Zeit zum Sterben

Dunkelheit. Hundert Prozent schwarz. Sie hatten mich in einen Raum gesteckt, in dem es kein Licht gab – weder elektrisches noch Tageslicht. Ich hockte in der Finsternis auf dem Boden und dachte über meine Lage nach.

Es gibt Entscheidungen im Leben, die sind schnell und einfach zu treffen: Pizza oder Penne? In die Berge oder an den Strand? Kino oder Theater?

Aber über die Antwort auf die Frage, ob man schweigen sollte – und damit den Tod eines Menschen auslöst – oder ob man reden sollte – und dadurch sein Vermögen verliert und danach vermutlich umgebracht wird –, lohnt es sich, länger nachzudenken.

Immer wieder hatte ich dabei Rosemaries Gesicht vor meinem geistigen Auge und dachte an ihre Worte, als ich sie das letzte Mal sah: „John, ich habe alles vorbereitet. Wenn du morgen entlassen wirst, verschwinden wir von hier. Wir machen es genau so, wie wir es abgesprochen haben. Egal, was passiert.“

Dann tauchte der dünne Roboter auf. Und alles war anders.

Ich versuchte eine Fehleranalyse: Wie war ich in diese hoffnungslose Situation geraten?

Ab wann hatte ich die Kontrolle verloren?

Was hätte ich anders machen müssen?

Die Fotos. Sie waren der Anfang. Aber nein. Eigentlich musste es schon viel früher begonnen haben. Warum hatte ich nicht bemerkt, dass wir offensichtlich über lange Zeit beobachtet worden waren? Ich hatte mich zu sicher gefühlt und mich auf Nathan Lorker als einzige Informationsquelle verlassen. Das war grob fahrlässig.

Dadurch war ich auch leicht auszurechnen. Es war klar, dass es mich zu Nathan ziehen würde, nachdem ich die Fotos gesehen hatte. Und Nathans Kiosk in tausend Teilen über den Strand verstreut zu sehen, hätte sicher dazu geführt, dass Rosemarie und ich die Flucht angetreten hätten.

Der dünne Roboter wusste alles über mich.

Deshalb war ich jetzt in seinem Keller gefangen.

Wie sollte ich hier je lebend herauskommen?

Wie?

Wie?

Wie?

Dann geschah das Unglaubliche:

Ich nickte ein.

Eine Stimme weckte mich: „Hey, du!“ Der Oder-Typ stand mit einem weißen Kittel bekleidet in der Tür und hielt ein Tablett in der Hand. „Hunger, oder?“ Noch bevor ich antworten konnte, schob er mir das Tablett rüber. „Du hast eine halbe Stunde. Dann geht’s zum Golfen“, sagte er und grinste breit.

Und plötzlich erkannte ich ihn.

Er war einer der Ärzte aus dem Krankenhaus.

Ab diesem Zeitpunkt war ich sicher, dass sie mich umbringen würden. Denn ganz egal, ob Sie ein Auftragsmörder oder die Tochter eines Millionärs sind: Wenn Sie einen Ihrer Entführer erkennen, sind Ihre Chancen, die Sache zu überleben, gleich null.

Ich aß mein Frühstück mit der Gewissheit, dass es mein letztes sein würde.

Exakt dreißig Minuten später war der Oder-Typ wieder da, um mich abzuholen. Zwei der Maschinenpistolenmänner sorgten dafür, dass ich nicht auf dumme Gedanken kam. Zu viert machten wir uns auf den Weg. Niemand sprach ein Wort. Jetzt, da ich mein Gefängnis verließ, erkannte ich, dass es ein flacher Bunker war, der sich in einem Wald über rund hundert Quadratmeter erstreckte.

Nach wenigen Minuten gelangten wir ans Ende des Waldes. Vor uns lag ein prächtiger Golfplatz, der einem professionellen Turnier zur Ehre gereicht hätte. Zirka hundert Meter entfernt auf einem Hügel stand der dünne Roboter und winkte uns mit einem Golfschläger in der Hand zu sich.

„Nun?“, fragte er, als wir auf dem Hügel angekommen waren.

„Nun was?“, fragte ich zurück.

„John, man könnte meinen, Sie hatten genug Zeit zum Nachdenken“, antwortete er unwirsch.

Aber es war nicht meine Absicht, ihn in bessere Laune zu versetzen. „Worüber noch gleich?“

Er zeigte mit seinem Schläger auf mich. „Sie strapazieren meinen guten Willen.“

„Oh, Verzeihung, der muss mir bislang entgangen sein.“

Ich hatte mich kurzfristig für eine konfrontative Strategie entschieden. Wenn ich schon sterben sollte, wollte ich wenigstens bis zum Schluss noch ein bisschen Spaß haben. Und die Vorstellung, einen Roboter zum Ausflippen zu bringen, entlockte mir ein Lächeln.

Allerdings war er eine harte Nuss: „Sie sind witzig. Das gefällt mir. Denn das wird in einem besonders starken Kontrast zu der Gemütslage stehen, die ich gleich bei Ihnen auslösen werde. Und Sie müssen wissen: Ich schaue gerne Menschen dabei zu, wie sie zusammenbrechen.“

„Ach, das kommt jetzt aber völlig überraschend für mich.“

Ans Aufgeben war nicht zu denken.

Aber er hatte noch ein Ass im Ärmel.

„Ihre Renitenz ist mit einer Arroganz gepaart, die Ihrer Lage nicht angemessen ist, lieber John. Ich versichere Ihnen: Sie sind im Arsch!“

Er winkte herüber zum Waldrand.

Und ich sah, dass er recht hatte.

Zwei weitere Maschinenpistolenträger und ein dritter Mann, der Kommandos gab, schoben mein altes Krankenhausbett herüber. Es wackelte gehörig. Nicht weil der Weg uneben gewesen wäre. Sondern weil der Mann, der auf dem Bett gefesselt lag, immer wieder mit größter Anstrengung versuchte, seine Ketten zu sprengen. Und da er riesig und äußerst muskulös war, rumpelte die Gruppe nur langsam in unsere Richtung und schaffte nur mühsam den Weg auf den Hügel. Doch mit jedem Meter, den sie zurücklegte, hatte ich ein deutlicheres Bild von dem Unheil, das auf mich zukam.

Auf dem Bett lag Nathan Lorker.

Er war nackt. An den Fußknöcheln und den Handgelenken hatten sie ihn mit Handschellen an das Bettgestell gefesselt – so wie zuvor mich. Da Nathan aber so etwas wie einen Hals nicht hatte, wurde ihm der Lederriemen, der in der Matratze verschwand und ebenfalls am Bettgestell verzurrt war, eng unter das Kinn gelegt. Immer wieder versuchte der Hüne wild schnaufend, seinen Kopf loszureißen. Doch es gelang ihm nicht.

„Na, John, hat’s Ihnen die Sprache verschlagen?“, triumphierte der Dünne.

An dieser Stelle möchte ich meine Geschichte kurz unterbrechen.

Ich weiß, dass Sie gespannt sind, wie es weitergeht.

Aber ich kann Ihnen versichern: Was jetzt folgt, ist das Widerlichste, was ich je erlebt habe.

Und ich habe in meinem Job schon viel erlebt.

Daher gebe ich Ihnen den Rat: Wenn Sie eher zarter Natur sind oder heute nicht gut gefrühstückt haben, sollten Sie die nächsten Absätze überspringen und am Anfang des nächsten Kapitels weiterlesen.

Vertrauen Sie mir: Es ist in Ihrem eigenen Interesse.

Für das, was die folgenden Zeilen in Ihnen auslösen könnten, übernehme ich keine Verantwortung.

Der dünne Roboter wandte sich an den Oder-Typen: „Doktor, bitte helfen Sie dem guten John ein wenig bei der Entscheidungsfindung. Ich glaube, dass er grundsätzlich ein verständiger Mann ist. John wird uns lieber sagen, wo Tosseks Geld versteckt ist, als seine Freundin sterben zu lassen.“ Er steckte ein Tee in den Boden und ging in die Ausgangsposition für den Abschlag.

Der Arzt kramte mit der rechten Hand in seiner Kitteltasche und schritt zum Bett.

Der nackte Nathan riss an seinen Handschellen und schrie mich an: „Jooooohn, rede!“

Schon hatte ihn der Arzt erreicht. Ohne zu zögern griff er mit der linken Hand fest zwischen Nathans Beine.

Dieser jaulte vor Schmerz: „Reeeeede!“

„Doktor, bitte, das ist ja nicht zum Aushalten. Geht das nicht schneller?“ Der Dünne sah nach vorne aufs weit entfernte Grün und simulierte seinen Schwung.

Der Arzt zog seine rechte Hand aus der Kitteltasche und hielt ein Skalpell prüfend vor seine Augen.

„NEEEEIIIIN!!!“ Nathan wusste, was kommen würde. Sein Schrei ließ alle Umstehenden zusammenzucken.

Nur der Arzt blieb ungerührt.

Mit ruhiger Hand führte er das Skalpell zwischen Nathans Beine und machte einen schnellen Schnitt. Nathan schrie wie am Spieß. Sein Blut spritzte auf den weißen Kittel des Oder-Typs, der unbeeindruckt sein Werk fortführte.

Dann hielt er Nathan Lorkers Hoden wie einen Pokal in die Luft.

„Na endlich! Bravo, bravo, bravo!“ Der Dünne winkte den Arzt zu sich herüber.

Doch der hielt weiter den Hoden in die Höhe, so als wollte er noch für die Fotos zahlreicher Schaulustiger posieren. Nathan schrie unterdessen in einer Tour.

Mit einem lauten: „Doktor!“, riss der Dünne den Arzt aus seiner Pose.

„Mein Ball!“, forderte er.

„Oh, Verzeihung, selbstverständlich sofort!“, antwortete der Oder-Typ beflissen, begab sich schnellen Schrittes zu dem Roboter und platzierte Nathans Hoden auf dem Tee.

Der Dünne sah mich an und drehte gleichzeitig den Golfschläger in seiner rechten Hand wie einen Propeller. „Nun, John? Konnte der Doktor Ihnen bei Ihrer Entscheidung ein wenig helfen?“

Ich starrte auf Nathans Hoden.

Dann sagte ich mit ruhiger Stimme: „Wissen Sie, ich habe Golf schon immer für einen dekadenten Zeitvertreib gehalten. Und mit Ihrer kleinen Einlage haben Sie meine Meinung bestätigt: Das ist nichts für mich.“

Drohend hob der Dünne seinen Golfschläger und ging auf mich zu. „Ich hab die Schnauze voll von Ihnen!“, schrie er und schaffte es damit für einen kurzen Augenblick, Nathan zu übertönen. Ich lachte höhnisch, womit ich ihn zusätzlich provozieren wollte. Doch er hatte sich schon wieder gefangen. „Sie haben es nicht anders gewollt“, sagte er und begab sich zurück in seine Ausgangsposition zum Abschlag.

„In diesem Augenblick …“

Er holte Schwung.

„… ist ihre Freundin tot!“

Getroffen vom Golfschläger des Roboters flog Nathans Hoden zirka zehn Meter mit starkem Linksdrall und klatschte gegen einen Baum.

Der dünne Roboter schüttelte den Kopf. „Herr Lorker ist keine große Hilfe bei der Verbesserung meines Handicaps.“

Während der gesamten Zeit wütete Nathan röchelnd wie ein Stier im Todeskampf an seinen Handschellen. Die Maschinenpistolenmänner hatten ihre Waffen im Anschlag. Der dritte Mann, der sie anführte, gab Kommandos.

„Doktor!“

Der Oder-Typ hatte breit grinsend Nathans Hoden hinterhergesehen und schien ihn jetzt auf dem Boden am Fuße des Baumes aufspüren zu wollen. Der Ruf des Dünnen stoppte ihn auf halber Strecke. „Ja, äh, ja, was …?“

„Sie haben einen Patienten! Sehen Sie nicht, dass der Mann leidet? Kümmern Sie sich um Herrn Lorker!“, befahl der Dünne.

„Gewiss, gewiss“, sagte der Arzt und eilte zurück zu Nathan.

Der Dünne wandte sich wieder mir zu. „Wir wollen doch nicht, dass der gute Nathan stirbt. Schließlich soll er Ihnen, lieber John, noch Gesellschaft in Ihrer Zelle leisten. Dann können Sie überprüfen, wie viel Ihre Freundschaft zu Herrn Lorker aushält. Es soll ja Männer geben, die durchaus nachtragend sind gegenüber Leuten, die dafür verantwortlich sind, dass man ihnen einen Hoden abgeschnitten hat. Und mit der Aussicht, auch den zweiten zu verlieren, wird Herr Lorker Sie sicher dazu bewegen können, uns zu sagen, wo Sie Dick Tosseks Geld versteckt haben.“

Regungslos ließ ich einige Sekunden verstreichen. Dabei blickte ich dem Roboter, ohne zu blinzeln, in die Augen. Schließlich sprach ich:

„Vergessen Sie’s!

Ich habe nichts mehr, wofür es sich lohnt, zu leben.

Es ist mir egal, was Sie mit mir anstellen: Sie werden Tosseks Geld nie bekommen. Ich werde weder Nathan noch Ihnen sagen, wo es ist.“

„Erschiiiieeeßt ihn!“, schrie der Dünne, der jetzt tatsächlich die Fassung verloren hatte.

„Ich will diesen Penner nicht mehr sehen!

Bringt ihn in den Wald und durchsiebt ihn mit Blei!

Dann verscharrt ihn!

Oder nein: Den Rest sollen sich die Tiere holen!

Los, bringt ihn weg und tut es! Jetzt!“

Sofort hatten mich die vier Maschinenpistolenmänner umzingelt.

„Abmarsch!“, befahl ihr Kommandant und zeigte auf den Wald. Ohne eine Miene zu verziehen, setzte ich mich in Bewegung.

Ich weiß nicht, wie lange wir gegangen sind. In solchen Situationen verlieren Sie das Gefühl für Zeit.

Ich kann Ihnen auch nicht sagen, woran ich auf dem Weg dachte. Es war, als wäre ich völlig leer. Irgendwann rief der Kommandant: „Halt!“

Und das war’s.

Die vier Maschinenpistolenmänner stellten sich ein paar Meter entfernt in einer Reihe vor mir auf und zielten auf mich.

Ich schloss die Augen.

Dann hörte ich die Schüsse.