13

Mittwoch, 10. Oktober

Naomi war beinahe ins Haus gerannt, weshalb Oliver davon ausgegangen war, dass sie in der Sicherheit ihrer Wohnung verschwunden war, bevor er durch die Tür trat.

Doch jetzt blieb er wie angewurzelt stehen, überrascht, dass sie immer noch dort stand.

Ein paar Sekunden lang sagte keiner von beiden ein Wort, sondern sie musterten sich nur misstrauisch.

»Also«, sagte sie, stieß sich von der Wand wieder ab, auf der noch die gleiche, hässliche Tapete klebte wie in seiner Kindheit, und richtete sich auf. »Das war …?«

»Lilah«, soufflierte er.

Ja. Die Lilah. Nachdem er dummerweise Naomi erzählt hatte, dass er mit ihr ausging, hatte ihn sein Gewissen so lange geplagt, bis er schließlich die Nummer gewählt hatte, die auf einem Post-it auf seinem Schreibtisch schon seit Wochen vor sich hin dümpelte. Er hatte eigentlich vorgehabt, einen Termin für nächste Woche auszumachen. Vielleicht sogar erst für nächsten Monat.

Stattdessen hatte Lilah etwa ein halbes Dutzend Andeutungen über irgendeine Weinverkostung noch in dieser Woche gemacht, so offensichtlich, dass ihm einfach keine Möglichkeit einfiel, Nein zu sagen, ohne wie ein Arschloch zu klingen.

Es war ganz … okay gewesen.

Lilah war nett. Freundlich. Lachte viel. Sehr viel sogar.

Wie jeder andere auch mochte er ein anständiges Glas Wein. Aber die ganze Zeit darüber zu diskutieren, ob er mehr rote oder dunkle Früchte im Abgang des ’03 Barolo schmeckte, war nicht ganz die Vorstellung, die er von einem seltenen freien Abend hatte, an dem er sich weder um die Arbeit noch um Walter kümmern musste.

»Also«, wiederholte Naomi, als sie die Treppe hinaufstiegen. »Sie schien nett zu sein.«

»Ziemlich«, sagte er und versuchte, nicht darauf zu achten, wie ihre Hüften sich wiegten, während sie die Stufen vor ihm erklomm. »Und Ihr Date. Sehr …«

Sie warf ihm einen dunklen Blick über die Schulter zu. »Ja?«

»Lassen Sie mich raten«, sagte Oliver, als sie den Treppenabsatz des zweiten Stockwerks erreicht hatten. »Sein Name enthält ein Ypsilon.«

»Was?«, blaffte sie.

»Sein Name«, wiederholte Oliver und lehnte die Schulter an die Wand neben ihrer Tür, während sie die Schlüssel packte, als frage sie sich, ob sie damit ihre Wohnungstür öffnen oder seine Halsschlagader durchbohren solle. »Enthält er ein Ypsilon? Ryan. Myron. Bryson.«

»Sagt der Typ, der Oliver heißt.«

»Was ist falsch an meinem Namen?«

»Nichts, wenn man eine Waise aus dem neunzehnten Jahrhundert ist.«

»Also, wie heißt er?«, bohrte Oliver weiter und beugte sich ein wenig zu ihr vor.

Sie schnaubte. »Dylan.«

Oliver lächelte. »Und das schreibt sich …?«

»Mit einem Ypsilon, ja, und jetzt sagen Sie mir, wie ist es mit Dickens heutzutage? Nennen Sie ihn Chuck, oder …«

»Laden Sie mich zu einem Drink ein«, unterbrach er sie.

Naomi blinzelte. »Sie laden sich selbst in meine Wohnung ein?«

»Sie können mir den Drink auch in einer Tasse servieren. So langsam finde ich Geschmack daran.«

»Was ist mit Lilah?«, fragte sie den Namen regelrecht singend, verschränkte die Arme vor der Brust, während die Schlüssel in ihrer linken Hand baumelten.

»Jetzt halten Sie sich fest. Hin und wieder gestattet sie es mir, ein Getränk zu mir zu nehmen, ohne zuerst ihre Erlaubnis einholen zu müssen. Was ist mit Dylan mit Ypsilon? Ist es ernst zwischen Ihnen beiden?«

»Eigentlich«, erklärte sie, steckte den Schlüssel ins Schloss und schob die Tür auf, »versucht er, einen Film über mich zu drehen.«

»Einen Porno?«, fragte Oliver und folgte ihr hinein, obwohl er nicht explizit eingeladen worden war.

Naomi lachte herzhaft und warf ihre Tasche auf die Couch. »Nein. Oh Gott, nein. Eine Fernsehserie über mein Leben.«

»So interessant sind Sie?«, erkundigte Oliver. Es klang scherzhaft, aber insgeheim fand er die Idee gar nicht so übel. Die Frau faszinierte ihn, obwohl es an ihm nagte, zu wissen, dass er nicht der Einzige war, den sie in ihren Bann geschlagen hatte. Er hatte mitbekommen, wie Dylan mit Ypsilon Naomi angesehen hatte. Dieser Mann wollte verdammt noch mal einiges mehr als nur eine Fernsehserie von ihr.

Naomi zuckte mit den Schultern und öffnete eine Tür über dem Kühlschrank, hinter der sich offenbar der Alkohol verbarg. Er sah zu, wie sie eine winzige Flasche mit etwas, das er schon mal bei Barkeepern gesehen hatte, herauszog, sich dann auf die Zehenspitzen stellte und nach einer Flasche Woodford Reserve griff.

Obwohl sie schwarze Stilettos trug, kam sie nicht ganz an den Whiskey. Also stellte Oliver sich neben sie und streckte die Hand nach oben aus, um nach der Flasche zu greifen. Es war gar nicht seine Absicht gewesen – nicht bewusst jedenfalls –, aber durch die Bewegung presste er sich unwillkürlich seitlich an sie, nur für einen Augenblick.

Beide erstarrten. Verdammt. Das war es, was ihm bei Lila heute Abend gefehlt hatte. Dieses schwer definierbare, gewisse Etwas. Eigentlich vermisste er das schon verdammt viel länger als erst seit heute Abend. Er räusperte sich und gab ihr die Whiskey-Flasche, die sie mit dankbarem Nicken entgegennahm. Doch statt jetzt zurückzuweichen, wanderten ihre Augen von seiner Krawatte hinauf zu seinem Gesicht und sahen ihn misstrauisch an.

Oliver lächelte kläglich. »Warum tun sie das?«

»Warum tue ich was?«

»Sie sehen immer aus, als erwarteten Sie jeden Moment, dass ich mich mies verhalte oder eine unangenehme Bemerkung mache.«

Sie lachte leise und sah auf den Bourbon in ihrer Hand, fuhr mit dem roten Fingernagel das Etikett nach. »Sagen wir nur einfach, so bin ich gewissermaßen konditioniert worden.«

Oliver spürte einen heftigen Stich des Zorns auf denjenigen, der sie schlecht behandelt hatte. Gleichzeitig war er erleichtert, dass er selbst offenbar Fortschritte machte und sie so langsam mit offeneren Karten zu spielen begann.

»Ah«, antwortete er sanft, um sie nicht zu verschrecken. »Eckstück.«

Ihr Kopf fuhr nach oben. »Was?«

»Sie sind wie ein Puzzle«, erläuterte er lächelnd, »und ich habe gerade eines der Eckstücke gefunden.«

»Ein Eckstück?« Sie sah aufrichtig und bezaubernd perplex aus.

»Haben Sie denn noch nie ein Puzzle gespielt?«, fragte er und streckte langsam die Hand aus. Seine Finger berührten ihren Hals, und sie wich zurück.

Oliver hielt leichthin die Hand in die Höhe, so wie er es bei einem schreckhaften Tier gemacht hätte. Ihre Reaktion beunruhigte ihn. »Sorry. Sie tragen nur immer noch ihren Mantel. Und Ihr Kragen war …« Er machte eine Handbewegung, um ihr zu bedeuten, dass der Kragen umgeknickt war, und dass er ihn nur wieder richtig hinlegen hatte wollen.

Ihre Hand flog zu ihrem Hals hinauf, und sie blinzelte schnell. Dann stieß sie ein gezwungenes Lachen aus, als sei ihre Reaktion auf seine Berührung eigentlich vollkommen unwichtig. Sie stellte den Bourbon auf die Theke und zog ihren Mantel aus.

»Hier«, sagte sie und drückte ihn ihm in die Hand.

Er sah auf den Damentrenchcoat herab. Sie errichtete also immer noch Grenzen zwischen ihnen. Buchstäblich. Aber immerhin warf sie ihn nicht hinaus, und dieser Bourbon war doch ein Hoffnungsschimmer. Umso mehr, als sie auch noch zwei Gläser herausholte.

Sie sah ihn an und hielt einen Augenblick lang inne. Ihm sank das Herz, als sie die beiden Gläser wieder wegräumte. Dann aber schöpfte er erneut Hoffnung, denn sie holte zwei Tassen heraus.

»Ah«, sagte er lächelnd. »Unser Ding.«

»Wir haben kein Ding«, murmelte sie gereizt und holte eine Schachtel mit Zuckerwürfeln aus dem Schrank.

»Aber klar doch«, widersprach Oliver, durchquerte den Raum und öffnete die Tür ihres Garderobenschranks. Er hängte ihren Trenchcoat dort auf und kehrte zurück. »Schnaps aus Tassen.«

»Woher wollen Sie wissen, dass dieser Drink für Sie ist?«, fragte sie, maß die Zutaten in die Tassen ab, ohne ihn dabei anzusehen.

»Weil Sie Dylan mit Ypsilon draußen mit angepisstem Gesicht auf dem Bürgersteig stehengelassen haben.«

Ihr Kopf fuhr nach oben. »War er nicht.«

»Angepisst? Aber klar. Ich erkenne einen frustrierten, notgeilen Typen, wenn ich einen sehe. Er dachte, er könnte heute landen.«

»So war das nicht. Er will nur, dass ich einwillige, diese Serie produzieren zu lassen.«

»Und wollen Sie das?«

Ihre Aufmerksamkeit galt nun wieder den Drinks. »Hmm?«

»Die Fernsehserie«, meinte Oliver und stand jetzt wieder an der Theke. »Wollen Sie sie machen?«

Eine kleine Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen, und sie schob sich eine Strähne ihres dunkelroten Haares hinters Ohr. »Das hat mich noch nie jemand so direkt gefragt.«

»Na ja, aber das ist die entscheidende Frage«, sagte er und lockerte seine Krawatte, bis ihm einfiel, dass er sich ja in ihrer Wohnung, nicht in seiner eigenen befand. Seltsam, dass er sich in der Höhle des Löwen so zu Hause fühlte. Er beschloss, dies der Tatsache zuzuschreiben, dass die Wohnungen nebeneinander lagen, und nicht darauf zurückzuführen, dass diese kratzbürstige Frau irgendwie … tröstlich auf ihn wirkte.

Als sei sie das Zuhause.

Er schob den Gedanken beiseite. »Also, wollen Sie die Serie drehen lassen?«

»Keine Ahnung«, antwortete sie und widmete sich wieder der Zubereitung der Drinks, indem sie eine Handvoll Eiswürfel in die Tassen gab. »Es ist schon seltsam.«

Es war seltsam. Er konnte sich nicht vorstellen, sein Leben plötzlich auf großen Bildschirm, dem kleinen Bildschirm … überhaupt irgendeinem Bildschirm zu sehen. Aber er war ja auch kein milliardenschwerer Unternehmer mit fragwürdigem Hintergrund. Ja, er hatte sein Wikipedia-Stalking erledigt, obwohl dort, abgesehen von der Information, dass sie aus der Bronx stammte, nicht allzu viel über ihr Leben vor Maxcessory zu lesen war.

»Ich denke darüber nach«, sagte sie jetzt als Antwort und schob ihm die Tasse über die Theke hinweg zu. »Mir gefällt die Vorstellung, Mädchen und junge Frauen zu ermutigen, sich selbst etwas aufzubauen, ihre Träume zu verfolgen und so weiter.«

»Ist ja auch verdammt riesig, was Sie sich da aufgebaut haben«, sagte er und meinte es ernst.

Sie nickte dankbar. »Was machen Sie denn eigentlich?«

»Ich bin Architekt«, erklärte Oliver und hob die Tasse hoch.

Naomi wirkte überrascht. »Wirklich?«

Er lachte. »Ja, wirklich. Sehe ich nicht so aus?«

»Gar nicht«, erwiderte sie aufrichtig. »Sie wirken eher wie der Erbe des Familienunternehmens.«

Ihre Worte versetzten ihm einen Stich, und schnell blickte Oliver auf seinen Drink hinab, um es vor ihr zu verbergen, aber entweder war er nicht schnell genug, oder sie war aufmerksamer, als er erwartet hatte.

»Tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich denke, mit Ihrem Vater …«

»Ich bin fast froh, dass er sich nicht erinnert«, rutschte es Oliver leise heraus, obwohl er das gar nicht hatte sagen wollen. »Das war unser größter Streit, als ich ihm mitteilte, dass ich Architektur studieren, statt das Familienunternehmen leiten wollte. Er meinte, es sei nur eine Phase. Dann hatten wir einen sogar noch heftigeren Streit, als ich ihm mitteilte, dass ich mein eigenes Architekturbüro gründen wollte, und ihm klar wurde, dass es keine Phase war und dass ich es tatsächlich wagte, ihm zu trotzen. Keine Ahnung, warum ich Ihnen das alles erzähle«, murmelte er leicht verlegen.

»Ich bin sicher, dass er stolz auf Sie war«, sagte Naomi in sanfterem Ton als sonst.

»Ich bin sicher, dass er das nicht war.« Die Beziehung zwischen ihm und seinem Vater, die immer angespannt gewesen war, hatte sich danach nie wieder erholt. Und dann war Walter krank geworden, und die Rollen waren neu verteilt worden. Nicht dass Oliver froh darüber war, dass sein Vater einen Teil seiner Persönlichkeit verloren hatte. Alzheimer war wahrlich eine beschissene Krankheit. Trotzdem war er egoistischerweise auch ein bisschen erleichtert gewesen, ein paar ihrer alten Streitpunkte ad acta legen zu können und gemeinsam mit ihm ein Baseballspiel ansehen zu können – als Vater und Sohn.

Er trank einen ersten Schluck und blickte überrascht darauf herunter. »Der ist gut. Sehr gut.«

»Ich weiß«, antwortete sie und lächelte unbescheiden. »Ich mache einen hervorragenden Old-Fashioned. Kochen ist nicht mein Ding, aber Cocktails mixen? Darin bin ich nicht schlecht.«

Er nickte zustimmend und nippte erneut daran. »Warum hier?«

»Warum hier was?«, fragte sie, nippte ebenfalls und beobachtete ihn.

»Warum dieses Gebäude? Sie sind noch keine dreißig, und ohne unhöflich sein zu wollen: Ihr finanzieller Erfolg ist kein Geheimnis. Sie könnten es sich leisten, überall zu leben.«

»Ah ja, aber das hier ist die Park Avenue«, antwortete sie.

Oliver seufzte. »Und schon liegen wieder alle Teile auf dem Boden.«

»Was?«, fragte sie mit einem Lachen.

»Die Puzzleteile. Ihre Puzzleteile. Als hätten sie sie absichtlich hinuntergeworfen.«

»Wie das?«

»Weil, Naomi«, sagte ihr, und ihr Blick wurde schärfer, als er sie beim Vornamen nannte. »Das Prestige der Park Avenue Ihnen egal ist. Sie haben gelogen.«

»Das darf ich.«

»Lügen?«

»Einem Mann, den ich kaum kenne, nicht jede Einzelheit meines Lebens und jedes Motiv darlegen.«

»Und doch sind wir hier, nehmen unseren Schlummertrunk statt mit unseren jeweiligen Dates miteinander ein«, betonte er.

Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, runzelte verwirrt die Stirn. »Sie haben recht.«

Ihr missmutiger Tun hätte ihm etwas ausmachen sollen, aber er ertappte sich dabei, wie er stattdessen grinste, erleichtert, dass er nicht der Einzige war, der gerade versuchte, ein Puzzle zu lösen, und es schwer fand.

Er hob seinen Drink hoch. »Darf ich mir die ausborgen? Die Tasse?«

»Warum nicht, fügen Sie sie nur Ihrer Sammlung hinzu«, sagte sie, womit sie die Kaffeetasse meinte, die er noch vom Tag ihres Einzugs hatte. »Sie wollen gehen?«

Sorgsam verbarg er sein Lächeln über die verwirrte, beinahe verdrießliche Note in ihrer Stimme.

»Ich will nach Dad schauen. Janice ist zwar da, aber er hatte einen schlimmen Abend, bevor ich ging. Ich will nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Klar, natürlich«, sagte sie.

Oliver nickte zum Abschied und trat in den Flur, wobei er sich nur ein ganz klein wenig schuldig fühlte, weil er die Halbwahrheit gesagt hatte, nachdem er sie der Lüge bezichtigt hatte. Er wollte tatsächlich nach seinem Vater sehen, aber Janice hatte ihm bereits eine Sprachnachricht geschickt und ihm darin mitgeteilt, dass Walter ohne Probleme ins Bett gegangen war. Das war also nicht der wahre Grund für seinen Abgang gewesen.

Die Frau hatte ihn vom ersten Zusammentreffen an verabscheut. Er wusste immer noch nicht, warum, aber er wusste, dass er sie aus dem Gleichgewicht bringen musste, wenn sie ihre Ansicht über ihn überdenken sollte. Er musste sie überraschen.

Und wenn ihr abschätziger Blick, als er gegangen war, ein Zeichen war, dann würde sie heute Abend an ihn denken.

Und zwar ebenso, wie er an sie denken würde.