Meeresrauschen, ein guter Kaffee und …

Rosemarie kam erst am Abend von ihrer Shopping-Tour zurück. Ich hörte sie im Flur kichern, nachdem sie die alte Milchkanne umgeworfen hatte, die wir als Schirmständer benutzten. Offensichtlich hatte sie den Kauf neuer Klamotten standesgemäß gefeiert – mit mindestens einem Glas zu viel.

Ich dagegen hatte den ganzen Tag gegrübelt. Der Tossek-Traum hatte mich aufgewühlt. Ich begann daran zu zweifeln, ob wir es bis ans Ende unserer Tage entspannt hier aushalten würden. Rosemarie vielleicht. Sie hatte sich gut eingelebt. Aber ich? Ich verbrachte meine Zeit damit, die kryptischen Aussagen eines Nathan Lorker zu entschlüsseln, um herauszufinden, ob uns vielleicht doch jemand auf der Spur war.

„Halloooo, Schaaaatz!“ Rosie lugte mit dem Kopf hinter dem Türrahmen hervor. In der rechten Hand hielt sie ein paar Schuhe, die sie triumphierend an ihren Riemen herunterbaumeln ließ.

„Fette Beute gemacht, wie?“, fragte ich.

„Jaaaa! Und guck mal, was ich noch hab.“ Sie rutschte um den Türrahmen herum und hielt in der anderen Hand eine Kamera.

„Wart ihr wieder ungezogen?“ Ich setzte einen strengen Blick auf.

„Nicht böse sein.“ Rosemarie lächelte entschuldigend.

„Ach was“, sagte ich. „So kann ich wenigstens wieder zu Nathan gehen und hören, was es Neues gibt.“

„Du hast noch gar nicht von gestern Abend erzählt“, beschwerte sich Rosie. „Wie war’s denn? Was hat Nathan gesagt?“

„Der schwarze Pfirsich steht im Achtzig-Grad-Winkel zum Herbstwind.“ Ich lachte laut, weil sich dieser irrwitzige Satz sofort durch ein großes Fragezeichen in Rosemaries Gesicht widerspiegelte.

„Armer Nathan Lorker“, sagte sie. „Hast du versucht herauszufinden, was es bedeuten soll?“

„Leider ja.“

„Bist du deswegen so mies gelaunt?“, hauchte Rosemarie und streckte mir ihren Ausschnitt entgegen. Doch es hatte nicht die von ihr gewünschte Wirkung. Denn statt der sexuellen Anspielung, die in ihrer aufmunternd gemeinten Geste steckte, kam bei mir der Geruch von Alkohol an.

„Was gab’s denn zu trinken?“, wollte ich wissen.

„Leckeren Rotwein. Ich hab uns auch noch eine Flasche mitgebracht. Die gönnen wir uns, während wir uns die Bilder anschauen.“ Rosemarie warf mir die Kamera zu und hechtete direkt hinterher zu mir ins Bett. Mit gespielt böser Miene blickte ich ihr tief in die Augen. „Kann es sein, dass ich jetzt aufstehen muss, um den Wein und die Gläser zu holen?“

„Hi, hi, hi“, kicherte sie und versteckte ihr Gesicht unter dem Kopfkissen.

Ich stand auf und ging in die Küche. Als ich mit dem Wein und den Gläsern wieder ins Schlafzimmer kam, hatte es sich Rosemarie bereits bequem gemacht. Sie hatte ihr Kleid ausgezogen, lag auf dem Rücken und hatte die Kamera vor der Nase. „Darf ich schon anfangen zu gucken?“

„Nein, warte! Ich schenk uns was ein und wir gucken zusammen. Das macht doch viel mehr Spaß.“

Dann lagen wir nebeneinander im Bett und Rosemarie begann, die Bilder durchzuklicken. Schon beim ersten Bild verfinsterten sich unsere Mienen. Beim zweiten glitt Rosie das Weinglas aus der Hand. Die rote Flüssigkeit sickerte ungehindert ins Bett. Beim dritten Bild schleuderte ich ein: „Verdammte Scheiße!“, aus mir heraus. Beim vierten Bild fing Rosie an zu heulen.

Auf der Kamera waren Fotos von unserem Haus.

Außerdem Fotos von Rosemarie, wie sie als Mann verkleidet mit Julia das Haus verließ.

Und Fotos von mir am Strand vor Nathans Kiosk.

„Verdammte Scheiße!“, wiederholte ich. „Scheiße, Scheiße, Scheiße! Wie konnte das passieren?“

„John, ich, ich …“, stotterte Rosemarie.

„Wem habt ihr diese Kamera geklaut?“, unterbrach ich sie barsch. „Los, denk nach!“ Meine Laune war im Keller.

„Ehrlich, John, ich weiß es nicht. Ich …“

„Denk nach, hab ich gesagt!“

„Ich sag doch, dass ich es nicht weiß. Wir haben vier Kameras geklaut. Drei waren so wie diese hier.“

„Na großartig, wir sind im Arsch!“ Ich schlug mit der Hand aufs Bett.

„Vielleicht ist es auch ganz anders“, sagte Rosie. „Vielleicht haben wir jetzt einen Vorteil, weil wir wissen, dass uns jemand auf der Spur ist.“

„Ach ja?“, antwortete ich. „Schon mal drüber nachgedacht, dass derjenige, dem ihr die Kamara geklaut habt, genau das wollte?“

„Wieso das denn?“

„Weil er weiß, dass wir hier jetzt wie aufgescheuchte Hühner rumspringen. Er spekuliert darauf, dass wir unsere Beute holen und flüchten wollen.“

„Warte, Schatz, aber dann ist doch in jedem Fall klar, was wir jetzt machen.“ Rosemarie wirkte plötzlich stocknüchtern. Sie war die Ruhe selbst.

Von mir konnte man das nicht behaupten. „Ach ja, Frau Schlaumeier, und was soll das sein?“

„Nichts!“

„Nichts?“ Ich verzog das Gesicht. „Willst du hier warten, bis Tosseks Leute kommen, um uns abzuschlachten?“

„Du hast doch selbst gesagt, dass es falsch wäre, jetzt die Beute zu holen und uns abzusetzen, weil das genau das ist, worauf die warten. Und wenn es nur ein Zufall ist, dass wir die Kamera geklaut haben, und die nicht wissen, dass wir jetzt wissen, dass sie uns suchen, haben wir Zeit zum Nachdenken gewonnen und müssen auch nicht flüchten. Alles klar?“

„Also, das war jetzt ein bisschen zu schnell für mich. Du meinst …“

„Ich meine“, unterbrach Rosemarie mich, „du solltest morgen noch einmal zu Nathan gehen, während ich in Ruhe ein paar Dinge für unseren geordneten Rückzug vorbereite.“

Mit leerem Blick sah ich sie an.

„John, versuche, etwas aus Nathan herauszubekommen!“, drängte Rosie.

„Ja, ist ja gut. Ich gehe morgen noch einmal zu ihm“, erwiderte ich. Dann stand ich auf und riss Rosemarie das Bettlaken unterm Hintern weg, so dass sie fast aus dem Bett purzelte.

„Hey, was soll das?“, beschwerte sie sich lachend.

„Schon vergessen? Du hast den guten Wein ins Bett gekippt.“

Wir wechselten die Bettwäsche und versuchten zu schlafen.

Es war eine unruhige Nacht. Ich achtete auf jedes Geräusch:

Schlich da jemand ums Haus?

War jemand an der Tür?

Auf dem Dach?

Am Auto?

Gedanklich begab ich mich immer weiter weg von unserem Bett auf die Suche nach den Eigentümern der Kamera, die Rosie gestohlen hatte.

Bis ich endlich einschlief.

Am nächsten Morgen war ich wie gerädert. Rosemarie ging es nicht besser. „Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugemacht“, begrüßte sie mich im Badezimmer.

„Ach, tatsächlich? Ich habe geschlafen wie ein Baby“, brachte ich gähnend heraus, während ich mit zu viel Kraft auf die Zahnpastetube drückte.

„Mit offenen Augen?“, gähnte Rosie zurück.

„Woher weißt du das?“

„Meine waren auch auf“, sagte sie, lachte und zeigte auf meine Zahnbürste, von der die Paste tropfte.

Aber mir war nicht zum Lachen zumute. „Schatz, wir brauchen einen Plan. Wenn ich von Nathan zurück bin, müssen wir uns hinsetzen und uns was Schlaues ausdenken. Ganz gleich, was Nathan mir erzählen wird: Ich will nicht noch mehr schlaflose Nächte in diesem Haus verbringen.“

Rosemarie sah mich aus geschwollenen Augen an. „Da sind wir uns einig.“

„Na dann“, sagte ich, putzte mir im Schnellverfahren die Zähne, drückte Rosie zwei Küsse auf ihre dicken Augen und machte mich auf den Weg zum Strand.

Als ich vor Nathans Kiosk stand, wurde mir noch klarer, wie wenig ich geschlafen hatte und wie sehr mich die Bilder auf der gestohlenen Kamera aus dem Rhythmus gebracht hatten: Es war erst sechs Uhr und der Kiosk war noch geschlossen.

Ich lehnte mich an die Seitenwand des Kiosks, blickte aufs Meer und lauschte dem Rauschen der anbrandenden Wellen.

Dann döste ich ein.

„Hey, du Penner“, wurde ich – begleitet von einem Stiefelstupser – geweckt.

Wie eine Sprungfeder schnellte ich hoch, um meinem Feind zu begegnen. Doch ebenso schnell lag ich wieder im Sand. Nathan hatte mir die Beine weggerissen und lachte mir triumphierend ins Gesicht: „Du wolltest doch nicht etwa einen Veteranen angreifen, oder?“

„Oh, Nathan, tut mir leid. Ich war eingenickt und habe reflexartig reagiert. Ich …“

„Schon gut, John. Ich hab auch nicht gleich gesehen, dass du es warst. Sonst hätte ich Blumen mitgebracht“, erwiderte Nathan immer noch lachend. „Los, komm mit rein!“

„Kaffee?“, fragte er, nachdem er mir einen Schemel als Sitzplatz unter den Hintern geschoben hatte.

Ohne meine Antwort abzuwarten, schickte er ein: „Na klar“, hinterher und schmiss seinen Automaten an. Wenige Minuten später hatten wir beide unsere großen Becher Kaffee in den Händen.

„Was treibt dich zu mir – so früh am Morgen? Warst du nicht gestern schon hier?“, fragte Nathan aus luftiger Höhe. Er war auch sitzend gut vierzig Zentimeter größer als ich.

Ich konnte schwer ausmachen, ob seine Frage ironisch gemeint war oder ob er sich wirklich nicht sicher war, mich am Vortag gesehen zu haben. Nathans Synapsen waren anders verdrahtet als die eines berechenbaren Menschen. Dessen musste man sich stets bewusst sein. Also suchte ich nach dem richtigen Einstieg in unser Gespräch.

„Ja klar. Völlig richtig, Nathan. Ich meine: Ja, wir haben gestern schon geredet. Oder besser: Ich habe … Also ich meine: Du hast …“

„Sag mal, was wird das hier? Willst du mir einen Heiratsantrag machen? Oder wieso stotterst du so rum?“, fuhr er mich an.

„Ach, Scheiße, es nützt nichts. Ich muss es wissen: Ist jemand hinter mir her? Hat sich bei dir jemand nach Rosemarie oder mir erkundigt? Hast du irgendwas gehört?“

Meine Nerven lagen blank.

Nathan blieb stumm.

Ich blickte zu diesem schweigenden Hünen auf wie ein Todkranker, der in der Kirche kniet, das Kruzifix anstarrt und auf Rettung hofft.

Nathan blieb stumm.

„Sind Rosemarie und ich in Gefahr? Bitte sag mir, was du weißt!“, flehte ich ihn an.

Nathan blieb stumm. Minutenlang.

Ich war an einem Punkt, an dem ich aufgeben wollte.

Doch plötzlich sprach Nathan.

„Rosemarie …“, begann er. Aber er stoppte sogleich wieder.

„Was ist mit ihr?“

Ruckartig beugte sich der Hüne zu mir herunter, so dass ich meinen Kopf zurückzog – aus Angst, er könnte mich ausknocken.

„VOLLE DECKUNG!“, schrie er.

Es war das Letzte, woran ich mich erinnern konnte.

Danach war Nathan verschwunden.

Und der Kiosk.

Und ich.

Mit einer einzigen, ohrenbetäubenden Explosion war alles weg.

Schwarz und aus.