10

Montag, 8. Oktober

Wenn es einen Preis dafür gäbe, in Rekordzeit in eine neue Wohnung einzuziehen, dann wäre Naomi ihrer eigenen Ansicht nach durchaus eine Anwärterin gewesen. Sie hatte sich drei Tage in Folge den Arsch aufgerissen, um alles auszupacken und jede Umzugskiste wieder zusammenzufalten, jedes Kleidungsstück auf den Bügel zu hängen und einen neuen Platz für jede Kleinigkeit und jede Handtasche zu finden.

Sie hatte sogar die Vorhänge aufgehängt.

Nicht dass irgendjemand vorbeigekommen wäre, um sich ihr Werk anzusehen … was ihre eigene Schuld war, zugegeben.

Irgendwie hatte Naomi es geschafft, zwei Freundinnen und einen neuen Nachbarn innerhalb einer halben Stunde aus ihrer Wohnung zu vertreiben.

Und keiner von ihnen war seither wieder aufgetaucht.

Das war nicht gerade eine ihrer Sternstunden gewesen, beileibe nicht. Und obwohl sie sich bei Claire und Audrey ausführlich wegen ihres ungehobelten Benehmens entschuldigt hatte, hatte sie es nicht so ganz über sich gebracht, Oliver Cunningham noch einmal gegenüberzutreten.

Einerseits schuldete sie ihm wahrscheinlich tatsächlich eine Entschuldigung. Seine Geste war nachbarschaftlich – ja sogar freundlich gewesen. Und sie war einfach nur unhöflich gewesen. Andererseits viel es ihr höllisch schwer, ihre Erinnerungen an den jungen Oliver Cunningham von dem jetzigen zu trennen. Von jener Version, deren Manieren nicht annähernd so hübsch gewesen waren.

War es fair, einen Mann für die Fehler des Jungen zu bestrafen? Vielleicht nicht.

Aber ihre Vergangenheit war nicht nur von Beschimpfungen geprägt. Sie enthielt die sorglose Lüge eines Jungen, die buchstäblich Leben ruiniert hatte.

Sie war noch nicht bereit, ihm das zu vergeben, egal wie charmant der Mann war. Oder wie gut er aussah.

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, richtete sich ihre Verärgerung über seine Anwesenheit genauso sehr gegen sich selbst, weil sie diesen Mann überhaupt bemerkt hatte. Als sie ihm bei dem Interview gegenübergesessen hatte, war sie zu genervt von seiner bloßen Anwesenheit gewesen, um überhaupt mitzubekommen, wie attraktiv er war.

Aber neulich hatte sie das durchaus bemerkt. Sie hatte registriert, dass er die weichen Rundungen der Kindheit abgelegt hatte. Hatte gesehen, dass die Nase, die als Junge etwas zu lang gewesen war, jetzt perfekt zu seinem markanten Kinn und seinem durchdringenden Blick passte.

Sogar seine Augenbrauen waren sexy. Gerade, dicht und dunkel, besonders im Kontrast zu seinen hellblauen Augen.

So gut er auch aussah, so frappierend war es, wie reserviert Oliver mittlerweile geworden war. Der Junge aus ihrer Erinnerung war lärmend und rauflustig gewesen, liebte Würmer, Sport und Schmutz.

Der erwachsene Oliver sah aus, als wäre er gar nicht in der Lage, Schmutz als solchen zu identifizieren, wenn er ihn ins Gesicht traf (na, wenn das keine verführerische Vorstellung war!), und er war erheblich cooler, als sie ihn in Erinnerung hatte.

Wütend auf sich selbst, weil sie an Oliver dachte – schon wieder –, stand Naomi auf, streckte die Arme über dem Kopf aus und reckte sich, während sie in den regnerischen Nachmittag hinausblickte.

Ihre neue Wohnung hatte zwei Schlafzimmer, und da sie keine Verwendung für ein Gästezimmer hatte, wollte sie den zweiten Raum in ein Büro verwandeln. Aber die neuen Möbel, die sie bestellt hatte, würden erst morgen geliefert werden, weshalb sie jetzt am Küchentisch arbeiten musste.

Deena hatte recht gehabt: Das Team liebte das vorübergehende »Home-Office«-Arrangement. Während der üblichen Konferenzschaltung am Montagmorgen hatte Naomi weniger Make-up und mehr unordentliche Frisuren bemerkt, und obwohl alle bürotaugliche Oberteile trugen, hätte es sie nicht überrascht, wenn sie unterhalb der Kamerareichweite alle Yogahosen anhatten.

Oder vielleicht hatte das ja nur sie selbst.

Und dennoch, so komfortabel es auch war, in den nächsten paar Wochen die Wohnung nicht verlassen und ins Büro fahren zu müssen, so erfuhr sie doch auf die harte Tour, dass ihr Küchenstuhl für einen fast dreißigjährigen Hintern und Rücken einfach nicht gemacht war, wenn man längere Zeit darauf sitzen musste.

Naomi presste die Finger ins Kreuz und beugte sich nach hinten, während sie im Geiste eine E-Mail an einen potenziellen Werbetreibenden verfasste, dessen aufdringliche Werbetaktik ihr langsam auf die Nerven ging. Sie hatte sich gerade eine passende Formulierung zurechtgelegt, als sie vor ihrer Wohnungstür ein Geräusch hörte.

Zunächst ignorierte sie es. Eine ihrer Nachbarinnen hatte einen Bichon, der gern aus ihrer Wohnung ausbüxte und sich auf einen fünfminütigen Machtkampf mit der Besitzerin einließ, während er überlegte, ob »ein leckerer, leckerer Hundekeks« Anreiz genug war, um nach Hause zurückzukehren.

Aber das Geräusch blieb, und schließlich ging ihr auf, dass es diesmal anders klang. Kein schnelles Getrippel winziger Hundepfoten und auch nicht die schmeichelnde Stimme der älteren Besitzerin, die ihrem Liebling Leckerlis verhieß.

Es handelte sich eher um ein langsames Schlurfen und einen gelegentlich gemurmelten Fluch.

Naomi ging zur Tür und sah durch den Türspion. Nichts. Behutsam öffnete sie sie und betrat den Flur. Als sie die Quelle der Geräusche sah, weiteten sich ihre Augen vor Überraschung.

Ein älterer Mann trug einen teuer aussehenden Pullover über einem anscheinend perfekt gestärkten Hemd mit Kragen.

Und unten herum? Hellblaue Boxershorts und Burlington Socken.

Hose? Fehlanzeige.

Sie beobachtete ein paar Sekunden lang, wie er ein paar Schritte voranschlurfte und dann stehen blieb. Die Wand leicht mit der Faust abklopfte, dann das Ohr dranhielt, als horche er auf irgendetwas. Er murmelte etwas vor sich hin, dann wiederholte er das Ganze.

»Sir?«, fragte Naomi vorsichtig.

Er erstarrte, dann drehte er sich auf unsicheren Beinen langsam um und sah sie an.

Naomi keuchte.

Sie hatte sich diesen Augenblick bestimmt ein Dutzend Mal vorgestellt. Vielleicht hundert Mal. Sie hatte sich in lebhaftesten Farben ausgemalt, wie sie Walter Cunningham gegenüberstehen würde, dem Mann, der eine Affäre mit ihrer Mutter gehabt und sie und ihre Mom dann wie Müll auf die Straße geworfen hatte. Zum Teufel, er hatte sie als Abschaum bezeichnet.

Sie hatte sich vorgestellt, wie sie sein bequemes Büro Downtown betrat, mit gerecktem Kinn. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie an seine Tür klopfte und er ärgerlich fragte, wer zum Teufel sie sei, um sodann vor Schreck ohnmächtig zu werden, als sie es ihm mitteilte.

Sie hatte sich vorgestellt, in einer Bar auf ihn zu treffen, ihm den teuersten Scotch auf der Karte zu kaufen und dann Zeuge seiner Überraschung zu werden, wenn er feststellte, wer für seinen Drink bezahlt hatte.

Es hatte noch etliche andere rachsüchtige Szenarien gegeben, aber nicht ein einziges war dieser Realität nahegekommen.

Naomi hatte nicht erwartet, dass er sie auf den ersten Blick erkennen würde. Er hatte ihr vor zwanzig Jahren kaum Aufmerksamkeit geschenkt, und sie hatte sich optisch vollkommen verändert. Ihr Haar war um einige Töne dunkler als das leuchtende Orange ihrer Kindheit. Ihr erster »großer« Kauf, nachdem Maxcessory erste Erfolge zeitigte, war eine Zahnspange gewesen, weshalb ihre schrecklich schiefen und krummen Zähne der Vergangenheit angehörten. Sie trug zwar immer noch eine Brille, aber nur nachts und früh morgens nach dem Aufwachen. Und auch ohne diese Veränderungen war sie schlicht und ergreifend erwachsen geworden.

Sie hatte zwar nicht erwartet, dass er in ihr die Tochter seiner ehemaligen Geliebten wiedererkennen würde, aber auf die Möglichkeit, dass er möglicherweise niemanden mehr wiedererkennen würde, war Naomi nicht vorbereitet gewesen.

Sein Blick war leer und verwirrt, und obwohl sie ihn eigentlich unbedingt hassen wollte – und auf einer gewissen Ebene hasste sie ihn tatsächlich immer noch –, versetzte ihr das Mitleid einen Stich ins Herz.

Der Nebel in seinen Augen klärte sich etwas, und an seine Stelle trat Verärgerung. Er stemmte die Hände in die Hüften und runzelte grimmig die Augenbrauen. Diese Geste hatte sie noch als besonders einschüchternd in Erinnerung, wenn sie versehentlich als Kind ein Glas Wasser verschüttet hatte. Heute wurde die Wirkung durch die fehlende Hose deutlich abgemildert.

»Kann ich Ihnen helfen, junge Dame?«

Oh mein Gott. Naomi war gründlich überfordert. Sie hatte wenig Erfahrung mit älteren Menschen und gewiss nicht mit solchen, die mutmaßlich dement waren.

Sollte sie so tun, als sei nichts? Sollte sie sich um den Mann kümmern?

Sie sah zu Olivers Tür hinüber und fragte sich, ob er zu Hause war. Aber um ein Uhr mittags an einem Montag war er vermutlich bei der Arbeit.

»Suchen Sie nach Oliver?«, fragte sie vorsichtig.

Walter Cunninghams Stirnrunzeln vertiefte sich. Er grübelte. »Oliver …« Sein Gesichtsausdruck wurde etwas klarer. »Oliver ist mein Sohn.«

»Ja, und er wohnt genau dort«, sagte sie behutsam, machte einen Schritt in den Flur und deutete auf Olivers Tür. »Sie suchen nach ihm?«

»Nein, ich glaube nicht«, überlegte Walter und musterte die Wand, die Olivers Tür gegenüberlag. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Eine Person.«

»In den Mauern?«, fragte Naomi und schlug einen leichten Ton an.

»Ja.«

»Das Gebäude ist alt. Vielleicht die Rohrleitungen?«, schlug sie vor und machte noch einen Schritt auf ihn zu.

»Vielleicht, vielleicht.« Er klopfte wieder, dann schien er das Interesse an den Mauern komplett zu verlieren und wandte sich zu ihr um. »Wer sind Sie?«

»Ich heiße Naomi. Ich bin gerade eingezogen«, sagte sie und deutete auf die offene Wohnungstür.

Walter runzelte die Stirn. »Die Wohnung gehört Harriet.«

»Ja«, antwortete Naomi, erleichtert, dass er zumindest das mental noch erfasste. Die Frau, die gerade aus Naomis Wohnung ausgezogen war, hatte in der Tat Harriet geheißen. »Sie ist nach Pennsylvania gezogen, um näher bei ihrer Tochter zu sein.«

»Schande. Alle gehen.« Er musterte sie scharf. »Haben Sie meine Margaret gesehen?«

Margaret. Seine Frau. Seine tote Frau. Da war es wieder. Der mitfühlende Stich im Herzen für einen Mann, den sie ihr Leben lang verachtet hatte. Sie schürzte die Lippen, jetzt offiziell in Panik. Sollte sie ihm sagen, dass seine Frau verstorben war? Oder würde ihn das nur noch mehr durcheinanderbringen?

»Wohnen Sie oben?«

Sie hatte die Cunninghams im Laufe der Jahre stets im Auge behalten und glaubte fest, dass sie nie umgezogen waren, aber sicher konnte sie natürlich nicht sein.

»Oben?« Er runzelte die Stirn. Dann fing er an, sich an ihr vorbeizudrängen. Nicht in Richtung Treppenhaus, sondern auf Naomis Apartment zu.

»Möchten Sie vielleicht ’reinkommen?«, fragte sie unnötigerweise, denn er war bereits in der Wohnung. »Soll ich uns einen Kaffee kochen? Oder Tee?«

Sie hoffte, er würde nicht Tee sagen. Sie trank das Zeug gar nicht und hatte auch gar keinen im Haus.

»Ich nehme einen Whiskey«, sagte er da schon und schritt zielstrebig und erheblich sicherer als zuvor in ihr Wohnzimmer.

Einen Whiskey? Ach du liebe Güte.

Sie folgte ihm in ihre Wohnung und lächelte leicht, als sie sah, dass er es sich bereits auf ihrer Couch bequem gemacht hatte, sich eine ihrer Decken über den Schoß gebreitet hatte und nach der Fernbedienung griff. »Haben Sie einen Scotch da?«

»Äh, ich schau mal nach«, sagte sie Zeit schindend.

Was jetzt? Wahrscheinlich wurde er tagsüber doch von irgendjemandem betreut, aber sie wollte ihn nicht allein lassen, während sie hinauf in seine Wohnung ging, um nachzusehen. Sie hatte auch Oliver Cunninghams Telefonnummer nicht. Sie hatte aber die Nummer von Ms Gromwell, der Frau, die hier als allgemeine Ansprechpartnerin galt, aber noch kam es ihr nicht richtig vor, sie wegen der persönlichen Angelegenheiten der Cunninghams anzurufen.

Warte! Trugen die alten Menschen nicht manchmal diese Armbänder? Diese Notfallarmbänder mit einer Kontaktnummer?

Walters Daumen drückte immer wieder auf die Fernbedienung. Offensichtlich suchte er einen bestimmten Kanal. »Wünschte, heute wäre tagsüber auch ein Spiel«, murmelte er, bevor er auf dem History Channel hängen blieb.

»Mögen Sie Baseball?«, fragte Naomi beiläufig, setzte sich neben ihm auf die Couch und betrachtete seine Handgelenke. Erleichtert schloss sie kurz die Augen, als sie ein silbernes Armband an seinem linken Arm sah. Im Vergleich zu dem fadenscheinigen Ding ihrer Fantasie sah es recht elegant aus, aber sie war ziemlich sicher, dass das rote Symbol irgendein medizinischer Indikator war.

»Darf ich mal Ihr Armband sehen?«, fragte sie mit hoffentlich ruhigem, freundlichem Lächeln.

Anscheinend war es aber nicht freundlich genug. Walter entriss ihr die Hand und beäugte sie misstrauisch. »Wer sind Sie?«

Naomi lächelte unverdrossen weiter und stellte sich erneut vor. »Ich bin Naomi, Mr Cunningham.«

Er verengte die Augen und musterte sie. »Kenne ich Sie?«

Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gut.

»Wir sind Freunde«, log sie glatt, denn unter seinem Trotz entdeckte sie eine Spur von Angst. »Ich hätte mir so gern Ihr Armband angesehen.«

Er entzog ihr den Arm nur noch entschlossener, und seine Erregung wuchs ebenso sehr wie sein Misstrauen.

Da kam ihr eine Idee.

»Wussten Sie, dass ich ein Unternehmen für Accessoires besitze?«, fragte sie und gab vor, sich das Armband gar nicht mehr ansehen zu wollen. Sie zog die Beine unter sich.

»Ein Unternehmen?« Sein Blick wurde schärfer und wachsamer, und sie entdeckte eine Spur des halsabschneiderischen Walter Cunningham aus ihrer Erinnerung.

Sie nickte. »Ich habe es selbst aus dem Boden gestampft. Es nennt sich Maxcessory und funktioniert auf Abonnement-Basis. Die Mitglieder bezahlen eine jährliche Gebühr, um allmonatlich eine eigens für sie zusammengestellte Schachtel mit Accessoires zu erhalten. Ohrringe, Armbänder, Halsketten. Manchmal einen Schal oder eine Sonnenbrille.«

»Femininer Schnickschnack.«

Naomi musste bei dieser Beschreibung unwillkürlich lachen. Es war so altmodisch und männlich, und doch hatte er sie damit nicht herabsetzen, sondern vielmehr verstehen wollen.

»Die meisten unserer Abonnenten sind Frauen«, gab sie zu. »Aber im vergangenen Jahr führten wir auch eine Serie für Männer ein. Manschettenknöpfe, Gürtel, Einstecktücher. Es hat sich als Wachstumsmarkt entpuppt.«

Er schien darüber nachzudenken. »Vielleicht sollten Sie Hosenträger hinzufügen. Heutzutage findet man keine guten mehr.«

»Ich werde es beim Team mal vorschlagen«, versicherte Naomi ihm. Und das würde sie, denn sie hielt ihre Versprechen, wenn sie auch ziemlich sicher war, dass Hosenträger ein Nischenprodukt waren, das für den Durchschnittkunden von Maxcessory nicht von Interesse war.

Sie sprach weiter, in beiläufigem und ruhigem Ton. »Ich weiß nicht, ob ich hier in meinem Home Office einige männliche Accessoires habe, aber möchten Sie nicht sehen, was wir den Frauen schicken?«

Walter wirkte nicht überzeugt. »Und damit machen Sie Profit?«

Naomi nannte ihm den astronomischen Gewinn, den Maxcessory im vergangenen Jahr gemacht hatte, und Walter zog die buschigen Augenbrauen in die Höhe. »Na gut. Ich sehe es mir an. Früher habe ich in Unternehmen investiert, wissen Sie.«

Sie wusste es, aber eine Investition seinerseits, ob nun real oder eingebildet, war im Augenblick in seinem Zustand nicht ihr Ziel.

Naomi ging in ihr Büro. Sie hatte zwar noch keinen Schreibtisch, aber sie hatte ihr Inventar so gut es ging in Kisten an der Wand organisiert. Sie griff nach ein paar Stücken, wobei sie besonderen Wert auf eine bestimmte Art von Schmuckstück legte.

Nachdem sie ins Wohnzimmer zurückgekehrt war, legte sie die Stücke auf dem Wohnzimmertisch aus, und Walter rückte auf der Couch vor, um sie in Augenschein zu nehmen. Er klopfte sich auf die Brusttasche, wo er vermutlich seine Lesebrille oft aufbewahrte. »Verdammt«, murmelte er. »Brille vergessen.«

Dieses Manko glich er aus, indem er die Stücke ganz dicht an sein Gesicht heranführte und jedes einzelne mit mehr Interesse studierte, als sie erwartet hätte, zumal es ja »femininer Schnickschnack« war.

»Die Qualität scheint mir ziemlich gut zu sein«, räumte er ein.

»Ja, ich halte immer Ausschau nach hochwertigen Produkten, die leicht zu dimensionieren sind, denn wir benötigen Tausende von jedem Stück. Deshalb war ich so interessiert an Ihrem Armband«, fügte sie spontan hinzu. »Ist eine schlechte Angewohnheit von mir. Ich schaue mir jedes Schmuckstück genau an, das ich in die Finger kriegen kann.«

Er starrte sein Handgelenk einen Augenblick lang an, als sei er überrascht, dort ein Armband zu entdecken. Dann zuckte er mit den Schultern. »Besser als das letzte, das sie mir gegeben haben. Hübscher. Gutes Metall, sehen Sie?«

Sie schloss erneut vor Erleichterung die Augen, als sie sah, wie er nach dem Verschluss griff.

»Brauchen Sie Hilfe dabei?«, fragte sie. »Armbänder lassen sich oft schwer an- und ausziehen mit einer Hand.«

Wortlos streckte er ihr das Handgelenk entgegen, und Naomis Finger fanden den Verschluss und öffneten ihn schnell, bevor er es sich wieder anders überlegen konnte.

Im Bruchteil einer Sekunde verlor Walter das Interesse an ihr und dem Schmuck und wandte sich wieder dem Fernseher zu, wo die monotone Stimme des Erzählers gerade die Gräuel einer Schlacht im Ersten Weltkrieg beschrieb.

Naomi blickte auf das Armband herab.

Walter hatte recht gehabt – das Armband selbst war hübsch. Anmutig für ein männliches Schmuckstück, aus dickem Metall und hervorragend gearbeiteten Gliedern.

Aber das daran befestigte Schild …

Obwohl sie eigentlich ahnte, was sie dort entdecken würde, versetzten ihr die ersten beiden Zeilen der Inschrift einen traurigen Stich.

WALTER CUNNINGHAM, ALZHEIMER

Sie atmete aus.

Darunter standen ein Name und eine Handynummer.

Sie warf Walter noch einen schnellen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass er nicht spontan doch noch die Nerven verlor, dann stand sie auf und ging zum Tresen hinüber, auf dem sie ihr Handy an den Strom angeschlossen hatte.

»Haben Sie Scotch da?«, fragte Walter wieder, ohne sich umzudrehen.

»Ich schaue in einer Minute nach«, versicherte sie und gab die Nummer auf Walters Armband in ihr Handy ein. Mit einem Auge immer auf Walters grauen Hinterkopf hob sie das Telefon ans Ohr und ließ es klingeln.