Am Anfang sind Sie vorsichtig, wenn Sie auf der Flucht sind. Sie beobachten die Menschen um sich herum genau. Aber wenn Sie Ihre Flucht gut vorbereitet haben, sind Sie der Einzige, der sich im Supermarkt ständig umdreht und sich für seine Mitmenschen interessiert. Schnell werden Sie feststellen: Für Sie interessiert sich niemand.
Selbstverständlich haben Sie immer die Möglichkeit, dies zu ignorieren. Sie können einen lebensfüllenden, all Ihre Aktivitäten beherrschenden Verfolgungswahn entwickeln. Dann sitzen Sie zum Beispiel auf der Toilette eines Edelrestaurants und lauschen, was der Mensch neben Ihnen in seiner Kabine so treibt. In der Regel werden Sie aber nur Zeuge eines mehr oder weniger geräuschvollen Pupses.
Rosie und mir war das recht früh klar. Wir durchliefen daher die – soweit man das so nennen darf – normalen Phasen einer Flucht: Nachdem wir uns in sonnige Gefilde abgesetzt hatten, verabschiedeten wir uns nach einigen Monaten der besonderen Vorsicht von unserer Paranoia.
Wir fühlten uns sicher.
So betraten wir eines Abends besagtes Edelrestaurant (in dem ich nie auf der Toilette meinen Nebenmann belauschte) und warteten darauf, vom Kellner platziert zu werden. Prompt wurde uns ein schöner Tisch in einer lauschigen Ecke des Lokals zugewiesen. Alles sprach dafür, dass dies ein großartiger Abend werden würde.
Bis der Kellner den nächsten Gast begrüßte.
Mit sehr lauten und deutlichen Worten wandte sich der Gast dem Kellner zu. Er klang, als kündigte er im Kolosseum den Beginn der Spiele an:
„Mein Name ist Dick Tossek!
Ich bin hier mit zwei Freunden verabredet, die einen Tisch reserviert haben.“
Wenn es einen Augenblick in meinem Leben gegeben hat, in dem ich Angst hatte, einen Herzinfarkt zu erleiden, dann war es dieser. Mein Herz raste. Ich war innerhalb von Sekunden schweißnass. Mein Mund war trocken und mir war speiübel.
Wie hypnotisiert fixierte ich den Mann, vor dem Rosemarie und ich geflüchtet waren.
„Ich bin“, fuhr Tossek hörbar gut gelaunt fort, „da!“, und zeigte mit dem Finger auf uns. Festen Schrittes begab er sich in unsere Richtung.
„Hallo, John! Hallo, Rosemarie!“, rief er freudig erregt. „Schön, euch zu sehen! Ihr habt doch nichts dagegen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm Tossek einen Stuhl vom unbesetzten Nebentisch und setzte sich zu uns. Sofort bemächtigte er sich der Speisekarte.
Er sah ganz anders aus, als man sich den König der Unterwelt vorstellt: Er war klein. Kaum über einen Meter sechzig. Und spindeldürr. Er trug eine Khakihose und ein weißes, schlecht gebügeltes Baumwollhemd, das er bis zum obersten Knopf geschlossen hatte. Darüber hatte er ein dunkelbraunes Cordsakko an. Was mich aber am meisten überraschte, war sein Alter: Dick Tossek musste deutlich über achtzig sein. Sein schmales, blasses Gesicht war das eines Mannes, der dem Tod näher schien als dem nächsten Drink. Einzig seine hellblauen, wachen Augen und seine klaren, lauten Worte verrieten, wie viel Leben noch in ihm steckte.
„Ach, was quäle ich mich hier lange mit der Karte“, sagte er und legte sie sogleich zurück auf den Tisch. „Ihr seid ja öfter hier. Was könnt ihr mir empfehlen?“
Ich nahm all meinen Mut zusammen und stellte die einzige Frage, die mich in diesem Leben noch interessierte. Und wenn es das Letzte war, das ich vor meinem sicheren Tod noch erfahren durfte:
„Wie haben Sie uns gefunden?“
Tossek blickte mir direkt in die Augen. Sekunden vergingen. Er verzog keine Miene. Dann sprach er. Und nach jedem Wort machte er eine kleine Pause:
„John, … wo … ist … mein … Geld?“
Für meine Frage hatte ich meine ganze Kraft aufgewandt. Ich brachte keinen geraden Satz mehr raus. Stattdessen stammelte ich: „Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein …“
Meine Beine begannen zu zittern. Tossek legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Dabei sah er mir weiterhin fest in die Augen.
„Wo ist mein Geld?“, wiederholte er, während ich weiter wie in einer Endlosschleife: „Nein, nein, nein, nein, nein …“, rief und das Zittern meiner Beine in ein Zappeln überging.
Dann wachte ich auf.
Neben mir auf dem Bett saß Rosie. Mit einer Hand kramte sie in ihrer Handtasche. Die andere lag auf meinem Bein.
„John, wo ist mein Geld? Ich suche mein Portemonnaie.“
Sie lächelte. „Hast du geträumt?“
Ich blickte schweißgebadet zu ihr auf.
„Ja“, brachte ich benommen über die Lippen.
„Dein Geld liegt auf dem Beistelltisch im Flur.
Viel Spaß beim Shoppen.“