das Telefon zur Seite.
»Die Frage, was Sie beruflich machen, erübrigt sich wohl«, sagte Sebastian und blätterte eine Seite des kleinen Notizblocks um, der auf seinen Knien lag.
»Nein, ach was, das mache ich nur nebenher. Seit ein paar Jahren arbeite ich wieder als Groß- und Außenhandelskauffrau.« Manuela Schneiders Haltung hatte sich verändert, sie war in sich zusammengesunken und saß verloren auf der dunkelgrünen Couch. Eine Träne lief ihre Wange herunter. Manuela presste beide Hände vor den Mund, das pechschwarz gefärbte Haar stand struppig ab.
»Seit wann wohnten Sie mit Kimberly Schwantaler zusammen?«, fragte Sebastian.
»Seit etwa drei Jahren. Wir verstanden uns gut, auch wenn jede so ihr Ding machte. Ich wusste, dass Kiki für eine Hostessenagentur arbeitete. Sie verdiente wohl ganz gut. Und es gab einen Mann, mit dem sie sich oft traf, sie sagte, er sei ihre große Liebe. Anfangs war er ein Kunde, aber dann wurde daraus wohl eine Beziehung.«
»Ist der Name Robert Hausmann gefallen?«, wollte Klara wissen.
»Ja, Kiki sprach von Robert. Den Nachnamen hat sie aber nicht genannt. Ich habe den Mann auch nie gesehen. Sie war so verliebt, hatte Pläne mit Robert. Ich kann es nicht fassen, dass sie tot sein soll. Sie hat doch niemandem was getan.«
»Fühlte sich Kiki in letzter Zeit bedroht, gab es Ärger mit Kunden oder mit sonst jemandem?«, fragte Sebastian.
»Nicht dass ich wüsste.« Manuela Schneider schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch, das sie aus der Tasche ihrer Jogginghose gezogen hatte. »Aber vorgestern haben wir zusammen zu Abend gegessen. Da hat Kiki gesagt: ›Manu, ich mach bald Schluss mit dem Job, ich steig aus.‹ ›Und was machst du dann?‹, hab ich sie gefragt. Sie hat gelacht, sie war ja so hübsch. ›Ich leb mit Robert‹, hat sie geantwortet. Ich hab sie ungläubig angesehen, ich meine, ›Pretty Woman‹ war ja toll, aber halt nur ein Film. In der Realität gibt’s das doch nicht. Ist mir jedenfalls nie untergekommen.«
Sebastian nickte zustimmend.
Wer weiß?, dachte Klara. Der reiche Bulle und die schöne Blume der Nacht? Sie schluckte. »Haben Sie Frau Schwantaler gestern gesehen? Wissen Sie, wann sie gegen Abend die Wohnung verlassen hat?«, fragte sie leise.
»Nein, ich bin erst um sechs aus dem Büro gekommen, da war sie schon weg.«
Hinter Klara erklang ein kräftiges Räuspern, Harald war in das Wohnzimmer zurückgekehrt. »Conrad hat telefonisch Infos zur Handyortung bekommen«, erklärte er über Klaras Schulter. »Kommst du bitte mal mit raus?«
»Okay.« Klara verließ hinter Harald den Raum und stand mit ihm im Flur der Wohnung. An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotografien schöner Frauen im Stil von Helmut Newton, die Garderobe hinter der Eingangstür war mit Jacken und Mänteln überladen.
Ein Mann von der Kriminaltechnik kam aus Kimberlys Zimmer, in dem sich auch Conrad aufhielt. Er trug einen Karton aus der Wohnung, vermutlich mit persönlichen Dingen des Opfers, Fotos, Briefe, Unterlagen.
»Also«, begann Harald, »Conrad hat auf Gefahr im Verzug entschieden, es wurde über den Versand stiller SMSen geortet. Tina Hausmanns Handy konnte nicht lokalisiert werden, das heißt, SIM-Karte oder Akku wurden entfernt oder sind nicht intakt. Wenn es nur ausgeschaltet wäre, könnten wir es ja trotzdem orten. Robert Hausmanns Telefon hingegen wurde bei Darmstadt ausfindig gemacht und nachfolgend auf der Strecke Richtung Heidelberg, wie es aussieht, auf der A 5. Es kann also sein, dass er gerade in die Bahnstadt fährt.«
»Hat Conrad schon die Streife dort informiert?«, fragte Klara.
»Ja, am Parkplatz Fuchsbuckel stehen Kollegen. Sie sollen Hausmanns Wagen folgen. Am Ortseingang von Heidelberg werden ebenfalls zwei Zivilwagen postiert. Conrad will Hausmann aber nicht stoppen lassen. Er möchte wissen, wohin er fährt, und, falls er nach Hause zurückkehrt, dort eventuell auch Tina antreffen.«
»Harald, Klara!«, schallte Conrads Stimme aus dem Nachbarraum.
»Jou«, gab Harald zurück und begab sich mit Klara in Kikis Zimmer.
Das große Bett mit den vielen bunten Kissen darauf füllte gut die Hälfte des Raums aus. An einer Seite stand eine Kleiderstange mit zahlreichen Röcken und Oberteilen auf Bügeln, am Fenster auf der anderen Seite befand sich ein schmaler weißer Schreibtisch. Erst jetzt bemerkte Klara das kleine Foto in einem silbernen Rahmen, das darauf stand. Es zeigte Robert Hausmann. Klara hatte das Konterfei schon einmal gesehen, es stammte von der Internetseite der Kanzlei. Kiki hatte es ausgedruckt und gerahmt.
Eine plötzliche Traurigkeit überfiel Klara. Nach dem, was sie bislang gefunden hatten, hatte Kiki nur dieses Foto von ihrem Liebsten gehabt. Der wollte sich garantiert nicht von ihr fotografieren lassen, vermutete Klara, noch nicht einmal das. Und Kiki hatte geglaubt, ihr Leben mit ihm verbringen zu können.
Vor dem Schreibtisch saß Rainer Kaufmann von der EDV, er hatte einen Tabletcomputer mit seinem Laptop verbunden. Conrad stand daneben.
»Rainer hat uns dankenswerterweise Zugriff auf Frau Schwantalers Rechner verschafft.«
»Werglich kai Heggsewärgg«, nuschelte Rainer in seinem wallenden Fränkisch.
»So? Also gut. Frau Schwantaler hat vor allem Spiele auf ihrem Tablet installiert, daneben die üblichen Messengerdienste, die auch auf ihrem Handy sind. Textdokumente haben wir nicht gefunden, wohl aber etliche Fotos.« Conrad wies auf den Bildschirm des Laptops. »Selfies, Bilder anderer junger Männer und Frauen, ein paar Partyfotos, sie war auch einmal in Paris, und so weiter.«
Die kleinen Vorschaudarstellungen zeigten die lachende Kimberly vor dem Eiffelturm, posierend an einer Metrostation, vor einem Bistro, mit einer Freundin am Ufer der Seine.
»Am vergangenen Dienstag wurden allerdings zwei Fotos auf das Tablet geladen, die ungewöhnlich sind«, fuhr Conrad fort. »Bitte, Rainer.«
Rainer Kaufmann tippte auf die Tastatur und blendete ein Bild ein. Es war dunkel, fast schwarz, mit einem hellen Viereck etwa in der Mitte. Bei genauerer Betrachtung konnte man es als Fenster in einem Gebäude ausmachen, in der linken Hälfte befanden sich zwei dunklere Umrisse. Rainer zoomte den hellen Ausschnitt größer. Das Foto wurde unschärfer, aber es waren jetzt deutlich zwei Personen zu erkennen. Eine trug ein schwarzes Oberteil, ihr Haar war blond. Dicht vor ihr stand die größere Person mit kurzem, dunklerem Haar und einem braunen oder grauen Pullover.
»Leck misch fett«, entfuhr es Harald. »Wann ist das Foto gemacht worden?«
»Laut den Dateiinformationen am letzten Sonntag um dreiundzwanzig Uhr sieben«, antwortete Rainer.
»Also im Zeitfenster des Mordes an Thoralf Kaiser«, ergänzte Conrad. »Der Mann dort auf dem Bild könnte er sein.«
»Daneben steht Tina Hausmann?«, fragte Klara.
»Warte ab, es gibt ja auch noch ein zweites Foto. Rainer, bitte.«
Das Bild wechselte. Es zeigte eine blonde Frau vor einer Eingangstür, die noch ein Stück geöffnet war. Die Frau war im Gehen begriffen, es sah aus, als sei sie gerade aus der Tür getreten. Man konnte Tina Hausmann erkennen.
»Ach«, raunte Harald. »Von wann ist das Foto?«
»Dreiundzwanzig Uhr elf«, antwortete Rainer.
»Genau.« In Conrads Gesicht zeichnete sich so etwas wie kindliche Freude ab. »Natürlich könnte Thoralf Kaiser nach dem Besuch von Tina Hausmann noch gelebt haben, die eingegrenzte Tatzeit reicht ja bis Mitternacht. Aber da die Frau, die diese Fotos auf ihrem Computer hat, erschossen wurde, besteht ein dringender Tatverdacht gegen Tina Hausmann.« Auffordernd sah Conrad Klara an. »Du fährst mit Sebastian zurück in die Bahnstadt. Wenn niemand aufmacht, lasst ihr von der Feuerwehr die Tür öffnen. Informiert mich, gegebenenfalls wird die Fahndung nach Tina Hausmann eingeleitet.«
Fünfundzwanzig Minuten später setzte ein Feuerwehrmann den hydraulischen Türöffner an. Mit einem metallischen Krachen gab das Schloss nach.
Im Inneren der Wohnung war es dunkel.
»Frau Hausmann?«, rief Sebastian. »Herr Hausmann?« Niemand antwortete.
Gesichert durch Beamte vom Bereitschaftsdienst bewegten sich Klara und Sebastian langsam vor durch den Flur. Sie überprüften Wohnbereich, Küche, Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Bad. Die Wohnung war leer.
Die Ermittler waren gerade in die offene Küche zurückgekehrt, als Conrad anrief. »Robert Hausmann hat den Ortseingang von Heidelberg passiert und ist vermutlich in die Bahnstadt unterwegs«, teilte er Klara mit. »Sichert in der Wohnung Computer und Handys, die ihr findet. Womöglich hat Tina Hausmann die beiden Fotos auf elektronischem Weg bekommen. Übrigens wurde ihr Wagen aufgefunden. Er steht in Schriesheim auf einem Parkplatz im Ort, unweit der Auffahrt zur Strahlenburg. Damit erhärtet sich der Verdacht.« Conrads Ton klang scharf. »Meldet euch, wenn Robert Hausmann eintrifft.« Er legte auf.
Klara informierte Sebastian und die anderen Polizisten, einer sicherte den Laptop, der auf dem antiken Sekretär stand. Die Beamten sahen sich weiter um.
Auf Klara wirkte die kostspielige, geschmackvolle Einrichtung jetzt anders als bei ihrem ersten Besuch. Wohnt so eine Mörderin?, fragte sie sich.
Sie näherte sich einem der Fenster. Wenn Licht in der Wohnung brannte, ging Robert vermutlich davon aus, dass seine Frau da war. Klara überlegte, ob ihn das überraschen würde, ob er sie erwartete oder bereits nicht mehr. Sie fragte sich, was er wusste. Ob ihn Kimberlys Tod berührte? Ob er sogar etwas damit zu tun hatte?
Plötzlich hallten Schritte über den Gang vor der Wohnung, Klara trat in den Flur. In der offenen Eingangstür stand Robert Hausmann. In seinem Gesicht lag blanker Ärger. Er hob an, etwas zu sagen, aber Klara kam ihm zuvor.
»Wo ist Ihre Frau?«
Zögernd hielt Robert Hausmann den Mund halb offen, zwei, drei Sekunden lang.
»Was geht Sie das an?«, gab er schließlich unfreundlich zurück. »Sie ist ein freier Mensch, sie kann sein, wo sie will.«
»Bald nicht mehr«, antwortete Sebastian hinter Klara. »Sie ist dringend tatverdächtig.«