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Montag, 29. Oktober

Walter, ich schwöre bei Gott, ich werde sauer, wenn Sie mir jetzt dieses Ei an den Kopf schmeißen«, sagte Naomi und hob warnend den Finger.

Der ältere Mann warf ihr einen niederträchtigen Blick zu, aber zu ihrer Überraschung – und Erleichterung – entschied er sich, von dem Ei abzubeißen, statt sie damit zu bewerfen, wie er es mit den letzten beiden getan hatte. Sie war ihnen gerade noch rechtzeitig ausgewichen, aber er hatte sie mit genug Kraft geworfen, dass sich jetzt Eiersalat über den Teppich verteilte.

»Okay, ich mache das jetzt mal sauber«, sagte sie und deutete auf die Schweinerei. »Und Sie werden sich entschuldigen.«

Er kaute und funkelte sie rebellisch an. »Wer sind Sie? Wo ist Margaret? Raus aus meinem Haus, zum Teufel.«

Naomi atmete tief ein und nahm sich vor, Janice zu fragen, ob sie katholisch war. Wenn ja, würde sie sie zur Heiligsprechung vorschlagen, weil sie sich jeden verdammten Tag mit ihm auseinandersetzte.

»Ich heiße Naomi. Ich kümmere mich um Sie, während Janice ihren Vater pflegt.«

»Janice«, wiederholte er langsam und kniff die Augen zusammen, während er versuchte, sich einen Reim darauf zu machen.

»Ja. Erinnern Sie sich an sie?«, fragte Naomi, holte den Mülleimer unter der Spüle heraus und nahm ihn mit, um die verstreuten Eierkrümel einzusammeln.

»Klar erinnere ich mich an Janice. Mannweib.«

»Walter!«, tadelte Naomi ihn mit strengem Blick. »Seien Sie nett.«

Sie hatte Janice nie kennengelernt, weshalb sie nicht wusste, ob Walter sich tatsächlich an sie oder an jemand anders erinnerte, aber sie war einfach nicht in der Stimmung, sich seine bescheuerten Kommentare anzuhören.

»Mit ein paar Kurven sind sie mir bedeutend lieber«, murmelte er.

»Ach ja? Margaret hatte also eine richtige Stundenglasfigur, was?«, fragte sie und sammelte vorsichtig ein Stück Eiweiß auf.

Er schnaubte. »Margaret? Die war eine Bohnenstange.«

Naomi erhob sich langsam. »Also, als Sie sagten, dass Ihnen Kurven lieber sind, meinten sie da andere Frauen als Ihre eigene?«

Frauen wie meine Mutter?

Er nippte noch einmal an seinem Wasser und sagte nichts.

»Walter?«

»Hmm?«

Naomi öffnete den Mund, wollte ihn zu einer Antwort animieren, doch dann schloss sie beschämt die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie nutzte die Verwirrung eines Mannes aus, um die Antworten zu bekommen, die sie haben wollte?

Nein. Sie war ein besserer Mensch. Und auch besser als er.

Sie bemerkte, dass seine Augen leer und schläfrig dreinblickten, und stellte seufzend den Mülleimer beiseite.

»Kommen Sie, machen wir Sie bettfertig.«

Er nickte, und sie war dankbar, dass ihr jetzt nicht auch noch der Kampf bevorstand, ihn zum Überziehen seines Pyjamas zu bewegen.

Sie begleitete ihn in sein Schlafzimmer und vermied es wie immer, das Bett anzusehen, wohl wissend, was dort vor zwei Jahrzehnten zwischen ihm und ihrer Mutter vorgefallen war.

Naomi holte eine Flanellhose und ein Oberteil heraus und reichte ihm beides. »Bitte sehr. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie Hilfe bei den Knöpfen brauchen.«

»Wo ist Oliver?« Seine blauen Augen blickten verwirrt und leicht verängstigt drein.

»Er kommt bald nach Hause, okay?«, beruhigte sie ihn und drückte seine Hand. Erleichtert stellte sie fest, dass seine Furcht wieder nachzulassen schien. »Sie können auch aufbleiben und auf ihn warten.«

Er nickte, aber als Naomi ein paar Minuten später klopfte und den Kopf zur Tür hereinsteckte, um nach ihm zu sehen, lag er bereits im Bett, die Decke bis zum Kinn hinaufgezogen, das graue Haar hob sich gegen den weißen Kissenbezug ab.

Naomi lächelte leicht, als sie die Nachttischlampe ausschaltete. Sie musste zugeben, dass ihre Gefühle diesem Mann gegenüber zwiespältig waren.

Von den Gefühlen für seinen Sohn ganz zu schweigen.

Sie verteilte gerade Teppichschaumreiniger auf einem besonders hartnäckigen Eigelbfleck, als Oliver zur Tür hereinkam. Er zuckte zusammen, als er sie auf Händen und Knien dort hocken sah. »Einer dieser schlimmen Tage?«

»Einer dieser schlimmen Tage«, bestätigte sie und wischte sich mit dem Unterarm eine Strähne aus dem Gesicht.

»Sexy Handschuhe«, meinte er.

Sie hielt die Hände hoch, die in gelben Gummihandschuhen steckten. »Gefallen sie dir, Baby?«

»Stopp. Nicht necken«, sagte er und stellte seine Tasche neben die Eingangstür.

Einen Augenblick lang sahen sie einander nur an, beide abwartend, ob der jeweils andere den Kuss von vor ein paar Tagen erwähnen würde.

Aber er wandte den Blick ab und sah auf ihre Hände herab. »Aber ernsthaft, zieh sie aus. Ich mache weiter sauber.«

»Schon okay«, sagte sie, stand auf und schälte sich die Handschuhe von den Händen. Sie legte den Kopf schief und betrachtete die weiße Plastiktüte in seiner Hand. »Take-out?«

»Chinesisch. Wahrscheinlich zu viel, denn Dad schläft ja anscheinend bereits.« Er blickte zu der geschlossenen Schlafzimmertür hinüber. »Wie schlimm war er heute?«

»Hat mehr als sonst um sich geschlagen«, sagte sie und räumte Teppichschaumreiniger und Handschuhe wieder zu den anderen Reinigungsutensilien unter das Spülbecken. »Hat mit Eiern geworfen, den Fernseher angeschrien, einige Fremde im Park zusammengebrüllt und ein paar anzügliche Bemerkungen fallenlassen, dass er nur Frauen mit Kurven mag.«

Oliver warf ihr einen scharfen Blick zu. »Er hat doch nicht … er hat sich dir doch nicht … genähert?«

»Hmm?« Naomi kämpfte gerade mit dem Knoten an der Plastiktüte mit dem chinesischen Essen. Deshalb dauerte es einen Moment, bis sie verstand, was er meinte. Ihr Kopf fuhr in die Höhe. »Oh. Nein. Nein.« Sie schluckte. »Wieso hat er … bei Janice.«

»Nicht bei Janice«, antwortete Oliver leise. »Aber er war nicht … er war meiner Mom nicht treu. Manchmal trieb er es quasi direkt vor ihrer Nase mit anderen Frauen.«

Naomi war urplötzlich sehr still geworden. Das war die perfekte Überleitung. Sag es ihm. Sag ihm, wer du bist. Wer deine Mutter war.

Und das wollte sie, sie wollte es wirklich, aber seine Augen blickten so traurig drein, und er wirkte zutiefst erschöpft. Zum ersten Mal wurde Naomi klar, dass sie nicht die Einzige war, auf deren Leben Walter Cunninghams Verhalten sich belastend ausgewirkt hatte. Sein Sohn hatte ebenfalls dafür bezahlt.

»Willst du darüber reden?«, fragte sie sanft.

Ein paar endlos lange Sekunden lang starrte er die Plastiktüte an. Dann schüttelte er kurz den Kopf. »Nein. Nicht jetzt. Ich will ein Bier und eine Frühlingsrolle und …«

Er unterbrach sich, lächelte und brach dann in regelrechtes Gelächter aus.

Sie zog die Augenbrauen hoch. »War das jetzt ein Insider mit dir selbst, Cunningham?«

»Ein Insider, aber nicht nur mit mir selbst.« Dann sah er auf, und sein Blick war ein wenig fröhlicher als eben. »Kann ich dich noch mal für fünf Minuten allein lassen? Bin gleich wieder da. Ich muss nur etwas aus meiner Wohnung holen.«

»Klar, kein Problem«, antwortete sie und riss die Tüte auf, zu ungeduldig, um weiter mit dem Knoten zu kämpfen. »Nur erwarte nicht von mir, dass ich mit dem Essen warte. Ich bin am Verhungern.«

»Bedien dich. Bin gleich wieder da.«

Und tatsächlich kehrte Oliver innerhalb von fünf Minuten zurück, und Naomi musste zweimal hinsehen, während sie auf ihrem Chow-Mein herumkaute. »Hast du da etwa … Jogginghosen an?«

Er nahm sich einen Teller und belud ihn mit dem Essen. »Du klingst so überrascht. Was hast du denn gedacht, wie ich in meiner Freizeit herumlaufe?«

»Mit Ellenbogen-Patches?«

Er warf ihr einen Blick zu.

»Okay, nein«, sagte sie und nippte an ihrem Wasser. »Aber ich hätte schon erwartet, dass du einen monogrammbestickten Morgenmantel hast.«

Wieder dieses schiefe Lächeln, das fast schon schmerzlich verlockend war. Kombiniert mit dem engen schwarzen T-Shirt und der tiefsitzenden grauen Jogginghose, die Wunder wirkte im Hinblick auf seinen, äh …

Er grinste jetzt noch breiter und biss ein Stück von seiner Frühlingsrolle ab. »Ms Powell. Haben Sie etwa ein Auge auf mich geworfen?«

»Selber Schuld«, sagte sie und deutete mit den Essstäbchen auf ihn. »Du hast mich neulich abends schließlich geküsst.«

»Stimmt«, bestätigte er lässig und ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen.

»Warum?«

Er kaute auf seiner Frühlingsrolle herum und schluckte. Dann griff er nach dem Wasserglas. »Hast du es noch nicht rausbekommen?«

»Nein!«, sagte sie und schob den Teller beiseite. »Du hast mich geküsst, kurz bevor ich auf ein Date ging. Ich frage dich also, was los ist. Du sagst mir, ich soll es selbst herausfinden, und ich denke während des ganzen Dates mit einem anderen Mann an nichts anderes, und … Warum lächelst du?«

Er grinste noch breiter und aß noch einen Bissen von seiner Frühlingsrolle. »Du hast es herausgefunden. Es ist dir nur noch nicht klar.«

»Nein«, bestätigte sie und deutete mit den Essstäbchen auf ihn. »Jetzt hör auf, in Rätseln zu reden. Erklär es mir.«

»Du sagtest, dass du während des ganzen Dates mit einem andern Typen an mich gedacht hast«, sagte er und machte sich über die Shrimps in süß-saurer Soße her.

»Ja, und … warte. Das war dein Plan? Das ist so … so … du hast mich sabotiert. Und Dylan!«

Oliver zuckte zusammen. »Also war er es.«

»Du wusstest doch, dass ich mich mit ihm treffe.«

»Treffe – Präsens oder getroffen habe – Perfekt?«

Sie hörte auf zu kauen. »Hä?«

»Triffst du dich immer noch mit ihm?« Seine Stimme klang irgendwie gleichzeitig geduldig und fordernd. Und viel zu verführerisch.

»Keine Ahnung«, antwortete sie.

»Wirst du wieder mit ihm ausgehen?«

»Keine Ahnung!«

Er beobachtete sie weiter, dann warf er die Essstäbchen auf den Tisch. »Ich brauche ein Bier. Willst du auch eins?«

Fassungslos sah sie ihm hinterher, als er zum Kühlschrank ging und die Kronkorken von zwei Flaschen entfernte, bevor er beide mit an den Tisch brachte. Naomi lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte ihn, während sie an ihrem Bier nippte. Diese Version von Oliver war … verstörend. Den Anzugträger Oliver, mit dem konnte sie umgehen. Irgendwie. Oder zumindest arbeitete sie daran. Denn es war leicht, ihn mit dem Namen Cunningham in Verbindung zu bringen.

Aber dieser Oliver mit der Bierflasche, dieser erschöpft aussehende Mann in dem T-Shirt, das ihm viel zu gut passte … Als er sich den Mund mit einer der hauchdünnen Papierservietten abwischte, die mit dem Essen mitgeliefert worden waren, unterdrückte Naomi ein Stöhnen.

»Das machst du absichtlich.«

»Was?«

Sie wandte den Blick ab. »Nichts.«

Die Bierflasche schwebte auf halbem Wege zu seinem Mund in der Luft, und er musterte sie. Dann stieß er ein ungläubiges Lachen aus. »Ich kann’s nicht glauben. Der Hurensohn hatte recht.«

»Wer hatte recht?«

»Egal«, sagte er, stellte das Bier ab und sah sie an. »Warum Dylan?«

»Warum Dylan was?«

Das weißt du genau, sagte sein Blick.

Sie zögerte, auf der Hut vor der Intensität seines Gesichtsausdrucks. »Weil er …«

Sie hätte beinahe gesagt leicht ist. Dann fiel ihr wieder ein, dass Oliver ihr am Abend der Dinnerparty genau das vorgeworfen hatte. Mit Dylan auszugehen war kein Risiko. Verdammt. Hatte er die ganze Zeit über recht gehabt?

»Lass es mich deutlicher formulieren«, sagte Oliver mit leiser Stimme, streckte die Hand aus, packte ihr Stuhlbein und zog es – und damit sie – näher zu sich heran.

»Warum?« – Seine Hand glitt in ihren Nacken, genau wie an dem Abend, an dem er sie geküsst hatte. – »Wenn du bereit warst, nach Brayden wieder mit Männern auszugehen, warum dann mit ihm?«

»Statt mit wem?« Eigentlich sollte das eine freche, kleine Bemerkung sein, um die Oberhand zu behalten, aber sie verlor den Kampf.

Zumal sein Daumen jetzt langsam über die empfindliche Haut an ihrem Nacken strich. Woher wusste er nur, wie sehr sie das mochte? Wie konnte eine Hand, die unter ihr Haar glitt, ihr dermaßen weiche Knie verursachen? Zum ersten Mal hatte er das auf der Dinnerparty getan, dann wieder, als er sie geküsst hatte, und nun am Küchentisch seines Vaters, dem gleichen Küchentisch, an dem …

Naomi wich zurück. Dem Küchentisch. Wie oft hatte sie durch einen Spalt der Gästezimmertür beobachtet, wie die drei Cunninghams mit ihrer perfekten Haltung in ihren »Dinner Outfits« Dinge wie Entenconfit und Spargel mit Beurre blanc gegessen hatten, während sie selbst kalte Burritos von Taco Bell verschlang, die ihre Mom ihr ein paar Stunden zuvor besorgt hatte.

»Rede mit mir«, sagte Oliver und hielt sie fest, obwohl sie versuchte, sich loszumachen. »Rede mit mir und erklär mir, was hier gerade vor sich geht, Naomi. Warum kämpfst du dagegen an?«

Seine Stimme war sanft, aber dennoch gebieterisch, seine Berührung an ihrem Nacken zärtlich, aber entschlossen.

»Es kann nicht funktionieren«, sagte sie. »Wir sind so verschieden.«

»Nur im Hinblick auf die Leichen, die wir im Keller haben.«

Was?

»Hey, du weißt doch gar nicht …«

»Nein«, meinte er nachdenklich. »Ich weiß es nicht, denn du erzählst mir nicht, was in deinem Kopf vor sich geht. Aber eines weiß ich, Naomi. Wir haben hier etwas Gutes. Und wenn du deine Altlasten mit einbringst, super, dann setzen wir uns damit auseinander. Denn es ist höchste Zeit, dass du zugibst, dass wir verdammt gut zueinander passen könnten, wenn du uns nur eine Chance gibst.«

Sie saß ganz still da, wollte ihm glauben, ihm vertrauen …

Oliver beobachtete sie ein paar lange Sekunden lang eindringlich, dann ließ er sie langsam los.

Er nahm seine Essstäbchen wieder auf. »Wie läuft’s bei der Arbeit?«

Sie blinzelte angesichts des abrupten Themen- und Stimmungswechsels, sagte sich, dass sie nicht enttäuscht war, und doch vermisste sie seine Berührung jetzt schon schmerzlich. »Was?«

Er öffnete einen Karton mit gebratenem Reis und löffelte etwas davon auf seinen Teller. »Die Arbeit. Maxcessory. Wie läuft es? Wie gefällt es dir, von zu Hause aus zu arbeiten?«

»Ah …«

Er sah auf und lächelte. »Was? Dachtest du, ich wollte dich nur zum Sex? Das will ich definitiv. Aber ich lerne die Frauen, mit denen ich schlafe, vorher gern näher kennen. Also erzähl es mir.«

Sie holte tief Luft und rückte ihren Stuhl wieder ein Stück zurück in die ursprüngliche Position. Dann nahm auch sie ihre Essstäbchen wieder zur Hand. »Na ja. Sagen wir einfach, ich bin nicht gerade der Inbegriff der Produktivität, wenn es darum geht, von zu Hause aus zu arbeiten.«

»Wegen Dad?«, fragte er und warf ihr einen Seitenblick zu. »Du weißt, dass ich jederzeit eine Vollzeit-Betreuung für ihn einstellen kann.«

»Nein, das ist es nicht. Ich meine, ja, natürlich nimmt er einen Teil meiner Zeit in Anspruch, aber wenn ich mich nicht mit ihm befasse, konzentriere ich mich häufig auf ganz andere Dinge.«

»Wie auf deinen gutaussehenden Nachbarn?«

»Vielleicht«, murmelte sie gereizt.

Er grinste, dann nahm er seinen Teller. »Ich mache das Essen wieder warm. Soll ich deins zuerst erhitzen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich bin ich satt.«

Sie standen beide auf und gingen zur Theke hinüber, er, um seinen Teller in die Mikrowelle zu stellen, sie, um ihren abzuspülen. Toll! Der Gipfel der Erotik!

War sie die Einzige, die immer noch über den Kuss am Samstag nachdachte?

Die Mikrowelle piepte, und Oliver drückte die Tür auf, aber statt den Teller wieder herauszuholen, drehte er sich zu ihr um.

»Scheiß drauf«, murmelte er und machte einen Schritt auf sie zu.

Instinktiv wich sie einen Schritt zurück, obwohl ihr Herz wie wild pochte.

»Warte. Warte. Du magst mich doch nicht einmal«, stieß Naomi schnell hervor.

Er lächelte. »Falsch. Du magst mich nicht. Ich habe verdammt noch mal nie behauptet, dich nicht zu mögen.«

Ihr Atem ging schneller, so intensiv war sein Blick. »Du darfst mich nicht mögen.«

»Vielleicht bin ich ja verrückt«, murmelte er und rückte wieder näher, langsam, als wolle er sie nicht verschrecken. »Aber ich hatte schon immer etwas für schöne Frauen übrig, die das Pflänzchen Rühr-mich-nicht-an spielen.«

Sie lachte nervös auf und wich wieder zurück. »Glaub mir, das steckt gewiss nicht dahinter.«

»Ach nein?« Langsam legte er die Hände rechts und links neben ihr auf die Theke, beugte sich vor, berührte sie beinahe, aber eben noch nicht ganz.

»Ich kann nicht atmen, wenn du das tust.«

»Wenn ich was tue?« Seine Lippen glitten an ihrem Kinn entlang, ein federleichter Beinahe-Kuss.

»Wenn du mich so ansiehst«, sagte sie mit heiserer Stimme, während er seine Lippen ihren Hals hinabwandern ließ. »Wenn du mich berührst.«

»Ich ziehe mich zurück, sobald du es willst«, sagte er an ihrer Haut. Sein Mund bewegte sich wieder nach oben und schwebte genau über ihren Lippen. »Du musst es nur sagen, und schon sind wir wieder die gegnerischen Nachbarn, bei denen die Fetzen fliegen, sobald sie im gleichen Zimmer sind.«

Sie wollte es. Sie wollte ihm sagen, dass das hier niemals funktionieren konnte, dass sie im Irrtum waren, und zwar auf eine Weise, von der er keine Ahnung hatte. Dass er sie wegen dem hassen würde, was sie wirklich war, dass sie die Tochter der Haushaltshilfe war, die er so verachtet hatte …

Und das war die Krux ihres Problems. Als sie diese Sache begonnen hatte, war sie von ihrem Hass auf die Cunninghams getrieben worden, aber mittlerweile musste sie sich immer mehr einer erheblich beunruhigenderen Realität stellen.

Dass ihr Zorn in Wirklichkeit Angst war. Dass sie sich an den Hass auf alles, wofür Oliver stand, geklammert hatte, und zwar nicht wegen der alten Geschichten, nicht einmal wegen des Versprechens, das sie ihrer Mutter gegeben hatte, sondern weil sie Angst hatte, niemals gut genug zu sein. Dass das Leben, das sie sich mit so viel Mühe aufgebaut hatte, von einer Minute zur anderen in sich zusammenfallen konnte, dass ihr alles genommen werden konnte. Und wenn sie Oliver jetzt einließ und ihn dann verlor …

Er schien ihre Unentschlossenheit zu bemerken, und obwohl Frustration in seinem Blick flackerte, zog er sich von ihr zurück.

Das gab den Ausschlag. Die Tatsache, dass dieser Mann sie nicht nur durchschaute, sondern dass er ihre Wünsche ernst nahm.

Naomi streckte die Hand aus, packte sein T-Shirt mit der Faust, und Oliver erstarrte. Ihre Blicke trafen sich und hielten einander eine Sekunde lang fest. Sie zog ihn zur gleichen Zeit zu sich heran, wie er sich vorbeugte. Ihre Lippen prallten in einem Kuss aufeinander, der gleichzeitig süß und verzweifelt war, ein Wettstreit, den keiner verlieren konnte.

Olivers Hand spreizte sich in ihrem Kreuz. Langsam lösten sich ihre Finger aus seinem Shirt, sodass sie die Arme um seinen Nacken legen konnte.

Wenn der Kuss am Samstag ein Versprechen gewesen war, dann war dies die Erfüllung. Diese Art von Kuss ruinierte eine Frau für sämtliche anderen Küsse in der Zukunft.

Seine andere Hand fand ihre Hüfte, seine Finger vergruben sich in ihrer zarten Haut, zogen sie dichter heran, sodass sie beide keuchten.

Sein Mund glitt erneut an ihrem Hals hinab, und Naomi legte den Kopf in den Nacken. Irgendetwas fiel scheppernd zu Boden, als er sie auf die Theke hob, aber keiner hielt in der rastlosen Erkundung des Geschmacks und der Berührung des jeweils anderen inne.

Naomi schlang ihm die Beine um die Taille, seine Hand legte sich auf ihren Hintern, zog sie noch dichter heran …

»Wer ist da?«

Beide erstarrten.

Langsam löste Oliver sich von ihr, hielt ihren Blick fest, bevor er resigniert die Lider schloss. Er räusperte sich. »Hey, Dad, ich bin’s.«

»Ollie? Was zum Teufel machst du denn da draußen, Junge?«

Naomi lächelte leicht, als sie den Spitznamen aus seiner Kindheit hörte, und Oliver legte ihr die Stirn auf die Schulter und lachte leise. »Nichts. Brauchst du etwas?«

»Wo ist deine Mom?«

Oliver verkrampfte sich in ihren Armen, und Naomi fühlte mit ihm. Sie fragte sich, ob es jemals wieder besser werden würde. Ob es jemals nicht mehr wehtun würde, dass seinem Vater jedes Zeitgefühl abhandengekommen war, sodass er seinen Sohn ständig mit der Tatsache konfrontierte, dass seine beiden Eltern für ihn verloren waren … und das immer und immer wieder.

Naomi wusste, dass der Augenblick vorüber war, weshalb sie die Beine langsam von seiner Taille löste. Doch sie war selbst überrascht, als sie dem Drang nachgab, ihm tröstend mit der Hand übers Haar zu streicheln.

Oliver umfing ihre Hand, kurz bevor sie sie ihm entzog, hielt ihren Blick fest und drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Innenfläche.

Dann half er ihr von der Theke herunter, und in dem Moment kam Walter auch schon in die Küche geschlurft. Sie schickte ein stummes Dankgebet gen Himmel, weil er nicht in einer seiner hosenfreien Stimmungen war.

»Wer sind Sie?«, fragte er, die blauen Augen verschlafen, das Haar zerzaust.

»Hi, Walter«, sagte sie, strich ihr T-Shirt glatt und konzentrierte sich darauf, keine Scham zu empfinden.

»Dad, das ist Naomi. Du kennst sie.«

Die Verwirrung in Walters Blick ließ etwas nach, und an seine Stelle trat etwas … Gemeineres. »Schläfst mit der Haushaltshilfe, hm, Sohn?«

Naomi zuckte heftig zusammen, und Oliver verspannte sich offensichtlich. Entweder merkte es Walter nicht, oder ihre Reaktion war ihm egal. Er gluckste vor sich hin und ging zum Kühlschrank. »Keine Sorge. Ich verrate deiner Mutter nichts. Unser kleines Geheimnis.«

Naomi schluckte den plötzlichen, bitteren Geschmack herunter, der bei der Erinnerung an das andere, kleine Geheimnis aufkam, das diese beiden Männer miteinander geteilt hatten, und bei dem es auch um die »Haushaltshilfe« gegangen war. Die Rollen waren jetzt vertauscht, aber der Schaden war der gleiche.

Nein, nicht der gleiche, berichtigte sie sich im Stillen. Sie war nicht ihre Mutter.

Und sie würde nicht zulassen, dass einer dieser Männer sie behandelte, wie Danica sich immer von Männern hatte behandeln lassen.

Oliver packte ihr Handgelenk, als sie sich abwandte. »Naomi.«

Sie schüttelte den Kopf. »Kümmere dich um deinen Dad.«

Sanft entzog sie ihm ihr Handgelenk, drehte sich aber noch einmal um, bevor sie die Wohnung verließ. »Morgen früh komme ich noch einmal und passe auf ihn auf, aber danach … musst du dir bis zu Janices Rückkehr eine andere Betreuerin suchen.«

Er blickte ihr forschend ins Gesicht und runzelte die Stirn, dann nickte er einmal kurz.

Und ließ sie gehen.