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»Etwas dehydriert und unterkühlt. Davon abgesehen ist so weit alles in Ordnung.« Der Notarzt nahm die Blutdruckmanschette von Tina Hausmanns Arm ab. Sie saß in eine Rettungsdecke gehüllt auf der hochgestellten Pritsche im Krankenwagen. »Noch ein, zwei Tassen warmer Tee mit Zucker, und Sie sind wieder fit. War wohl ein guter Schlafsack, den Sie da hatten.« Der Arzt lächelte aufmunternd. »Glück im Unglück.«

»Phh«, schnaubte Tina, »sonst fällt Ihnen nichts ein?«

»Im Moment nicht. Bitte schön.« Der Arzt wies auf die offene Hecktür des Rettungswagens.

Draußen vor dem Auto wartete Klara. Sie beobachtete, wie sich Tina mühsam mit der silber reflektierenden Folie um ihre Schultern herum erhob. Klara bot ihre Hand zur Stütze, Tina nahm die Hilfe an, um aus dem Wagen zu steigen. Für einen Augenblick irritierte Klara die ungewollte Nähe der Berührung. Dazu ging ein übler Geruch von Tina aus. Klara drehte sich weg.

Hinter ihr war das alte kranke Haus mit Neonstrahlern taghell ausgeleuchtet. Seine Baufälligkeit erforderte besondere Vorsichtsmaßnahmen, die Spurensicherung arbeitete derzeit nur mit zwei Leuten.

»Klara, kommst du mal bitte?« Sebastian stand vor dem Haus neben einem Mann von der Kriminaltechnik und winkte Klara heran.

»Moment.« Klara übergab Tina Hausmann zwei Kollegen von der Streife, die ihr Handschellen anlegten und sie in einen Polizeitransporter führten. Die Zeit ohne Fesseln war für Tina schon wieder vorüber.

Kurze Zeit später trat Klara hinter Sebastian und dem Techniker erneut in das Gebäude ein. In dem grellen Licht wirkte es noch trostloser, Schimmel, Moder und Verfall wurden schonungslos angestrahlt.

»Sehen Sie sich das an«, sagte der Mann. Er ging vor in das erste Zimmer, das links vom Flur abzweigte.

Dort lag, offenbar zuvor von einer der umgedrehten Kisten verdeckt, ein Handy. Erstaunt betrachtete Klara das Gerät. Mit ihm war ein schwarzes rechteckiges Kästchen verkabelt, dazwischen geschaltet befand sich eine kleine Platte, auf der verschiedene elektronische Bauteile verlötet waren.

»Tja.« Sebastian verschränkte die Arme vor der Brust. »Wer immer Tina Hausmann hier festgesetzt hat, wollte wohl, dass sie gefunden wird. Und er wusste, dass sie gesucht wird.«

»Exakt«, antwortete der Techniker. »Aber das Handy sollte erst mit einer Zeitverzögerung geortet werden.«

Auf Klaras fragenden Blick hin erklärte er: »Das schwarze Kästchen ist ein sogenannter Powerpack, ein leistungsstarker Akku zur mobilen Energieversorgung. Wird gern von Leuten benutzt, die viel draußen unterwegs sind. Das Teil dazwischen ist ein Timer, also ein Zeitrelais, das es in jedem gut sortierten Elektronikmarkt gibt. Nach einer einstellbaren Zeitspanne schaltet dieser Timer um, der Stromfluss wird freigegeben, das Handy lädt sich auf.«

Einen Moment dachte Klara nach, ehe sie verstand. »Natürlich«, sagte sie. »Ein Handy mit einem vollständig entladenen Akku ist nicht zu orten. Wenn es sich allerdings wieder lädt, kann es auch in ausgeschaltetem Zustand über den Versand der Ortungs-SMS einer Funkzelle zugeordnet werden. Über diesen Weg haben wir Tina Hausmann ja auch gefunden.« In Klaras Kopf formte sich eine Vermutung. »Wer kann diese Konstruktion dort zusammenbauen?«, fragte sie.

»Das ist keine große Sache. Im Prinzip jeder, der sich ein wenig mit Elektronik auskennt«, antwortete der Techniker. »Sie sehen, dass am Handy ein normales Ladekabel angeschlossen ist. Der Rest ist ein bisschen Bastelarbeit. Wahrscheinlich kann man sich die notwendigen Kenntnisse auch ziemlich schnell im Internet anlesen.«

»Nowikow«, murmelte Klara.

Sebastian horchte auf. »Wie kommst du auf den

»Er wusste, dass wir Tina Hausmann suchen. Ich hatte es ihm ja heute Morgen in seiner Wohnung gesagt. Wer von den anderen Personen, die das auch wussten, würde wollen, dass wir Tina zeitverzögert auffinden? Für wen wäre das ein Vorteil? Entweder wir sollen sie finden oder nicht.«

»Du denkst, Nowikow brauchte den Vorsprung, weil er tatsächlich vorhatte zu verreisen?« Sebastian zog sein Handy aus der Tasche. »Wir müssen Conrad informieren. Er soll feststellen lassen, ob Nowikow auffindbar ist.«

Eilig verließ er das Haus, um zu telefonieren. Klara kam mit raus.

»Die leer geräumten Konten, das in Bitcoins umgetauschte Geld«, sagte sie, als er geendet hatte. »Deshalb wurde Tina entführt. Anschließend verschaffte sich ihr Entführer die notwendige Zeit für seine Flucht.«

»Dann lass uns Tina noch ein paar Fragen stellen«, erwiderte Sebastian.

Kurz darauf saßen sie neben der Verhafteten in dem Polizeitransporter. Es stank erbärmlich.

»Ich möchte endlich frische Kleidung«, forderte Tina. »Können Sie sich vorstellen, wie ich mich fühle?«

Das ist nicht unbedingt ihr Hauptproblem, dachte Klara.

»Wo sollen wir die jetzt bitte herbekommen?«, fragte Sebastian freundlich. »Sie müssen sich schon ein wenig gedulden. In der Haftanstalt werden Sie neu eingekleidet.« Er erntete einen vernichtenden Blick von Tina.

Klara überlegte, ob die Frau überhaupt begriffen hatte, was auf sie zukam. Glaubt sie wirklich, dass ihr bei ihren Kontakten zu erfolgreichen Anwälten nichts passieren kann? Mit Distanz, aber auch einem Funken Neugier betrachtete sie Tina. Das blonde Haar war strähnig, die Haut fahl, die Kleidung verschmutzt. Trotzdem war sie noch immer eine schöne Frau, womöglich wirkte die Schönheit in dieser gebrochenen Form sogar reizvoller. Unvermittelt kam Klara das Bild der toten Kimberly in den Sinn.

»Frau Hausmann, Sie haben bereits erwähnt, dass Sie sich zu den Ihnen zur Last gelegten Verbrechen nicht äußern wollen«, sagte Sebastian.

»Das ist mein Recht, ich kenne meine Rechte«, ereiferte sich Tina. »Aber natürlich möchte ich Anzeige gegen dieses Schwein erstatten, das mich entführt und in dem Keller festgehalten hat.«

Klara atmete zur offenen Schiebetür des Wagens hin. Schweinestall, dachte sie, das trifft es in etwa.

»Gut«, sagte Sebastian ungerührt. »Berichten Sie uns bitte, was vorgefallen ist.«

»Ich bin fast umgekommen vor Durst«, begann Tina hastig, »und diese Kälte, ich hatte gar kein Gefühl mehr in Armen und Beinen. Ich dachte, ich erfriere.« Ihre Stimme hatte eine andere Farbe angenommen, klagend und zerbrechlich. »Die Ungewissheit hat mich schier wahnsinnig gemacht. Ich wusste nicht, ob mich dieser Unmensch töten will. Seine Waffe haben Sie ja gefunden, damit hat er mich bedroht.«

»Wo hat Sie der Mann aufgegriffen?«, fragte Klara.

»Soweit ich mich erinnern kann, war ich in Schriesheim spazieren gewesen, das mache ich ab und zu, ich mag diesen Ort. Haben Sie meinen Wagen gefunden? Ich hatte ihn dort irgendwo geparkt. Plötzlich hat mich der Mann überfallen, an alles Weitere kann ich mich nicht mehr erinnern.«

»Aha«, sagte Klara. »Können Sie den Mann beschreiben?«

»Er ist groß, schlank, hat eine tiefe, männliche Stimme und, ich glaube, einen leichten Akzent. Osteuropa, würde ich sagen. Dreimal war er in dem Keller, hat mir etwas zu essen und zu trinken gegeben … und … und mich auf einem Eimer im Nebenraum meine Notdurft verrichten lassen.« Tina verbarg ihr Gesicht hinter den durch Handschellen verbundenen Unterarmen, sie schluchzte. »Es war so demütigend.«

»Würden Sie den Mann wiedererkennen?«, fragte Sebastian.

»Nein, er trug so eine Sturmhaube, außerdem war es finster im Keller. Der Mann kam mit einer kleinen Lampe und stand selbst fast immer im Dunkeln. Er wollte mein … unser Geld. Das war es.« Bei den letzten Sätzen klang Tina wieder hart. »Was ist mit dem Geld? Ist es weg? Sie müssen es zurückholen. Oder die Versicherungen der Banken müssen einspringen.«

Fast hätte Klara gelacht.

»Welches Geld?«, fragte Sebastian neben ihr gespielt ahnungslos.

»Der Mann kam mit der Waffe in der Hand und sagte ›Ich mache es kurz‹. Wissen Sie, welche Todesangst ich hatte? Dann wollte er die Zugangsdaten zu unseren Konten. Er sagte, wenn ich sie ihm nicht geben würde, wäre das mein Ende. Und auch, wenn ich ihm falsche Informationen geben würde. Ich hatte gar keine Wahl.« Tina stöhnte auf. »Hat er das Geld gestohlen? Wo ist überhaupt mein Handy?«

»Haben Sie eine Ahnung, warum er die Waffe vor Ihnen liegen gelassen hat?«, erwiderte Klara, statt auf die Fragen zu antworten. »Sie kennen nicht zufällig diese Pistole?«

»Natürlich nicht«, echauffierte sich Tina. »Warum die dort lag, müssen Sie herausfinden.«

»Das werden wir. Ihre Aussage nehmen wir zu Protokoll, anschließend werden Sie in Heidelberg dem Haftrichter vorgeführt.« Kaum sichtbar kräuselte Sebastian die Nase und neigte seinen Oberkörper ein Stück zur Seitentür des Polizeiwagens hin.

Mitunter wünschte man sich raus in die kalte Winterluft.