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Freitag, 28. September

Ohne etwas von Naomis innerem Aufruhr zu ahnen, grinste Dylan beim Anblick der beiden Frauen, die dort im Türrahmen standen. »Also keine Termine, was? Jetzt bin ich verletzt. Kommen Sie rein, Ladys. Ich wollte gerade gehen.«

Audrey lächelte. »Nein, es ist unsere Schuld. Claire und ich wollten sie überraschen …«

»Du wolltest sie überraschen«, murmelte Claire. »Ich hätte vorher lieber angerufen.«

Audrey tat den Einwand mit einer Handbewegung ab. »Für Champagner braucht man keinen Termin. Wir dachten, mit etwas Blubberwasser ginge die Packerei leichter von der Hand.«

»Und mit Cupcakes«, fügte Claire hinzu und hielt die Schachtel in die Höhe. »Ich wollte eigentlich Muffins backen, aber Audrey hat mich überredet, Cupcakes zu kaufen.«

»Neiiiin. Ich habe dich überredet, Muffins mit Zuckerguss zu kaufen«, widersprach Audrey.

Dylan sah Naomi an. »Verdammt. Champagner und Cupcakes. Zwei Dinge, mit denen kein Mann konkurrieren kann. Ich mache mich also jetzt auf den Weg. Aber ich bestehe auf unserem abendlichen Date zum Essen.«

Naomi merkte, wie Claire und Audrey aufhorchten und Dylan näher in Augenschein nahmen. Neugierig in Audreys Fall, skeptisch in Claires.

Sie stieß einen winzigen Seufzer aus, als sie Dylan das Wort Date benutzen hörte, aber es gehörte sich nun mal so, dass sie ihn den anderen zumindest flüchtig vorstellte. »Dylan Day, das sind Audrey Tate und Claire Hayes. Ladys, Dylan.«

»Sie haben beruflich ebenfalls mit Accessoires zu tun?«, fragte Claire höflich.

Dylan schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin TV-Produzent und schwer hinter Ihrer semi-berühmten Freundin her, um aus ihr eine waschechte Superberühmtheit zu machen.«

»Hmm«, machte Claire unbeeindruckt.

»Woher kennen Sie Naomi?«, fragte Dylan. »Vielleicht kann ich Ihre Geschichte ja ebenfalls in dem Film unterbringen. Man soll die Hoffnung nie aufgeben.«

»He, nein. Riesiges Nein. Meine Freunde sind tabu!«, rief Naomi, bevor Claire oder Audrey eine Antwort geben konnten. Sie machte einen Schritt vor und deutete demonstrativ zur Tür.

Er nahm seinen Rauswurf mit Würde auf. »Bis zu unserem Date.«

»Unserem Geschäftsessen«, berichtigte ihn Naomi.

»Klar«, erwiderte Dylan augenzwinkernd.

»Ladys.« Er nickte Audrey und Claire zum Abschied zu.

Ihre Freundinnen schafften es, den Mund zu halten, bis sie die Bürotür geschlossen hatte. Audreys braune Augen waren weit aufgerissen vor Neugier, während Claire ihre hellbraunen misstrauisch zusammenkniff.

»Das war der spitzenmäßige Fernsehproduzent, dem du aus dem Weg gegangen bist?«, fragte Audrey.

»Yep.« Naomi fasste ihr Haar zu einem unordentlichen Knoten zusammen. »Ich dachte, er hätte endlich aufgegeben, aber offenbar ist er beharrlicher, als ich dachte.«

»Und supersexy«, fügte Audrey hinzu.

»Ja, nicht wahr?«, antwortete Naomi nachdenklich und sah ihm durch die Glaswand hinterher.

»Das meint ihr nicht ernst!«, sagte Claire.

»Warum nicht? Er ist süß«, antwortete Naomi und streckte die Arme nach der Schachtel mit Cupcakes aus, die Claire in Händen hielt. Dann brachte sie sie zum Schreibtisch, wo sie das Chaos durchstöberte und einen Stapel Servietten hervorzog.

»Was! Fandet ihr ihn denn nicht süß?« Sie hielt inne und schälte den Cupcake aus dem Papier.

»Doch, doch«, gab Audrey zögernd zu. »Aber …« Hilfesuchend blickte sie sich nach Claire um.

Claire nahm kein Blatt vor den Mund. »Er ist ein Brayden.«

»Nein.« Naomi schüttelte den Kopf und wischte sich den Zuckerguss von der Lippe. »Er ist nicht verheiratet. Ich hab ihn gefragt.«

»Ja, und Typen wie der erzählen einem schließlich immer die Wahrheit.«

»Typen wie der?«, fragte Naomi mit leicht gereizter Stimme. »Du hast ihn doch gerade mal sieben Sekunden lang erlebt.«

»Und du ihn wie lange? Zehn? Und schon hast du ein Date mit ihm.«

Verärgert blickte Naomi zu Audrey hinüber, auf der Suche nach einer Verbündeten. »Dylan hat keine Brayden-Vibes ausgestrahlt, oder?«

Audrey zögerte. »Schwer zu sagen. Ich meine, er schien nett zu sein, aber das war Brayden auch …«

»Warum reden wir überhaupt darüber?«, schnitt Naomi ihr das Wort ab und schob sich den Rest ihres Cupcakes in den Mund. »Er ist bloß irgendein Typ.«

»Vielleicht«, räumte Claire ein, und ihre Stimme klang jetzt sanfter. »Aber vergessen wir auf keinen Fall, wodurch wir uns kennengelernt haben – warum wir uns ursprünglich miteinander angefreundet haben. Ich wäre keine gute Freundin, wenn ich dir nicht sagte, dass dieser Kerl dich nur bespringen will. Womit ich kein Problem hätte, wenn er dich nicht gleichzeitig dazu bringen wollte, einen Vertrag zu unterzeichnen, durch den dein Leben in eine Fernsehgeschichte verwandelt wird.«

»Sie hat recht, Liebes«, fügte Audrey mit mitfühlendem Lächeln hinzu. »Vielleicht ist er ja tatsächlich supernett. Wir sagen ja nur, dass du vorsichtig sein sollst, okay? Überzeuge dich davon, dass er seinen köstlichen Charme nicht nur einsetzt, um das zu bekommen, was er haben will.«

Naomi seufzte. Ihre Freundinnen hatten recht. Wenn es eine Grenze zwischen Professionalität und Anbiederung gab, dann hatte Dylan Day sie gewiss überschritten.

»Ich werde vorsichtig sein«, sagte sie gehorsam.

»Gut«, antwortete Audrey und nickte. »Und jetzt muss ich dir eins sagen, Naomi: Dein Büro ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe.«

»Wie denn? Total chaotisch?«, fragte Naomi, dachte an einen zweiten Cupcake, entschied sich aber dagegen.

»Nein, ich meine, dieses Büro ist genau, wie das einer New Yorker Unternehmerin aus der Modebranche sein sollte«, verkündete Audrey. »Du gehörst schon rein optisch genau hier her.«

Naomi glaubte zu wissen, was Audrey meinte, denn wenn man sich das ganze Chaos wegdachte, entsprachen die Räumlichkeiten tatsächlich genau Naomis Vorstellungen: wunderschöne, alte Holzböden und Außenwände aus Ziegelsteinen, die aussahen, als seien sie Jahrhunderte alt. Das einzig Moderne hier waren das Wi-Fi und die Glaswände im Innenbereich, durch die sie dafür hatte sorgen wollen, dass die Angestellten, die in der Mitte der Räumlichkeiten im Großraumbüro arbeiteten, genauso in den Genuss des Tageslichts kamen wie die Büros an den Rändern.

»Und Ihr beiden passt hervorragend hinein«, meinte Naomi.

»Sie passt hier herein«, stimmte Claire zu und deutete mit einem Kopfnicken auf Audrey, die einen waldgrünen Rollkragenpullover, einen breiten schwarzen Gürtel und Overknee-Boots trug.

»Du aber auch«, bekräftigte Naomi. Claires Garderobe war eher klassisch als trendy, aber immerhin kannte die Frau die grundlegenden Stil-Regeln, und – was für Naomis kritischen Blick sogar noch wichtiger war – sie wusste, welche Accessoires sie mit ihrer Garderobe kombinieren konnte.

Naomi war fest davon überzeugt, dass das einzige Verbrechen, das schlimmer war, als gar keine Accessoires zu tragen, darin bestand, zu viele zu tragen. Claires Goldkette mit dem winzigen Diamantanhänger und den dazu passenden Ohrsteckern passte perfekt zu ihrem Outfit. Mehr hätte die weiße Seidenbluse und die grauen Slacks erschlagen.

»Eigentlich wollte ich hier heute hereinkommen und behaupten, heute Morgen meine Ohrringe vergessen zu haben«, meinte Audrey und wühlte ungeniert die Waren auf dem Tisch durch. »Aber vielleicht habe ich das ja irgendwie sogar absichtlich getan für den unwahrscheinlichen Fall, dass deine Auswahl besser als meine ist. Und das ist sie in der Tat.«

»Bedien’ dich«, antwortete Naomi nur und deutete mit der Hand auf die Stücke. »Das sind sowieso kostenlose Muster. Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mir die Sachen genauer anzusehen. Interessiert mich also, was ihr dazu sagt.«

»Ooooh, roségold«, rief Audrey und klatschte begeistert in die Hände. »Das ist dermaßen in

Audrey sah die Ohrringe durch, und Naomi wandte ihre Aufmerksamkeit Claire zu, musterte sie eindringlich. Sie kannte diese Frau erst zwei Monate, aber genau wie sie es an jenem Tag im Park geahnt hatte, hatte ihre Beziehung sich rasend schnell zu einer innigen Freundschaft ausgewachsen. Es hatte unzählige Brunches, Happy Hours und – am vielsagendsten von allem – nächtlichen Gefühlsaustausch über Textnachrichten gegeben, die einem den Eindruck vermittelten, den anderen Menschen wirklich zu kennen.

Vielleicht waren es diese Textnachrichten, vielleicht auch ihre gemeinsamen Erfahrungen mit Brayden, möglicherweise war ihre Freundschaft einfach nur vom Schicksal vorherbestimmt. Was immer der Grund war, Naomi wusste, dass sie Claire und Audrey trotz der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft schon ganz gut durchschaute. Und sie wusste, dass es beiden Frauen nicht halb so gut ging, wie sie ihrer Umwelt weiszumachen versuchten.

Claire hatte immer noch jene Schatten unter den Augen, die sie schon am Tag der Beerdigung gehabt hatte, obwohl sie gut mit dem Concealer umgehen konnte und dadurch einen Großteil vor dem unbeteiligten Beobachter kaschierte.

»Also, wann musst du fertig mit Packen sein?«, fragte Claire und sah sich in dem Chaos um, als jucke es ihr in den Fingern, der Freundin zu helfen.

»Oh nein«, rief Naomi und ließ den Korken knallen. »Du bist doch nicht etwa eine dieser Ordnungsfanatikerinnen, die tatsächlich gern putzen, oder?«

»Putzen? Nein. Ich schiebe die Kloreinigung jeden Tag aufs Neue vor mir her, aber aufräumen … ich organisiere und ordne durchaus gern.« Sie rieb die Hände aneinander.

»Das ist beunruhigend«, sagte Audrey, kehrte zu Naomi zurück und hielt zwei Paar Ohrringe in die Höhe. Eines war eine Traube aus falschen grauen Perlen, das andere ein baumelnder rosé-goldener Blumenanhänger. »Welche?«

»Die Perlen«, sagte Naomi automatisch und kramte in einer Schachtel herum. Sie war ziemlich sicher, dass sie dort noch Plastikbecher hatte.

»Du hast doch nicht mal hingesehen.«

»Ich hab sie gesehen, als du sie hochgenommen hast.« Naomi fand die Becher und drehte sich zu Audrey um. »Du hast große Augen, aber ansonsten eher zierliche Züge. Die langen Ohrhänger würden dein Gesicht erschlagen.«

Audrey sah die Ohrringe an, dann zuckte sie mit den Schultern und legte die Perlen an.

»Was ist mit dir, Claire?«, zirpte Audrey. »Sie braucht auch etwas Neues. Etwas Hübsches.«

Naomi blickte zu Claire hinüber, während sie den Champagner eingoss. »Bedien’ dich. Ich habe ein paar neue Clutches und Schals hier, wenn Schmuck nicht so dein Ding ist.«

»Nein, ich brauche nichts«, meinte Claire und spielte geistesabwesend an ihrer Uhr herum. Es war die Cartier-Uhr von Brayden. Die gleiche, die er auch Naomi und Audrey geschenkt hatte. Naomis Ansicht nach war das Brayden Hayes’ schlimmstes Vergehen gewesen – zu glauben, dass die gleiche Uhr tatsächlich die richtige Wahl für drei verschiedene Frauen war.

Claire schien gerade zu merken, was sie da tat, blickte auf das goldene Uhrband hinab und erstarrte.

Naomi und Audrey tauschten einen Blick.

»Du trägst sie immer noch?«, fragte Naomi und hatte Mühe, nicht ungläubig zu klingen. Sie hatte ihre eigene mit dem Hammer bearbeitet. Verschwendung? Ja. Aber nötig.

Claire sah immer noch auf die Uhr, fummelte erneut an der Schließe herum. »Ich weiß. Ich weiß. Es ist nur …« Sie sah auf. »Er war mein Ehemann. Und jetzt ist er fort. Und …«

Sie hielt sich die Hand vor den Mund und beendete den Satz nicht.

Naomi zermarterte sich das Hirn, was sie jetzt am besten sagen konnte, aber ihr fiel nichts ein. Sie konnte eine Menge Dinge gut. Trost zu spenden oder beruhigend auf jemanden einzuwirken, gehörte nicht dazu.

Glücklicherweise beherrschte Audrey diese Kunst besser. Sie nahm Claires Hände in die ihren. »Was können wir tun?«

Claire seufzte, dann sah sie auf. »Mir etwas von diesem Champagner eingießen?«

Naomi lächelte, erleichtert darüber, dass sie sich nützlich machen konnte. »Schon dabei.«

Sie goss drei Becher voll, dann einen vierten für Deena, die jetzt wieder an ihrem Schreibtisch saß und irgendetwas ins Telefon bellte. Naomi brachte einen Becher hinaus an die Rezeption und reichte ihn der Assistentin, die ihr dankbar zulächelte, während sie weiter mit ihrem Gesprächspartner herumstritt. Naomi vermutete, dass es sich um das Umzugsunternehmen handelte.

Sie kehrte ins Büro zurück und bemerkte, dass Claire zwar über Audreys Worte von vorhin lächelte, ihre Hand aber dennoch leicht zitterte, während sie das Champagnerglas zum Mund führte.

Wieder fiel Naomis Blick auf das glitzernde Gold an Claires linkem Handgelenk.

Diese verdammte Uhr.

Da kam ihr ein Gedanke. Naomi schritt zu den Schränken hinüber, die die eine Wand ihres Büros säumten. Sie hatte sie im gleichen Jahr maßanfertigen lassen, als sie hier eingezogen war und erkannt hatte, dass normale Lagerschränke für Accessoires ungeeignet waren. Diese waren von Natur aus nun einmal klein, und Naomi benötigte Dutzende kleiner Unterbringungsmöglichkeiten und nicht einige wenige große Fächer. Demzufolge war die Wand beinahe vollständig mit klitzekleinen Schubladen bedeckt. Auf jeder war ein Schild mit einer Nummer angebracht, die sich auf einem Spreadsheet wiederfand, auf dem wiederum der Verkäufer, der Artikel und ob Naomi eine Bestellung aufgeben wollte oder nicht, verzeichnet waren.

Nachdem sie ein paar Mal falsch geraten hatte, fand sie die Schublade, nach der sie gesucht hatte. Sie zog das blassrosa Samtsäckchen mit dem goldenen Monogramm-Logo heraus. Dieses Muster hatte sie im vergangenen Jahr erhalten, und alles an dieser Firma hatte ihr gefallen: die Verpackung ebenso wie ihre Bemühungen, Uhren zu entwerfen, die die klassische Silhouette mit einem modernen Flair verbanden.

Naomi hatte keine Bestellung bei der Firma aufgegeben – noch nicht. Die Preise waren einfach zu hoch. Aber das Produkt stach unter Hunderten, wenn nicht gar Tausenden hervor und war ihr im Gedächtnis haften geblieben, sodass sie das Produkt auch weiterhin auf dem Schirm hatte.

Das Säckchen reichte sie der verwirrt dreinblickenden Claire.

»Mach es auf«, drängte sie.

Claire zog an dem Band und ließ die Uhr in ihre Hand gleiten.

»Ooooh«, hauchte Audrey.

Naomi lächelte ihr zu. »Du bist wirklich ganz wild auf Roségold, stimmt’s?«

»Glitzernd und pink?«, sagte Audrey ehrfürchtig. »Halt mich mal jemand fest. Aber die … die hier ist wie für Claire gemacht.«

»Oh, keine Ahnung«, meinte Claire. »Ist die nicht zu … zu jung für mich?«

Naomi verdrehte die Augen. »Ich glaube, wir haben noch ein paar Jahre Zeit, bevor wir deine Gehhilfe mit Strass-Steinen verzieren müssten. Aber wenn sie dir nicht gefällt …«

»Nein, nein, sie ist wunderschön«, versicherte Claire schnell und hielt die Uhr in die Höhe, um sie sich näher anzusehen.

Sie war schön. Die schlanken rosé-goldenen Glieder des Uhrbandes glitzerten gerade genug, um nicht übertrieben zu wirken.

»Das etwas größere Ziffernblatt ist jetzt gerade total in«, erklärte Naomi. »Früher dachten Frauen, je kleiner, umso besser, weil man schließlich von uns erwartete, zart und anmutig zu sein. Aber ich finde eigentlich, dass ein größeres Modell das zierlichere, weibliche Handgelenk gerade betont

Das Uhrband und die Größe des Ziffernblattes waren keineswegs die Highlights. Vielmehr war das die winzige Champagnerflöte auf fünf Uhr.

»Eigentlich sollte der Champagner auf zwölf Uhr mittags stehen«, meinte Audrey und befestigte sie an Claires Handgelenk. »Das ist meine Champagnerstunde.«

»Darauf trinke ich«, rief Naomi, bevor sie die Aufmerksamkeit wieder auf Claire richtete. »Wie siehst du das?«

Claire holte tief Luft, dann öffnete sie den Verschluss ihrer jetzigen Uhr. »Ich glaube, dass ich diese Uhr hier von Brayden eine Weile nicht mehr sehen will.«

Bewusst vermied Naomi es, das Stück zu betrachten, als sie es auf den Schreibtisch warf. Die Uhr hatte an sich eine bessere Behandlung verdient. Aber mit einem Geschenk von Brayden Hayes lag der Fall anders. Sie bemerkte, dass Claire die entsorgte Uhr mit ihren Blicken verfolgte. Sie war eindeutig noch nicht bereit, sich endgültig zu verabschieden. Aber immerhin hatte sie sich auf die neue Uhr eingelassen. Ein Fortschritt.

»Oh, Claire«, verkündete Audrey und betrachtete Claires Handgelenk. »Die ist perfekt.«

»Sie ist nicht richtig gestellt«, meinte Claire.

»Sie muss auch gar nicht auf die Minute genau gehen«, beharrte Naomi. »Es geht nur um diesen Augenblick.«

Audrey nickte. »Absolut. Die Uhr markiert die zweite Phase unseres Neuanfangs.«

»Und was war die erste Phase?«, fragte Claire lächelnd.

»Dass wir beschlossen haben, Freundinnen zu werden«, antwortete Audrey, als sei das doch offensichtlich.

Sie hatte recht. Manchmal betrachtete Naomi jenen Tag im Central Park sogar als besonderen Glücksfall. Eine seltsame, kleine Blase der Wirklichkeit gespeist von Trauer und Wut und dem Bedürfnis, es dem Mann zu zeigen, der es ihnen gezeigt hatte.

Nein, nicht gezeigt. Der sie zum Narren gehalten hatte.

Aber während der vergangenen Monate war Naomi klar geworden, dass sie – so unterschiedlich sie auch waren – noch mehr gemeinsam hatten, als nur die Tatsache, dass sie mit Brayden geschlafen hatten. Sie waren stark. Stehaufmännchen. Und vor allem mochten sie einander. Naomi hatte sich nie allzu viel Zeit für Freundinnen genommen. Sicher, sie war mit Deena befreundet. Und zu ein paar ihrer Führungskräfte hatte sie ebenfalls ein gutes Verhältnis. Aber für Naomi hatte die Arbeit stets an erster Stelle gestanden. Sie kam noch vor Romanzen und vor Freundschaften. Doch diese Frauen gaben ihr Hoffnung … sie vermittelten ihr das Gefühl, dass aus ihr noch etwas anderes werden konnte als eine weibliche Chefin mit Haaren auf den Zähnen.

»Und wie sieht die zweite Phase aus?«, fragte Claire jetzt und sah immer noch etwas skeptisch aus.

»Wir müssen uns weiterentwickeln. Naomi hat einen Vorsprung vor uns. Ihr Büro zieht um. Sie zieht um. Sie hat ein Date …«

»Geschäftsessen«, berichtigte Naomi verärgert.

»Egal. Jedenfalls bewegst du dich weiter.«

Tatsächlich?

Naomis Gedanken wanderten wieder zur 517 Park Avenue zurück, zu Oliver Cunninghams gletscherblauen Augen. Zu den Menschen, die sich nicht darum scherten, wie viel Geld man hatte, sondern wie alt das Geld war. Menschen, die Naomi – sogar in diesem Augenblick – das Gefühl gaben, unterlegen zu sein. Weniger wert.

Und dann, als blicke das Schicksal auf sie herab und läse ihre Gedanken, klopfte Deena an ihre Tür und steckte den Kopf hinein. »Entschuldige die Störung. Ms Gromwell von diesem Wohnhaus auf der Park Avenue ist auf Leitung Eins. Sie behauptet, es sei dringend. Ihre Worte, nicht meine.«

Hmm. Nun denn, zumindest wollten sie ihr die Neuigkeiten telefonisch mitteilen, statt ihr eine Absage per E-Mail zu schicken. Das war immerhin mehr, als sie erwartet hatte.

»Eine Sekunde«, sagte sie zu ihren Freundinnen, beugte sich über den Schreibtisch und griff nach ihrem Telefon. »Naomi Powell.«

»Ms Powell? Hier ist Victoria Gromwell, 517 Park Avenue. Ich möchte nächste Woche einen Termin mit Ihnen vereinbaren. Wir wissen, dass es sehr kurzfristig ist, aber der Ausschuss möchte am darauffolgenden Wochenende eine abschließende Entscheidung treffen.«

Naomi brauchte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, was die Frau da sagte. Und danach fiel ihre Antwort nicht besonders eloquent aus: »Was?«

Es entstand eine längere Pause, die eindeutig missbilligend sein sollte, aber das kümmerte Naomi nicht weiter.

»Sie sind in die nächste Runde aufgestiegen«, antwortete Ms Gromwell steif, als könne sie es sich selbst nicht erklären. »Es existieren jetzt nur noch drei potenzielle Anwärter auf die Wohnung, und Sie sind einer von ihnen.«

»Oh … nun ja.« Naomi versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, aber umsonst. Die einzige Person, die das erste Bewerbungsgespräch mit ihr geführt hatte, war Oliver Cunningham, und der hätte sie ganz gewiss nicht bis zur letzten Runde kommen lassen, außer … dass er das anscheinend doch getan hatte.

Naomi öffnete den Mund, um dieses Missverständnis aufzuklären, dass sie bereits eine Wohnung hatte.

Aber dann fielen ihr Audreys Worte wieder ein.

Jedenfalls bewegst du dich weiter.

Sie versuchte es. Sie wollte es. Aber wenn sie aus ihrer eigenen Reaktion auf Oliver Cunningham in dieser Woche eins gelernt hatte, dann, dass sie sich nicht würde weiterentwickeln können, solange sie sich ihrer Vergangenheit nicht gestellt hatte.

Um ihrer Mom willen. Und um ihrer selbst willen.

»Ich kann es nächste Woche zu jedem Zeitpunkt einrichten«, sagte Naomi, ohne sich die Mühe zu machen, auf ihren Kalender zu schauen. Termine konnte man schließlich verschieben.

Denn Naomi stand kurz davor, etwas zu erreichen, das ihre Mom sich ihr Leben lang gewünscht hatte: Eine Entschuldigung von Walter Cunningham – Olivers Vater, einem herzlosen Schürzenjäger, neben dem sogar ein Brayden Hayes wie einer von den Guten wirkte.