Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich in einem Krankenhausbett. Dünne Plastikleitungen und sonstige Schnüre führten aus allen Himmelsrichtungen zu meinem Körper, um darin zu verschwinden.
Das Erste aber, was ich erblickte, war Rosemaries Gesicht. Sie sah schrecklich aus. Wenn Sie nach der Definition des Wortes Angst suchen, müssen Sie die Gesichter von Angehörigen studieren, die um das Leben eines geliebten Menschen bangen. In diesen Gesichtern finden Sie die Angst.
„Er ist wach! Er ist wach! Schwester, er ist wach! Kannst du mich hören, Schatz? Siehst du mich richtig? John, sag doch was!“ Rosies Worte dokumentierten die Angst, die ich in ihrem Gesicht gefunden hatte.
„Hi“, krächzte ich dünn. Meine Stimme war kaum vorhanden und dieser eine Laut ließ meinen trockenen Hals schmerzen.
Ein Haufen anderer Gesichter rückte jetzt in mein Blickfeld. „Es ist ein Wunder!“, sprach eines davon.
„Gehen Sie beiseite“, kam es aus einem anderen, das sich sogleich vor meine Nase drängte. „Können Sie mich hören?“
„Jau, jau“, murmelte ich, während ich im Hintergrund Rosemarie schluchzen hörte: „Geht es ihm gut, Herr Doktor? Wird er wieder gesund?“
„Sehen Sie mich klar und deutlich?“, sprach es aus dem Gesicht, das sich so nah an meine Nase gewagt hatte.
„Jau, jau“, wiederholte ich.
„Heben Sie bitte mal Ihren rechten Arm“, forderte der Arzt. „Jetzt den linken“, fuhr er fort, nachdem ich den Test bestanden hatte. „Und jetzt die Beine.“
Während ich im Bett das Strampelprogramm absolvierte, starrten mich Rosemarie und sechs Menschen in weißen Kitteln erwartungsvoll an. Derartig viele sorgenvolle Mienen gaben mir zu denken: „Bin ich noch in einem Stück?“
„Ja, das bist du. Und du hast verdammtes Glück gehabt!“, rief Rosemarie, noch bevor einer der Weißkittel etwas sagen konnte.
„Glück?“, fragte ich und blickte auf meinen Bauch, der aussah, als hätte ich versucht, den ehrenvollen Selbstmord eines Samurais nachzustellen. „Was ist passiert?“
„Einige Splitter haben sich in Ihren Körper gebohrt und Ihre Gedärme verletzt“, sagte der Arzt. „Sie hatten wirklich großes Glück, dass nicht noch mehr passiert ist. Denn abgesehen von den Darmverletzungen sind Sie – um auf ihre Frage zurückzukommen – in der Tat noch in einem Stück.“
„Wie lange war ich weg?“
„Vier Tage“, sagte der Arzt. „Um Sie zu stabilisieren, hatten wir Sie in ein künstliches Koma versetzt.“
„Vier Tage!“, wiederholte Rosemarie und die Tränen kullerten ihr aus den Augen. „Schatz, wie fühlst du dich?“
„Ich sah ein warmes, weißes Licht. Dann tanzte ich auf einem Blumenfeld. Ich war fröhlich. Und alles war gut“, antwortete ich.
Rosie sah mich mit der Gewissheit an, dass Teile meines Gehirns schweren Schaden genommen hatten.
Bis ich nicht mehr an mich halten konnte und unter großen Schmerzen laut lachte.
Rosemarie war stinksauer: „Du verdammter Blödmann! Ich mach mir Sorgen, ob du durchkommst, und du hast nichts Besseres zu tun, als mich nach dem Aufwachen zu verarschen!“
„Tut mir leid, Schatz. Die Versuchung war zu groß. So eine Gelegenheit kommt hoffentlich nie wieder.“
Auch die Weißkittel lachten jetzt. „Ich sehe schon, Sie sind bei Ihrer Frau in besten Händen. Die Schwester kommt gleich noch einmal zu Ihnen“, sagte der Arzt, drehte sich um und trieb damit das restliche Personal Richtung Tür vor sich her. Dann war ich mit Rosemarie allein.
„Was zur Hölle ist passiert?“, fragte ich.
Rosie zuckte mit den Schultern. „Die Polizei denkt, dass es jemand auf Nathan abgesehen hatte. Eine alte Rechnung aus irgendeinem Krieg. Nathan war ja überall dabei. Deswegen tappen sie im Dunkeln.“
„Ist Nathan tot?“, wollte ich wissen.
„Spurlos verschwunden“, antwortete Rosemarie.
„Verschwunden?“ Ich konnte es kaum fassen. „Dieser verdammte Unsterbliche! Wie macht der das? Unsereins liegt mit zerfetzten Gedärmen im Krankenhaus und Nathan Lorker zieht seine Houdini-Nummer ab. Verdammte Schei …“
„John, beruhige dich!“, unterbrach Rosemarie mich. Und natürlich hatte sie recht. Statt mich zu freuen, dass Nathan nicht verstreut am Strand lag, war ich sauer, dass er nicht das Zimmer mit mir teilte.
„Die Bullen werden dich verhören wollen“, sagte Rosemarie jetzt.
„Dann musst du aber dabei sein“, antwortete ich. „Mit meinen Sprachkenntnissen rede ich mich sonst um Kopf und Kragen.“
„Das kriegen wir schon hin, Schatz. Das kriegen wir schon hin“, sagte Rosie mit tränenerstickter Stimme und vergrub ihren Kopf in meiner Bettdecke.
Meine Hand strich über ihr Haar. „Süße, mach dir keine Sorgen. Ich komm wieder auf die Beine.“
Doch das sollte sich schwieriger gestalten als gedacht.
In meinen Gedärmen ging es drunter und drüber. Nach zwei Tagen wurden die Schmerzen unerträglich. Mein Bauch war aufgebläht. Dadurch schmerzten nicht nur meine Innereien, sondern auch die Narben auf meinem Bauch, die ständig unter Spannung standen.
Ich bekam eine Dosis Schmerzmittel, die einen Elefanten lachend durch ein Kaktusfeld gebracht hätte.
Doch bei mir wirkten sie nicht.
Jede noch so leichte Bewegung trieb mir vor Schmerzen die Tränen in die Augen. Und so lag ich die ganze Zeit flach auf dem Rücken und atmete ebenso flach, weil jeder tiefe Atemzug höllisch wehtat.
Dadurch wurde meine Lunge schlecht belüftet.
Nach einer Woche hatte ich eine Lungenentzündung.
Zusätzlich griffen die starken Schmerzmittel meine Leber an. Und so stellten mich die Ärzte vor die Wahl:
Entweder die Schmerzen ohne Medikamente ertragen.
Oder ein bleibender Leberschaden.
Ich dachte an die ausgedehnten Rotweinabende mit Rosemarie – und entschied mich für die Schmerzen.
Um mir das Ganze einigermaßen erträglich zu machen, bekam ich eine tragbare Pumpe, die mit einem leichteren Schmerzmittel befüllt war. Über einen Schlauch beförderte die Pumpe das Medikament in mein Rückenmark. Mit diesem Ding in der Hand schlurfte ich stark vornübergebeugt über die Krankenhausflure.
An aufrechtes Gehen war nicht zu denken. Die Schmerzen waren die Hölle. Doch ich musste aufstehen und durchs Haus wandern, damit meine Lunge wieder Luft bekam.
Man glaubt gar nicht, was einem alles passieren kann, wenn man in einem Strandkiosk mal in Ruhe einen Kaffee trinken will.
Gaaanz laaangsam verlief mein Heilungsprozess.
Rosemarie war in diesen Tagen eine großartige Unterstützung. Sobald ich wieder feste Nahrung zu mir nehmen konnte, brachte sie mir allerlei Leckereien von zu Hause mit, was ich als Abwechslung zum Krankenhausessen besonders genoss. Außerdem brachte sie mich bei jedem ihrer Besuche zum Lachen, weil sie mich mit unterschiedlichen Verkleidungen überraschte. Natürlich war das Ganze nicht nur zum Spaß gedacht. Rosie und ich hatten es abgesprochen, damit wir als Paar nicht zu leicht zu identifizieren waren. Schließlich lag ich wie auf dem Präsentierteller. Und dass der Anschlag auf den Kiosk Nathan gegolten hatte, glaubte nur die Polizei. Rosemarie und ich hatten unsere eigene Theorie. Die Fotos auf der gestohlenen Kamera waren eine eindeutige Botschaft. Irgendjemand war uns auf die Spur gekommen.
Trotzdem waren Rosies Rollenwechsel auch ein Riesenspaß. Ich stellte mir vor, was die Ärzte und Krankenschwestern wohl von mir dachten. Für sie sah es so aus, als hätte ich ständig wechselnden Damenbesuch. Rosemarie war voll in ihrem Element. Einen Tag vor meiner Entlassung lieferte sie ihr Meisterstück ab: Sie kam als Arzt verkleidet ins Krankenhaus.
Und ich hab’s nicht gemerkt.
„Wie geht’s Ihnen heute?“, fragte sie mit tiefer Stimme und akzentfreier Sprache.
„Ganz gut, Herr Doktor“, antwortete ich. „Muss aber auch so sein. Morgen soll ich ja entlassen werden.“
„Vorher müssen wir aber noch ein paar Tests machen“, polterte es scharf zurück.
Verstört blickte ich den Arzt an. „Tests?“
„Sehr richtig: Tests. Lehnen Sie mal Ihren Kopf zurück und schließen Sie die Augen.“
Artig setzte ich mich auf die Bettkante, lehnte meinen Kopf nach hinten und schloss die Augen.
„Mund auf!“
Ich öffnete den Mund.
„Erster Test: Was ist das?“ Aus einer Pipette tröpfelte Flüssigkeit in meinen Mund.
„Scotch! Herr Doktor, was …“
Rosemarie lachte schallend, riss sich den Kittel vom Leib und fiel mir um den Hals. „Oh Schatz, ich bin so froh, dass es dir besser geht!“
Ich war so perplex, dass ich keinen vernünftigen Satz rausbrachte. „Rosie, wie … ich meine, das gibt’s doch … also … unglaublich …“
Sie lachte weiter, bis ihr die Tränen kamen. Dann sagte sie: „John, ich habe alles vorbereitet. Wenn du morgen entlassen wirst, verschwinden wir von hier. Wir machen es genau so, wie wir es abgesprochen haben. Egal, was passiert.“
„Ausgezeichnet“, sagte ich. Und das meinte ich ernst. Unser Zufluchtsort war nicht mehr sicher. Es war höchste Zeit, sich abzusetzen.
In der letzten Nacht im Krankenhaus dachte ich lange über die vergangenen Tage nach. Der Tossek-Albtraum, die Bilder auf Rosemaries Kamera, der Anschlag auf den Kiosk: Mir ging alles gleichzeitig durch den Kopf.
Wer war uns auf den Fersen?
Was wusste Nathan?
Wem würde mein Tod nutzen?
Oder sollte doch Nathan sterben – und ich war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?
Doch am nächsten Tag hatte ich eine ganz andere Frage:
Wo war ich?