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Montag, 29. Oktober

Oliver nahm seine Brille und seinen Stift bestimmt zum zehnten Mal in dieser Stunde in die Hand, nur um beides wieder auf sein Stehpult zu werfen. Ebenfalls zum zehnten Mal in dieser Stunde.

Es hatte keinen Zweck. Es spielte keine Rolle, wie sehr er sich wünschte, das Gabe-Green-Projekt zu kriegen, er würde keine einzige gerade Linie zeichnen können, solange er eine bestimmte rothaarige Verführung nicht aus dem Kopf bekam.

Keine leichte Aufgabe, wenn man bedachte, dass er sich jetzt auch noch mit der Erinnerung daran, wie sie schmeckte und sich anfühlte, herumschlagen musste.

Sie am Samstag zu küssen war … ein Fehler gewesen.

Nein, kein Fehler, denn er hätte es sofort wieder getan.

Vielmehr hätte er sie küssen und nicht wieder aufhören sollen.

Er hätte sie gegen die Wand drängen sollen, ihre Beine um seine Taille schlingen sollen und ihr sagen sollen, dass sie ihr Date vergessen sollte. Diesen anderen Typen vergessen sollte. Ihm gehören sollte.

Stattdessen hatte er zugelassen, dass sie wegging, hatte inständig gehofft, dass seine Rechnung aufging, dass sie erkennen würde, dass, nachdem sie nach Brayden wieder bereit war, sich mit Männern zu treffen, sie den Richtigen genau vor der Nase hatte …

Oliver presste die Handballen gegen die Augenbrauen, als er merkte, in welche Richtung seine Gedanken sich bewegten. War er denn der Richtige? Für irgendjemanden? Schließlich hatte es seinen Grund gehabt, warum seine Verlobte ihn vor ein paar Jahren verlassen hatte.

Er hatte zwischen Arbeit und den Verpflichtungen Walter gegenüber kaum Zeit zu duschen, geschweige denn, um ins Fitnessstudio zu gehen. Und schon gar nicht, um Zeit für ein Date einzuschieben. Oder gar für eine Freundin.

Besonders nicht für eine Freundin wie Naomi, die wohl kaum der leichte, fügsame, pflegeleichte Typ war. Die Frau war eine ausgewachsene Feuersbrunst, reine Energie. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Ihre Firma, die sie so bescheiden als »Start-up«-Unternehmen bezeichnet hatte, war beinahe eine Milliarde wert.

Eine Milliarde! Und doch zeigte diese Frau nicht die geringste Spur von Snobismus. Wenn überhaupt, dann begründete sich ihre Antipathie ihm gegenüber auf seinem mutmaßlichen Snobismus. Oliver war sich des Stigmas, in eine Familie mit Geld geboren zu sein, nie bewusster gewesen als jetzt. Verständlich, wenn jemand ohne Geld so empfand, aber Naomi Powell hatte Unmengen davon.

Soweit er wusste, war ihr Leben eine einzige lange Folge von Interviews und Fotoshootings und Forbes 30-Under-30-Features. Sie wurde häufig in den neuesten Restaurants fotografiert, tanzte in den angesagtesten Clubs, oft mit eleganter Partybegleitung an ihrer Seite.

Oliver passte so gar nicht in dieses Bild. Der alte Oliver hätte das Kind vielleicht schon geschaukelt. Er war nie für durchgetanzte Nächte oder Clubbing zu haben gewesen, aber ein Langweiler war er auch nicht. Er ging gern aus, trank auch gern, manchmal sogar einen zu viel. Er fand es befriedigend, einer Frau den Hof zu machen, indem er in irgendeinem protzigen Restaurant Plätze für sie reservierte. Zum Teufel, er hatte sogar nichts gegen einen gelegentlichen Abend mit schwarzer Fliege plus Pinguin-Outfit und Smalltalk.

Aber so sah sein Leben jetzt nicht mehr aus. Das war nun einmal nicht mehr möglich. Er konnte schon von Glück sagen, wenn er einen Abend pro Woche frei hatte, und die verbrachte er meist damit, liegengebliebene Arbeit nachzuholen und die wenigen ihm verbliebenen Freundschaften zu pflegen oder einfach nur ein bisschen verdammten Frieden und Ruhe zu genießen.

Oliver fragte sich, ob Naomi überhaupt eine Vorstellung davon hatte, was Frieden und Ruhe bedeuteten.

Aber das war vielleicht auch wieder nicht fair. Während der letzten anderthalb Wochen hatte sie angeboten, auf seinen Vater aufzupassen, und sie war es auf merkwürdige Weise zufrieden gewesen, sich in seiner Wohnung zu entspannen …

Doch dann hatte sie anscheinend angefangen, sich zu langweilen. Und hatte sich mit einem Mann verabredet.

»Dieses Gesicht kenne ich. Du wälzt ein Problem.«

Oliver wandte sich seiner offenen Bürotür zu, und herein kam einer seiner besten Bauunternehmer und langjährigen Freunde.

»Hey, Mann«, sagte Oliver mit aufrichtigem Lächeln, ging Scott Turner entgegen und legte ihm den Arm um die Schultern. »Wo zum Teufel warst du?«

»Seattle. Bin erst letzten Donnerstag zurückgekommen«, antwortete Scott, nahm sich einen der Kaffeepads, die Olivers Assistentin auf einem Tisch deponiert hatte, und steckte ihn in die Maschine am anderen Ende des Raumes.

»Stimmt ja«, sagte Oliver und ließ sich in einen Stuhl an dem kleinen Tisch in seinem Büro fallen. Beim Arbeiten stand er lieber, weshalb sein tatsächlicher Schreibtisch ein großes Stehpult vor dem Fenster war. Dieser Tisch war für Kundengespräche reserviert oder – wie in diesem Fall – für ein Zusammensein mit Freunden. »Wie ist es gelaufen? War es lohnend genug, um mein Projekt abzulehnen?«

»Dein Projekt war ein piekfeines Hotel. Du weißt, dass mir so was nicht liegt.«

»Aber seltsame Museen schon?«

»Ja, eher«, antwortete Scott, nahm seine Kaffeetasse und gesellte sich zu Oliver an den Tisch. »Aber letztlich war ich dabei selbst der Angeschmierte. Auf dem Papier sah das Projekt cool aus, aber der Kunde war eine Diva.«

»Also ist es erst mal auf unbestimmte Zeit verschoben?«

Scott grunzte bestätigend, und Oliver nickte kurz. Er hatte verstanden.

Er und Scott Turner hatten sich an der Columbia University kennengelernt, beide mit dem Ziel, ihren Master in Architektur zu machen. Scott hatte das Studium nach ihrem ersten Jahr abgebrochen, weil er erkannt hatte, dass seine Leidenschaft dem Bau, nicht dem Design galt. Er hatte seine eigene Baufirma gegründet, und obwohl er diese klein hielt, hatte er sich einen Ruf als Perfektionist erarbeitet und wählte seine Projekte sorgfältig aus.

Bei seinen eigenen Projekten empfahl Oliver Turner Construction gern, denn er wusste, dass Scott Olivers Entwürfe auf eine Art verstand, die den allermeisten größeren Firmen abging. Aber Scott war wählerisch. Wenn eines von Olivers Projekten ihm nicht passte, wandte er sich einem anderen zu.

In diesem Fall Seattle.

»Wie war es denn sonst – abgesehen von dem nervigen Kunden?«, fragte Oliver.

»Gut. Genauso regnerisch, wie man sagt, aber meine Garderobe passt dort auf jeden Fall besser hin.«

Das glaubte Oliver gern. Obwohl Scott einen Loft an der West Side besaß, war er kein Manhattan-Yuppie. Wenn er so richtig darüber nachdachte, konnte Oliver sich nicht an das letzte Mal erinnern, als er seinen Freund in anderen Klamotten als Jeans und T-Shirt gesehen hatte. Selbst jetzt, Ende Oktober, trug Scott ein kurzärmeliges dunkelblaues T-Shirt über einem langärmeligen weißen Shirt. Zwar war keine Spur von seiner sonst üblichen Pilotenbrille zu entdecken, aber Oliver wäre jede Wette eingegangen, dass er sie irgendwo in der Bomberjacke verstaut hatte, die Scott über seine Stuhllehne gehängt hatte.

»Und was gibt’s sonst noch Neues?«, wollte Oliver wissen.

»Wird sich zeigen«, sagte Scott, trank einen Schluck Kaffee und musterte ihn. »Ich brauche einen Überbrückungsauftrag. Etwas … Einfaches. Grundlegendes. Vermisst du nicht auch mal deine ersten Projekte? Damals, bevor wir von dem schicken Kram noch keine Ahnung hatten und uns Hals über Kopf in die ganz normalen Sachen stürzten.«

»Nein«, bekannte Oliver. »Aber angesichts der Tatsache, dass das Erste, was ich dich jemals entwerfen sah, eine Blockhütte war, weiß ich wahrscheinlich, was du meinst.«

»Ja, genau.« Scott ließ ungeduldig und gereizt die Schultern kreisen. »So etwas in der Art will ich. Ich will irgendetwas Kleines entkernen und dann in aller Ruhe Detail für Detail wieder aufbauen.«

Mit einem Kopfnicken deutete er auf Olivers Schreibtisch. »Woran arbeitest du gerade?«

Oliver lehnte sich zurück, beinahe so sehr, dass er fast mit dem Stuhl nach hinten gekippt wäre. Er griff nach seinem Skizzenblock, den er sodann vor Scott auf den Tisch legte.

Scott nahm ihn zur Hand, fuhr sich mit der Hand geistesabwesend über seinen Bartschatten, der schon deutlich mehr als ein Schatten war, mindestens vierundzwanzig Stunden alt. »Die gute, alte Protzeritis. Hübsch.«

Sein Freund warf den Block beiseite – es war wirklich ein protziges Gebäude, das Oliver in einer Phase absoluter, inspirationsloser Langeweile auf seinen Block geschmiert hatte – und musterte ihn. »Blockade?«

»Nein. Ich finde ein Gebäude in genau diesem Design wäre neben der High Line perfekt. Was denkst du?«

»Viele Leute hätten sicher ihre helle Freude daran«, antwortete Scott und legte einen stiefelbekleideten Fuß auf das gegenüberliegende Knie. »Ich glaube aber auch, dass du mir ausweichst. Wie geht es Walter?«

»Gut«, antwortete Oliver. »Ich meine, natürlich nicht gut, aber … keine Veränderung.«

»Haben die Tribeca-Schickimickis sich für dein Design für diese multifunktionale Monstrosität Downtown erwärmt?«

»Ja«, antwortete Oliver geistesabwesend, zog seinen Bleistift hinter dem Ohr hervor und spielte damit herum.

»Na gut, es ist also nicht die Familie. Und die Arbeit ist es auch nicht. Eine Frau.«

Olivers Blick schnellte empor. Er sah Scott in die Augen, dann senkte er die Lider wieder.

»Nagel auf den Kopf getroffen«, meinte Scott und machte sich gar nicht die Mühe, seine Freude zu verbergen. »Wer ist sie? Du hast dich doch nicht schon wieder mit dieser Bitch Bridget eingelassen, oder?«

»Nur keine falsche Rücksichtnahme«, grummelte Oliver.

»Ich hab dir immer gesagt, was ich denke. Schon ganz oft. Jede Frau, die dich einen Monat, nachdem dein Dad die Diagnose erhalten hat, verlässt, ist es nicht wert, dass du auch nur einen Gedanken an sie verschwendest.«

Oliver hätte Scott beinahe daran erinnert, dass auch er mal verlobt gewesen war. Und zwar zur gleichen Zeit wie Oliver. Die beiden Paare waren damals beinahe unzertrennlich gewesen, obwohl es keiner von ihnen bis zum Altar geschafft hatte. Sosehr es Oliver verletzt hatte, dass Bridget ihn im Stich gelassen hatte, das war nichts im Vergleich zu dem, was Scott durchgemacht hatte, als Meredith ihn betrogen hatte.

»Zu ihrer Verteidigung sei gesagt, dass Bridget während der Krankheit meiner Mutter durchaus bei mir blieb«, sagte Oliver. »Es wäre nicht fair gewesen, ihr noch eine Runde dieser Art zuzumuten.«

»Warum nicht? Du musst es doch auch stemmen.«

»Können wir das nicht lassen?«, sagte Oliver müde und rieb sich die Stirn. »Es geht schließlich gar nicht um Bridget. Ich habe nicht mal mit ihr gesprochen.«

»Ah. Also jemand Neues. Gut. Ist ja auch schon allzu lang her.

»Ja, zumal im Vergleich zu dir, wo du dich doch gleich in die nächste Beziehung gestürzt hast«, antwortete Oliver sarkastisch. »Du weißt schon, dass ich abgesehen von Meredith keine einzige Frau kennengelernt habe, mit der du dich triffst? Zufallsbekanntschaften, die du aus Bars abschleppst, zählen nicht.«

»Umso besser, dass wir im Augenblick nicht über mein Liebesleben reden«, sagte Scott und nippte nochmals an seinem Kaffee. »Rede mit dem alten Scotty. Wer ist das Mädchen, dessentwegen du so etwas hier malst?« Er schnipste gegen den Notizblock.

»Neue Nachbarin.«

Überrascht wölbte Scott die Augenbrauen. »Sag mir, dass sie unter sechzig ist.«

Oliver lachte. »Sie ist etwa in deinem Alter. Keine Ahnung, warum sie in ein Gebäude gezogen ist, in dem das Durchschnittsalter etwa bei vierundsiebzig liegt.«

»Hast du sie denn nie gefragt?«

»Ich …« Oliver blieb der Mund offen stehen. Hatte er das? Vielleicht während des Bewerbungsverfahrens. Aber als Mensch? Unter Freunden? Als interessierter Mann die Frau?

»Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß nicht viel mehr von ihr als das, was ich auf Wikipedia gefunden habe.«

»Zum Teufel, klingt nach jeder Menge Ärger.«

»Nicht was du denkst. Sie ist Geschäftsfrau, hat so ein Schmuckimperium aus dem Boden gestampft. Maxcessory.«

Scott schüttelte den Kopf. »Nie gehört.«

Schockierend.

»Jedenfalls ist Naomi meine Nachbarin, und sie ist …«

»Heiß?«

»Heiß. Frustrierend. Eine totale Landplage.«

»Klingt wie ein Wirklichkeit gewordener Traum. Noch irgendwelche anderen guten Eigenschaften außer dem heiß

»Sie kommt gut mit Dad klar.«

Scott nickte verstehend. Eine Frau, die gut mit seinem Vater konnte, das war vielleicht nicht unbedingt die erotischste Basis für eine Beziehung, aber seit dem Tag, an dem Bridget ihn einfach so verlassen hatte, als er sie am meisten brauchte, hatte Oliver sich geschworen, sich niemals mehr mit einer Frau einzulassen, die mit Walter nicht klarkam – die nicht verstand, dass man ihn und seinen Vater nur im Paket bekam.

»Okay, sie ist also heiß«, sagte Scott und hielt einen Daumen in die Höhe. »Sie mag Walter, und sie ist kein leichter Fall …« Jetzt streckte er seinen Zeigefinger aus. »Sie hat ihr eigenes Unternehmen gegründet, also ist sie nicht hinter deinem Geld her«, hakte er dann einen weiteren Punkt ab.

»Wie wahr«, murmelte Oliver.

»Wo liegt dann das Problem?«

»Was meinst du damit?«

Scott zuckte mit den Schultern. »Die Situation ist doch vergleichsweise eindeutig. Du fühlst dich von deiner Nachbarin angezogen, und sie hat trotz deiner Familiensituation nicht die Flucht ergriffen. Das ist aber immer noch keine Erklärung dafür, warum ich dermaßen tief depressive Vibes von dir auffange.«

»Na gut«, antwortete Oliver und beschloss, seinem Freund reinen Wein einzuschenken. »Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass sie buchstäblich von der ersten Sekunde an beschlossen hatte, mich zu hassen.«

Scott zog ein nachdenkliches Gesicht und wackelte mit der Hand. »Um ehrlich zu sein, Kumpel, ich mochte dich auch nicht besonders, als ich dich das erste Mal sah.«

Oliver funkelte seinen Freund wütend an. »Was?«

»Du bist irgendwie …« Scott kniff die braunen Augen zusammen und musterte Oliver. »Steif.«

»Wie bitte?«

»Du weißt schon. Wie deine Mom immer verlangt hast, dass du dich zum Abendessen umziehst und dass du keine Shirts ohne Kragen besitzt und dass du eine Manschettenknopf-Kollektion hast, die vier Generationen zurückreicht.«

»Ich habe keine Manschettenknopf-Kollektion.«

Allerdings hatte seine Mom tatsächlich in seiner Jugend immer verlangt, dass er sich zum Abendessen umzog. Und die Anzahl seiner kragenlosen Shirts war in der Tat überschaubar.

»Frage«, sagte Scott, stellte seine Tasse hin und legte die Fingerspitzen aneinander. »Du arbeitest für dich selbst, stimmt’s?«

»Ja«, antwortete Oliver ungeduldig. »Das weißt du doch.«

»Also bist du der Boss.«

»Und?«

»Du musst keinen Anzug tragen.« Demonstrativ fixierte Scott Olivers Nadelstreifenanzug. »Niemand verlangt das von dir.«

»Korrekt«, erwiderte Oliver und strich sich die graue Krawatte glatt. »Ich ziehe es nur vor, nicht auszusehen wie ein …«

Scott machte eine Geste, um ihn zum Weiterreden zu ermutigen. »Holzfäller? Bohemien? Vagabund? Bauarbeiter?«

»So leicht legst du mich nicht aufs Kreuz«, murmelte Oliver.

»Sieh mal, Mann, ich hab das alles hinter mir gelassen. Habe erkannt, dass du eigentlich gar nicht so ein Tugendbold bist, sondern dich lediglich so kleidest. Aber ich habe eine Weile gebraucht. Menschen wie du lassen sich normalerweise nicht mit Leuten wie mir ein, und deshalb bin ich anfänglich gar nicht davon ausgegangen, dass du ein anständiger Kerl bist.«

»Was zum Teufel meinst du mit ›Menschen wie du‹?«, fragte Oliver nun ehrlich verwirrt.

»Wo komme ich her?«, fragte Scott.

»Ah …« Oliver zermarterte sich das Hirn, und peinlich berührt erkannte er, dass er keine Ahnung hatte.

»Genau. Hab ich dir nie erzählt. Warum nicht? Weil du in der Park Avenue geboren und aufgewachsen bist und immer noch dort wohnst. Und ich? In einer beschissenen, kleinen Stadt in New Hampshire, von der du noch nie das Geringste gehört hast. In einem Haus mit zwei Schlafräumen, in dem ich mit meinem Dad und drei Brüdern lebte. Zwei meiner Brüder wohnen immer noch dort. Zum Teufel, wahrscheinlich ginge es mir genauso, hätte ich nicht irgendwann beschlossen, mich da rauszukämpfen, koste es, was es wolle. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht jeden verdammten Tag damit rechne, dass jemand mich durchschaut.«

Oliver starrte seinen Freund an. Der hatte sein Geständnis mit monotoner, leidenschaftsloser Stimme vorgebracht, aber seine Worte waren … mehr als deutlich. So viel hatte Scott ihm noch nie anvertraut. Aber noch bevor ihm eine passende Antwort einfiel, zog Scott sein Handy aus der Tasche.

»Und jetzt machen wir mal die Probe aufs Exempel. Wie heißt das Mädchen?«

Oliver sagte es ihm, und Scott gab es in sein Handy ein. »Da ist sie ja. ›Naomi Powell, bekannteste‹ bla, bla, bla. Ah. ›Geboren und aufgewachsen in der Bronx. Powell gibt an, dass ihre ärmliche Herkunft ein wesentlicher Motor für ihren beruflichen Erfolg sei …‹«

Scott blickte Oliver über das Handy hinweg an. »Du hast das nicht gelesen?«

»Doch, habe ich«, sagte Oliver und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Ist eine Vom-Tellerwäscher-Zum-Millionär-Story.«

Scott schüttelte den Kopf und steckte sein Handy wieder ein, nachdem er seine Ansicht so untermauert hatte. »Genau, aber ich verwette alles darauf, dass ein Teil von ihr sich immer noch in Lumpen sieht. Du hingegen …«

»Steif«, sagte Oliver, dem langsam dämmerte, worauf sein Freund hinauswollte.

Scott breitete die Hände zu beiden Seiten aus. »Meine Arbeit ist getan.«

Oliver lachte. »Einen Teufel ist sie. Du hast mich bloß beleidigt und mir keinerlei Ratschläge gegeben.«

»Weißt du, wann mir zum ersten Mal aufgegangen ist, dass du kein borniertes Arschloch warst?«, fragte Scott und beugte sich etwas vor.

»Kann kaum erwarten, dass du es mir erzählst.«

»In diesem Arbeitskreis, kurz bevor ich aufgehört habe. Erinnerst du dich, dass wir uns in deiner Wohnung getroffen haben? Eigentlich hatte auch dieses süße blonde Mädchen mit dem Wahnsinns-Fahrgestell dran teilnehmen sollen, aber sie wurde in letzter Minute krank und ist nicht aufgekreuzt, also waren wir nur zu zweit.«

Oliver zuckte mit den Schultern. »Vage.«

»Ich hatte echt verdammte Angst davor, denn ich erwartete allen Ernstes, dass du Gurkensandwiches auf chinesischem Porzellan servierst.«

»Und?«

»Und als du die Tür aufgemacht hast, hieltest du eine Frühlingsrolle in der Hand, trugst Jogginghosen von Nike und ein Unterhemd, auf dem ein paar Sojasoßenflecken zu sehen waren.«

»Mein Gott!« Oliver lachte auf.

»In diesem Moment wurde mir klar, dass wir Freunde sein konnten. Ich erkannte, dass du real warst. Dass sich hinter der schnieken Maske ein Mann verbarg«, sagte Scott, stand auf und nahm seine Tasse zur Hand.

»Ich glaube, es reicht nicht, wenn ich mir Sojasoße aufs Shirt kippe, um Naomi für mich zu gewinnen.«

»Mag sein, also musst du deine Methoden verfeinern«, erklärte Scott sachlich. »Aber wenn du eine Chance willst, Cunningham, dann musst du dieser Frau zeigen, dass sich unter den Nadelstreifen ein Mann verbirgt.«

»Irgendwie nimmt das Gespräch jetzt eine seltsame Wendung.«

»Sagt der Typ, der Penisse hinkritzelt.«

Oliver nahm den Skizzenblock zur Hand, dann drehte er ihn um. »Vielleicht sollte ich ihr das hier zeigen?«

Scott grinste jungenhaft. »Wenn du meinen Rat haben willst: Ich glaube, du hast bessere Chancen, wenn du ihr das richtige Ding zeigst.«

Uuuund Schluss.