17

Dienstag, 16. Oktober

Oliver hatte den Kampf gegen die Kopfschmerzen, die seit drei Uhr nachmittags immer stärker wurden, verloren, und das unverkennbare Geräusch eines hartgekochten Eis, das gegen die Küchentapete flog, traf seine Schläfe wie ein Vorschlaghammer.

Er hatte ein provisorisches Büro im Gästezimmer seines Vaters für den Tag eingerichtet, denn er wollte in der Nähe bleiben und seine Arbeit zumindest teilweise erledigen können, während Walter und Serena sich aneinander gewöhnten.

Zumindest war das der ursprüngliche Plan gewesen. In Wirklichkeit hatte er bislang nicht mehr als fünf Minuten am Stück gehabt, um auch nur eine einzige E-Mail zu schreiben, und was die Eingewöhnungsphase von Walter und Serena anging … da gab es nur wenig bis gar keinen Fortschritt.

Oliver ging zur offenen Tür und blickte in die Küche hinein. Serena räumte seelenruhig und schweigend den Teller und den Wasserbecher weg, den sie Walter zum Abendessen hingestellt hatte.

»Wie wär’s mit Fernsehen, Walter? Ihr Sohn sagte, dass Sie gern den History Channel ansehen?«, fragte sie, wobei ihre Stimme niemals dieses fröhliche Summen verlor, nicht einmal, als sie das Ei vom Teppich aufhob und in den Mülleimer warf.

Sie hielt inne, als sie Oliver ansah. Anscheinend bemerkte sie, wie angespannt er war, denn sie lächelte ihm beruhigend zu.

Aber er war nicht beruhigt. Er wusste, dass er sich nicht entschuldigen musste. Wusste, dass sein Vater nicht mehr begriff, was er tat, aber er hatte dennoch das Bedürfnis, sie um Verzeihung zu bitten.

Sein Vater war den ganzen Tag schon eine Bedrohung gewesen. Nicht nur die üblichen Stimmungsschwankungen und Unvorhersagbarkeit der Demenz, sondern etwas anderes. Aus irgendeinem Grund hatte er beschlossen, Serena nicht zu mögen, und seine Abneigung schien sämtliche Stimmungen und Erinnerungswellen zu durchdringen.

Man musste es der Frau hoch anrechnen, dass es ihr nichts auszumachen schien. Zweifellos hatte sie schon zuvor mit ähnlichen Fällen, wenn nicht gar schlimmeren, zu tun gehabt. Olivers Ansicht nach waren Frauen wie Serena und Janice Heilige. Ja, sie wurden für ihre Arbeit bezahlt, aber man musste schon ein ganz besonderer Mensch sein, um Walter mit unwandelbarer Geduld zu behandeln. Walters frühere Freunde waren dazu nicht in der Lage. Ebenso wie seine noch lebenden Geschwister. Zum Teufel, selbst Oliver konnte an besonders schlimmen Tagen nicht verhindern, dass er gelegentlich die Geduld verlor.

Janice und Serena aber schien das alles nichts auszumachen.

Naomi schien das nichts auszumachen.

Oliver lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen, beobachtete geistesabwesend, wie Serena Walter ins Wohnzimmer lockte, während seine Gedanken bei einer ganz anderen Frau waren.

»Lassen Sie mich in Ruhe, zum Teufel«, grummelte Walter, als Serena versuchte, ihm die Decke über die Beine zu legen.

Oliver betrat das Zimmer, lächelte Serena entschuldigend zu und ging zu seinem Vater hinüber, aber Walter beharrte auf seiner schlechten Laune.

Er schubste Oliver weg. »Du stehst mir im Weg.« Er warf einen misstrauischen Blick zur Küche hinüber, wo Serena zu spülen begonnen hatte. »Wer ist das?«

»Das ist Serena, Dad. Sie leistet dir die nächsten Wochen Gesellschaft, wenn ich bei der Arbeit bin.«

»Ich will keine Gesellschaft.«

»Das steht nicht zur Diskussion«, sagte Oliver und hörte selbst, wie erschöpft seine Stimme klang.

»Wo ist Janice?«

»Ihr Vater ist krank. Sie sorgt für ihn.«

»Ich dachte, wir bezahlen sie, damit sie für mich sorgt. Ich mag sie nicht.« Er deutete anklagend auf Serena.

»Dad, gib ihr eine Chance.«

»Wo ist die andere?«, fragte Walter.

»Die andere was?«

»Das Mädchen. Die, die du magst, die mit dem orangefarbenen Haar.«

Oliver erstarrte, etwas überrascht, dass sein Vater sich an jemanden erinnerte, den er nur zweimal getroffen hatte. »Naomi?«

Walter lächelte ihm verschwörerisch zu, und normalerweise wäre Oliver das Herz aufgegangen angesichts dieses seltenen Versuchs seines Vaters, ein Gefühl der Verbundenheit aufkommen zu lassen, wäre es nicht um ausgerechnet den einen Menschen gegangen, den Oliver verzweifelt aus seinen Gedanken zu verbannen versuchte.

»Wo ist sie?«, fragte Walter wieder. »Ich mag sie lieber als die da.« Er sagte es laut und deutete wieder auf Serena.

Die blonde Pflegerin konnte die Worte nicht überhört habe, und Oliver zuckte zusammen und warf ihr erneut einen bedauernden Blick zu. Aber sie lächelte nur und machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann machte sie sich daran, die Arbeitsplatte abzuwischen.

»Naomi ist nicht deine Pflegerin, Dad. Sie ist nur unsere Nachbarin.«

Walter blickte rebellisch drein, und Oliver hob resigniert die Hände. Naomi hatte es nun mal angeboten, und Oliver war müde. So müde.

»Wie wäre es damit, Dad? Ich frage Naomi, ob sie uns manchmal aushelfen kann, wenn du die restliche Zeit über nett zu Serena bist.«

Walter warf Serena einen weiteren niederträchtigen Blick zu, dann nickte er trotzig.

Oliver atmete erleichtert aus. Wahrscheinlich war die ganze Unterhaltung nutzlos, denn morgen – wenn nicht gar in wenigen Minuten – würde sein Vater wahrscheinlich vergessen haben, wer sie alle waren, aber Oliver war fest entschlossen, Walters lichte Momente so erträglich wie möglich zu gestalten, und wenn das bedeutete, dass Naomi …

Oh, wem wollte er eigentlich etwas vormachen? Sein Wunsch, Naomi zu sehen, hatte sehr wenig mit seinem Vater zu tun. Er wollte diese Frau durchschauen, und wenn es ihn umbrachte. Und das tat es vielleicht sogar. Oder sie würde es tun.

Oliver kehrte in die Küche zu Serena zurück. »Tut mir leid.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich mache diesen Job schon viel zu lange und nehme absolut gar nichts persönlich.«

»Warum machen Sie das?«, fragte er interessiert. Es war übergriffig, aber Serena war erheblich freundlicher und offener als Janice.

Serenas Lächeln war traurig. »Meine Großmutter war dement. Sie hat geholfen, mich großzuziehen, und als sie anfing, ihr Gedächtnis zu verlieren, war das … hart. Ich beschloss ziemlich früh schon, dass ich mein Möglichstes tun wollte für die Menschen, die das Gleiche durchmachen müssen wie meine Großmutter. Und für ihre Familien.«

»Sie sind ein besserer Mensch als ich«, sagte Oliver und rieb sich mit der Hand übers Gesicht.

»Sie machen das doch toll«, widersprach Serena leise. »Aber wenn ich Ihnen etwas vorschlagen darf …«

Er sah sie abwartend an.

»Sie brauchen eine Pause«, sagte Serena sanft. »Um seinetwillen und für sich selbst. Für Ihren Vater brauchen Sie nun mal einen klaren Kopf. Ich habe heute Dienst bis neun. Warum gönnen Sie sich nicht ein bis zwei Stunden für sich selbst?«

Er zögerte, dachte an die unmittelbare, wenn auch unbegründete Antipathie seines Vaters gegen Serena.

»Wir kriegen das schon hin«, versicherte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

»Vielleicht gehe ich wirklich eine Zeit lang nach Hause. Ich wohne im zweiten Stock dieses Gebäudes und kann innerhalb weniger Sekunden oben sein, wenn Sie anrufen.«

»Sehr gut.« Er wusste, sie würde sich nur im äußersten Notfall melden.

»Was Ihren morgigen Dienst angeht, wenn Sie abkömmlich sind, würde ich eine Teilzeitregelung nach Bedarf anstreben, vielleicht nur für abends. Aber erst muss ich noch etwas klären. Darf ich Ihnen später Bescheid geben?«

»Natürlich«, versicherte sie lächelnd. Dann deutete sie mit einem Kopfnicken auf Walter, der in seinem Sessel eingedöst war. »Er scheint diese Naomi ja ziemlich zu mögen.«

»Ja, nicht wahr?«, antwortete Oliver erschöpft.

Merkwürdigerweise. Wie der Vater, so der Sohn.

»Ich bin bald wieder da«, verkündete er Serena. »Dann können wir Ihren Dienstplan besprechen.«

Sie entließ ihn mit einer Handbewegung, und Oliver machte sich in den zweiten Stock auf.

Aber er ging nicht in seine eigene Wohnung.