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Montag, 22. Oktober

»Ist das zu viel Lipgloss?«

Naomi blickte nicht mal von ihrem Telefon auf. »Deena, an dir gibt es nichts, das nicht zu viel wäre.«

»Das halte ich normalerweise für ein Kompliment …«

»War auch so gemeint.« Naomi befasste sich weiter mit ihrem Handy.

»Aber ich befürchte, dass der Glitzer vor der Kamera zu aufdringlich wirkt.«

»Warte, wie bitte?« Endlich blickte Naomi auf. Sie und ihre Assistentin saßen in einem Konferenzzimmer in der Zentrale von StarZone Flatiron. Sie warteten auf Dylan und den Rest des Teams. »Du weißt doch, dass wir heute nicht drehen und dass das auch noch etwas dauern kann, oder? Sie haben ja kaum mit dem Drehbuch begonnen.«

»Aber der Castingchef wird da sein, oder?«, fragte Deena und trug noch eine zusätzliche Schicht Gloss auf, in dem tatsächlich mehr Glitzer enthalten zu sein schien als in einem Bastelprojekt im Kindergarten.

»Ich will ihnen vor Augen führen, dass die beste Person, um Deena zu spielen, tatsächlich die wirkliche Deena ist. Nicht irgendeine aufgebrezelte Flachzange.«

»Vermerkt. Aber ich bin ziemlich sicher, dass es in der ersten Staffel ausschließlich um meine Kindheit gehen wird. Vor Deena.«

»Verdammt.« Deena ließ den Gloss wieder in ihrer Tasche verschwinden und kramte ein Päckchen Kaugummi hervor. »Auch einen?«

Naomi schüttelte den Kopf.

Ihre Assistentin schob sich einen in den Mund und musterte Naomi. »Also. Dieser Produzent. Dylan Day. Der ist heiß, oder?«

»Nicht dass ich gleich noch bedauere, dich mitgenommen zu haben«, murmelte Naomi und wandte die Aufmerksamkeit wieder ihrem Handy zu.

»Du brauchst mich. Ich werde alles mitschreiben.«

»Worauf?« Naomi suchte demonstrativ nach einem Notebook, Laptop oder Tablet.

Deena tippte sich an die Schläfe. »Ist alles hier oben abgespeichert. Viel Haar, viel Hirn. Also ist er jetzt heiß oder nicht? An diesem Tag neulich im Büro sah er durchaus heiß aus, aber ich hab auch nur seinen Hintern gesehen. Weißt du eigentlich, dass er mit dieser Schauspielerin aus der Serie über die Studentinnenverbindung geschlafen hat? Sie war zwar hübsch, aber nur halb so alt wie er.«

Naomi nickte, während sie ein Bild von Audrey und Clarke auf Instagram heranzoomte. Verdammt, diese Frau hatte eine perfekte Haut – trotz dieser Bitterkeitsfältchen.

»Also geht ihr beiden miteinander?«

Naomi gab nach und lachte. »Deena!«

»Glaub nicht, dass ich nicht bemerkt hätte, dass er praktisch der einzige Mensch ist, der deine direkte Telefonnummer hat.«

»Was gleichbedeutend mit einer Verlobung ist, ja?«

»Du übertreibst es mit deinem Sarkasmus, was gleichbedeutend damit ist, dass irgendetwas dran ist.«

»Na gut. Okay. Wir waren zusammen aus – halb Date, halb Geschäftsessen, und er war mein Begleiter auf der Dinnerparty einer Freundin.«

»Aber er bleibt am Ball.« Das war keine Frage, und tatsächlich irrte Deena sich nicht. Dylan hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er sie wiedersehen wollte, seit er aus Dallas zurück war. Aber sie war ihm ausgewichen, hatte behauptet, viel zu tun zu haben.

Was durchaus stimmte. Ihr Job nahm sie voll und ganz in Anspruch, und zwar schon bevor sie sich bereiterklärt hatte, sich auch noch um Walter Cunningham zu kümmern. Trotzdem bedauerte sie es nicht, ihre Hilfe angeboten zu haben. Walter war letzten Mittwoch den ganzen Tag mit ihr zusammen gewesen und heute auch beinahe den gesamten Vormittag, bevor Serena übernommen hatte, damit Naomi an einem Meeting teilnehmen konnte. Sosehr Naomi die Zeit mit Walter genossen hatte, sie war sogar noch überraschter – und beunruhigter – gewesen, als sie erkannt hatte, wie sehr sie sich darauf freute, dass Oliver abends nach Hause kam.

Und die Tatsache, dass es sich so richtig anfühlte, wenn sie zu zweit zu Abend aßen – an zwei Tagen in Folge –, war geradezu furchterregend.

»Habt ihr euch schon geküsst?«, fragte Deena jetzt und ließ eine Kaugummiblase platzen.

»Nein, ich helfe ihm nur ein paar Tage bei der Betreuung seines Dads.«

Deena hörte einen Augenblick lang auf, Kaugummi zu kauen. »Du kennst Dylan Days Dad? Verdammt, Frau, du bist aber von der ganz schnellen Truppe.«

Die Erklärung – oder der Versuch einer Erklärung –, in was für ein Schlamassel sie sich mit ihrem neuen Nachbarn und Ex-Erzfeind hineingeritten hatte, wurde ihr erspart, als sich die Türen des Konferenzraums öffneten.

»Tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sagte Dylan und begrüßte sie mit einem Grinsen. »Sie müssen Deena sein.«

»Höchstpersönlich«, antwortete Deena, schüttelte ihm die Hand und musterte ihn unverfroren von Kopf bis Fuß. »Yep. Heiß.«

Naomi stöhnte, aber Dylan lachte nur und zwinkerte Naomi zu.

Wie kam es nur, dass ein Zwinkern von Oliver Cunningham ihr den Nachtschlaf rauben konnte, während sie beim Zwinkern dieses Mannes, der genau der Typ war, auf den sie immer gestanden hatte, … nichts empfand.

Alle nahmen ihre Plätze am Tisch ein, und eine große, drahtige Frau, die sich selbst als Libby, die Castingchefin, vorstellte, kam gleich zur Sache.

»Ich habe ihre kleine Naomi.«

Naomi blinzelte. »Was? Jetzt schon?«

»Nun ja, wir müssen uns noch mehr Kandidaten ansehen, um wirklich sicherzugehen, aber ich garantiere Ihnen, dass Sie bei der Kleinen ausflippen werden. Sie lebt in LA, aber ihr Bronx-Akzent ist der Hammer.«

Naomi nickte und versuchte, sich nicht über die Ironie aufzuregen, dass sie Jahre damit verbracht hatte, ihren Akzent loszuwerden, nur damit irgendein Kinderstar aus Hollywood ihn zu reinen Unterhaltungszwecken imitierte.

Nein, nicht nur zur Unterhaltung, ermahnte Naomi sich. Hier musste sie genau bleiben. Ihr Hauptgrund, warum sie sich darauf eingelassen hatte, war schließlich, dass Mädchen, die in ähnlichen Verhältnissen aufwuchsen wie sie selbst, erfuhren, dass die Zukunft mehr für sie bereithielt als Friseurinnen- oder Kellnerinnen-Jobs. Sie mussten es nur wollen.

»Ich bin davon überzeugt, dass sie die perfekte Besetzung ist«, sagte Naomi lächelnd. »Aber wenn wir das Casting ohnehin öffentlich ausschreiben, können wir dann unsere Fühler auch in den Außenbezirken ausstrecken? Ist vielleicht hoffnungslos, trotzdem fände ich es fantastisch, wenn wir ein Mädchen fänden, das tatsächlich aus der Bronx kommt.«

»Absolut. Das ist es«, meinte Dylan.

Naomi glaubte gesehen zu haben, dass Libby ganz leicht die Augen verdrehte, trotzdem nickte die andere Frau und notierte sich etwas in ihrem schwarzen Notebook.

»Naomi, ich bin Caleb Davis, der leitende Drehbuchautor«, sagte ein kahlköpfiger Typ zu ihrer Rechten und schüttelte ihr die Hand. »Ich freue mich, Ihnen verkünden zu können, dass wir bereits ein paar Hausaufgaben für Sie haben.«

Caleb schob einen dicken Papierstapel über den Tisch. »Die Pilotfolge. Ich schicke Ihnen auch noch eine PDF-Datei, aber mir ist oft die altmodische Variante lieber.«

»Wow.« Naomi beäugte das Manuskript.

»Habe Ihnen doch gesagt, dass wir das alles schnell in trockene Tücher bringen wollen«, meinte Dylan.

»Nehmen Sie sich für die Durchsicht Zeit«, sagte Caleb. »Und mit Zeit meine ich, es wäre schön, wenn Sie mir bis nächsten Montag Ihr Feedback gäben. Das ist meine Deadline.«

Naomi lachte, als Deena das Manuskript zu sich heranzog und die ersten Seiten durchblätterte. »Okay. Soll ich auf irgendetwas speziell achten?«

»Ja, schon.« Caleb warf Dylan einen schnellen Blick zu, der sofort übernahm.

»Das Skript ist gut«, sagte Dylan und beugte sich lächelnd vor. »Caleb ist ein Genie und hat eine ziemlich fesselnde Geschichte über ihre Kindheit aus den Dutzenden von Interviews zusammengestellt, die Sie im Laufe der Jahre gegeben haben. Außerdem noch aus Interviews mit Leuten, mit denen Sie damals zu tun hatten …«

»Warten Sie.« Naomi hielt die Hand in die Höhe. »Was?«

Ein Mann zu ihrer Linken, der die denkbar langweiligste Kombination aus blauem Anzug, weißem Hemd und blauer Krawatte trug, zuckte bei ihrem fassungslosen Ton zusammen. »Das stand im Vertrag. Seite Dreiundzwanzig, Abschnitt 5C. Demzufolge sind wir autorisiert, sämtliche Quellen zu interviewen, die wir für relevant halten.«

»Sie haben es sich sicher schon gedacht: Anwaltsalarm«, flüsterte Dylan laut und deutete mit einem Kopfnicken auf den blauen Anzug.

Alle kicherten, und Naomi rang sich ein höfliches Lächeln ab. »Ich habe den Vertrag gelesen. Ich hätte nur nicht erwartet, dass Menschen, die mich vor zwanzig Jahren kannten, als relevant erachtet würden.«

»Na ja, sind sie auch nicht«, bekannte Caleb. »Wir haben ein paar frühere Klassenkameraden aufgestöbert, aber obwohl jede Menge uns erzählen wollten, woher sie sie damals kannten, scheint niemand Sie wirklich gekannt zu haben.«

»Ich war ein schüchternes Kind.«

Das war ihre Standardantwort, aber eigentlich stimmte es gar nicht. Sie war einfach nur ein kluges Kind gewesen. Klug genug, um zu wissen, dass die meisten Leute sie in die Pfanne hauen würden, um ihren eigenen Arsch zu retten. Diese Lektion hatte sie Oliver Cunningham zu verdanken.

»Es gibt nur eine Lücke, die wir noch füllen möchten«, sagte Caleb nun und blätterte einen gelben Block durch, bis er die Notiz fand, nach der er gesucht hatte. »Einer unserer Rechercheure hat entdeckt, dass Sie in der dritten Klasse den Schuldistrikt der Bronx kurz verließen, um in Distrikt Nummer Zwei die Schule zu besuchen?«

Naomi wurde ganz still. Von Schuldistrikten hatte sie keine Ahnung, aber sie wusste genau, wo sie als Drittklässlerin gewesen war.

»Was heißt das?«, fragte Deena.

Dylan musterte Naomi einen Augenblick lang, dann sah er Deena an. »Das bedeutet, dass Naomi die dritte Klasse in Manhattan besuchte.«

Deena schüttelte den Kopf. »Nope. Die müssen sich irren.«

Dylan sah erneut Naomi an, und ihr wurde klar, dass sie diese Entwicklung hätte voraussehen müssen.

Sie würden sich nie damit zufriedengeben, ihre Kindheit mit ein paar inspirierenden Anekdoten zusammenzufassen, die zeigten, dass sie statt eines Limonadenstands ihr Taschengeld mit selbst gemachtem Schmuck aus Büroklammern und Knöpfen aufgebessert hatte oder dass sie ihre eigenen Barbie-Kleider aus Stoffstreifen genäht hatte, die sie der Schneiderin aus der Etage über ihr stibitzt hatte. Natürlich brauchten sie Drama.

Und eins musste sie diesen Leuten zugestehen. In weniger als einer einzigen Woche Schnüffelarbeit hatten sie die Achillesferse aus Naomis Kindheit aufgespürt. Am besten gab sie jetzt ein paar wenige Einzelheiten zu, damit sie nicht weiter nachbohrten.

»Sie irren sich nicht«, sagte sie leise zu ihrer Assistentin.

Deena sah sie verblüfft an. »Wirklich? Du bist in Manhattan aufgewachsen?«

Naomi schnaubte. »Wohl kaum. Ich habe ein Jahr dort gelebt. Sogar weniger.«

»Warum? Wo?« Caleb hatte bereits seinen Stift gezückt.

»Park Avenue.«

Deena hörte einen Augenblick lang auf zu schmatzen, dann nahm sie das Kaugummikauen wieder auf. Sie war so klug, die Anrufe von 517 Park Avenue ebenso wenig zu erwähnen, wie die Tatsache, dass Naomi sich in letzter Minute entschlossen hatte, auch diese Wohnung in Besitz zu nehmen, nachdem sie den Kaufvertrag für die Bleibe in Tribeca schon unterzeichnet hatte.

Caleb runzelte die Stirn und ging seine Notizen durch. »Sie wohnen momentan auch in der Park Avenue, richtig?«

»Richtig.« Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander in der Hoffnung, dass ihr kurz angebundener Ton und ihre kühle Art den anderen signalisieren würde: Nichts zu sehen, es geht weiter.

»Was hat Sie und Ihre Mom an die Upper East Side verschlagen?«

Naomi schluckte. »Meine Mom arbeitete eine Weile als eine Art Haushälterin, wahlweise Köchin oder Kindermädchen für eine Familie auf der Park Ave. Wir wohnten damals bei dieser Familie.«

Caleb nickte, notierte sich alles auf seinem Block. »Gut, das ist guter Stoff. Cinderella-Stoff. Sie sagten, Sie hätten dort etwa ein Jahr gelebt?«

»Yep.«

»Warum sind Sie und Ihre Mutter dann wieder in die Bronx zurückgekehrt?«

Sie und Ihre Tochter sind Abschaum und werden immer Abschaum sein. Raus aus meinem Haus, bevor ich die Ordnungshüter rufe.

Es war seltsam, dass das, was Naomi von diesem schrecklichen Tag am besten im Gedächtnis haften geblieben war, Margaret Cunninghams Gewohnheit war, niemals Abkürzungen oder Alltagsvokabular zu benutzen. Sie wählte Worte wie Ordnungshüter statt Cops, Polizei oder irgendeinen anderen der weniger schmeichelhaften oder zumindest gängigen Begriffe, an die Naomi schon im zarten Alter von neun gewöhnt gewesen war.

»Irgendwann musste der Job ja wieder vorbeisein, oder?«, antwortete Naomi leichthin.

»Ja, wahrscheinlich schon«, antwortete Caleb ernüchtert. Wieder ging er seine Notizen durch und runzelte die Stirn. »Sie sagten, Ihre Mutter arbeitete als Haushaltshilfe?«

»Yep.«

»Das haben Sie noch nie erwähnt. Sie sagten, sie hätte als Kellnerin in einer Cocktailbar gearbeitet. Als Barkeeperin. Als Nageltussi …«

»Oh, heute nennen die sich Nail-Artists«, flötete Deena.

Caleb lächelte ihr flüchtig zu, dann wandte er sich wieder an Naomi, wobei er unaufhörlich mit seinem Kugelschreiber herumklickte. »Hatte sie noch andere Jobs als Haushälterin?«

»Nein.«

Dafür hatten die Cunninghams gesorgt. Nach dem Vorfall erinnerte sich Naomi kaum noch an die folgenden Tage. Nur der entsetzliche Schimmelgeruch der Obdachlosenheime im Februar war ihr im Gedächtnis geblieben. Und die Tatsache, dass das Gesicht ihrer Mutter immer wütender und wütender geworden war, als jegliche Bewerbung als Haushälterin systematisch eine Absage erhielt – egal, ob sie bei den Betreffenden leben sollte oder nicht.

»Na gut«, sagte Caleb nun, warf seinen Stift auf den Tisch und nahm den Kopf zwischen die Hände. Er zog ein nachdenkliches Gesicht. »Das ist gut. Das ist immer noch Superstoff. Wenn die ersten sechs Episoden Naomis Kindheit behandeln, dann sollte das Jahr in der Park Avenue eine ganze Episode umfassen … mindestens …«

»Nein«, unterbrach ihn Naomi.

Caleb runzelte die Stirn. »Nein?«

»Dieses Jahr ist tabu. Sie können eine Andeutung machen oder so was, aber ich will nicht, dass es verfilmt wird.«

»Aber es ist ein wichtiger Teil Ihrer Kindheit …«

»Ich sagte Nein«, stieß Naomi zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Oliver, stimmt das? Habt ihr, du und Naomi, deinen Vater mit dieser Frau zusammen gesehen? Wütende blaue Augen hatten sich an diesem Tag in Naomi hineingebohrt, während die Lüge aus seinem Mund kam. Ich weiß nicht, wovon sie redet.

»Tabu«, wiederholte sie, und ihre Stimme klang brüchig, als die Erinnerung an Olivers Verrat sie durchzuckte.

Eine ganze Weile sagte niemand etwas. Dann ergriff ein anderer Typ, dessen Namen sie bereits vergessen hatte, das Wort. »Bei allem Respekt, Ms Powell, unser Ziel besteht darin, die ganze Geschichte zu erzählen …«

»Kumpel.« Diesmal war es Dylan, der unterbrach. »Sie sagte tabu. Hör auf.«

Vor Überraschung schnellte Naomis Kopf in die Höhe, und sie sah dem Produzenten über den Tisch hinweg in die Augen. Er lächelte und nickte ihr flüchtig zu, und in diesem Augenblick stand Naomis Entschluss fest.

Dylan Day hatte eine Chance verdient.