Wo ist die Mitte?

Sie haben richtig gelesen: Rosemarie und ich flogen zurück in die Stadt, in der alles begann. Denn wir waren uns immer einig: Für den Fall, dass wir entdeckt würden, wäre es sinnlos, weiter zu flüchten. Dann müssten wir zurück zum Ursprung unseres Problems. Und es dort lösen.

Unser Plan war, zunächst unterzutauchen und unerkannt in Ruhe etwas vorzubereiten, das noch keiner vor uns gewagt hatte:

Dick Tossek zu ermorden!

(Zugegeben: Ich hatte das im ersten Teil meiner Geschichte schon einmal probiert. Und es war gründlich danebengegangen. Aber das wollen Sie mir doch wohl jetzt nicht unter die Nase reiben?)

Unsere Vorbereitungen für dieses waghalsige Unterfangen begannen mit einem Fehlstart. Rosemarie war für nichts zu gebrauchen. Sie fühlte sich schuldig an Julias Tod. Schließlich war sie klug genug, meine Pointe aus dem Flugzeug mit der Szene auf dem Golfplatz zu verbinden, in der der Dünne den Abschlag tätigt und sagt: „In diesem Augenblick … ist Ihre Freundin tot!“

„Sie ist meinetwegen gestorben, John“, sagte Rosemarie und weinte bitterlich.

„Nein, Schatz, das stimmt nicht. Sie wusste, worauf sie sich einließ, als sie mit dir und Trish die Kamera-Nummer durchzog. So etwas hätte jederzeit passieren können.“

„Blödsinn! Niemand tötet einen Menschen, weil der ihm die Kamera geklaut hat“, rief sie.

„Rosie, du hast nichts mit Julias Tod zu tun.“

„Doch, John, es ist meine Schuld. Wir müssen endlich aufhören, so zu tun, als wäre unser Handeln folgenlos. Alles hat mit allem zu tun. Julia ist tot, weil der Dünne dachte, sie wäre deine Freundin. Und das bin ich. Also hätte ich sterben sollen.“

„Was hast du gerade gesagt?“ Ich starrte Rosemarie an wie einen Propheten.

„Ich sagte, ich hätte sterben sollen.“

„Nein, nein, das davor“, entgegnete ich.

„Alles hat mit allem zu tun“, antwortete Rosemarie.

„Genau das hat der Dünne auch gesagt“, murmelte ich.

„Wir müssen etwas ändern!“, forderte Rosie. „Dein Krankenhausaufenthalt, unsere Flucht, Julias Tod, der arme Nathan … Das alles darf nicht umsonst gewesen sein. John, haben wir denn gar nichts aus Asien mitgenommen?“

„Mitgenommen? Was meinst du?“ Ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte.

„Ich meine, wir müssen uns mehr um unsere Chakren kümmern!“, verkündete sie mit ernster Miene.

„Chak was?“ Ich verstand nur Bahnhof.

„Schatz, ich habe viel gelesen, während du mit Nathan in diesem Kiosk gesessen hast und …“

„Gelesen?“, unterbrach ich Rosemarie. „Was denn?“

„Na, über Energiezentren und …“

„Auweia!“, entfuhr es mir.

„Was ist das denn für eine abfällige Bemerkung? John, du musst dich öffnen! Du musst deine Mitte finden, sonst kommen wir nie zur Ruhe.“

Ich ließ meinen Zeigefinger langsam meinen Oberkörper hinuntergleiten, bis ich damit mein bestes Stück erreichte. „Gefunden!“, rief ich und lächelte schelmisch.

„John, nimm das ernst!“, schrie Rosemarie und dokumentierte damit, dass ihr fernöstlicher Lesestoff sie bislang nicht zu einer ausgeglichenen Person gemacht hatte.

Doch auch ich war jetzt stinksauer. Wütend nahm ich das Erstbeste, was mir in die Finger geriet, und warf es auf den Boden. Es war die Fernbedienung des Fernsehers. „Rosemarie …“, begann ich, während das Gerät ansprang.

„… es mag ja sein, dass es Menschen gibt …“, fuhr ich fort, doch Rosie widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Sprecher der Abendnachrichten.

„Also, was ich meine, Schatz, ist …“

„Halt die Klappe!“, schrie sie und starrte auf den Fernseher.

„… Bei dem Massaker sind nach örtlichen Angaben vierzehn Menschen getötet worden. Die Toten wurden in einem verlassenen Militärbunker und in einem Wald im südöstlichen Teil der Region gefunden. Sie wurden teilweise bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Immer wieder gab es in dem Gebiet in den vergangenen Monaten erbitterte Kämpfe rivalisierender …“

„Nathan!“, rief ich erfreut. „Er lebt!“

„Und mordet!“, schrie Rosemarie mich an.

„Verstehst du nicht, Rosie? Das ist die Art, wie wir unseren Seelenfrieden finden!“ Ich zeigte auf den Fernseher. „Wir müssen Tossek töten! Deswegen sind wir hierher zurückgekommen.“

„Und dann?“, fragte Rosemarie.

„Dann kommen wir endlich zur Ruhe. Schluss mit der Flucht. Schluss mit dem Verstecken. Schluss mit der Angst, entdeckt zu werden. Schluss mit … mit den Ckakren und dem ganzen …“ Rosemarie blickte mich wütend an.

„Ach, ist auch egal“, beeilte ich mich zu beschwichtigen, bevor sie explodierte. „Wir müssen Tossek töten!“, wiederholte ich. „Das ist alles, was zählt. Dann sind wir frei!“

Doch Rosemarie O’Dowell war keine Frau, die schnell ihre Meinung änderte. Und ich war kein Mann, der schnell einen Plan aufgab.

Und so stritten wir bis spät in die Nacht.