29
Dienstag, 6. November
Die ersten Worte, die Naomi von sich gab, nachdem sie die Augen geöffnet hatte, hatte sie in den Sozialwohnungen der Bronx gelernt, und ganz sicher hätten sie nie in eine Kirche gepasst.
Aber ihr Kopf tat nun mal verdammt weh.
Sie fasste sich an ihren schmerzenden Schädel und erstarrte, als sie die Schläuche in ihrem Handrücken entdeckte.
»Was zum …«
Vor Panik erfasste sie eine Welle der Übelkeit, und sie schloss die Augen wieder, zum einen, um den Schmerz loszuwerden, zum anderen, um sich zu erinnern.
Sie lag offensichtlich im Krankenhaus.
Aber wieso?
Die Erinnerung setzte ein. Langsam. Verschwommen. Walter. Er hatte wieder einen seiner Anfälle gehabt. Sie hatte ihn gebeten, den Fernseher leiser zu stellen, und er hatte geschrien … Nun, sie war beileibe nicht die Einzige mit einem dreckigen Mundwerk.
Er hatte Whiskey verlangt, sie hatte abgelehnt, denn sie wusste, dass Alkohol seinen Zustand nur noch verschlimmern würde, und er hatte …
Er hatte sie geschlagen. Ihr einen Stoß versetzt?
An die Einzelheiten konnte sie sich nicht mehr erinnern. Nur noch an die Angst, als seine viel größere Gestalt auf sie zukam, die Augen unkoordiniert und wütend. Und dann erinnerte sie sich daran, wie ihr Kopf gegen die Schränke gekracht war …
Naomi spürte eine leichte Berührung an der Hand und wandte ein wenig den Kopf, öffnete die Augen und entdeckte eine besorgt aussehende Deena.
Deena riss die Augen auf. »Die Krankenschwester hatte recht! Du hast etwas gerufen!«
»Und recht pikante Dinge«, ertönte eine männliche Stimme von links. Naomi wandte langsam den Kopf und entdeckte einen korpulenten Mann in OP-Kleidung, der sich an ihrem Infusionsbeutel zu schaffen machte.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er.
Sie versuchte, etwas zu sagen, aber ihr Mund war ganz trocken. Sie schluckte und versuchte es erneut. »Als ob sie die Morphindosis in diesem Ding lieber noch etwas erhöhen sollten.«
Er lächelte. »Schwindelgefühle? Übelkeit?«
Sie dachte nach, dann schüttelte sie den Kopf. Die Übelkeit, die sie beim ersten Öffnen der Augen verspürt hatte, war verflogen, und sie sah auch nicht mehr doppelt. »Nur Kopfschmerzen.«
»Ich schicke gleich den Arzt rein, damit er Sie sich ansieht. Ich habe Ihrer Freundin Eiswürfel gegeben, falls Sie welche brauchen.«
Deena schwenkte den Pappbecher, aber Naomi schüttelte nur den Kopf. Sie wollte kein Eis. Sie wollte Antworten.
»Was ist passiert?«
»Wir hatten gehofft, dass du uns das sagen kannst«, antwortete Deena lächelnd.
»Wer ist wir?« Suchend sah sie sich im Zimmer um, aber außer Deena war niemand da.
»Oh, du weißt schon, nur alle aus dem Büro. Natürlich will dich jeder besuchen, aber da müssen sie sich hinten anstellen.«
»Hinter wen …?«, fragte Naomi, und ihr Herz hoffte verzweifelt auf nur auf einen einzigen Namen.
»Hinter mir. Und dann hinter diesen beiden eleganten Mädels, die mit deinem Ex geschlafen haben.«
»Claire und Audrey sind hier?«, fragte Naomi und fühlte sich etwas schuldig, denn ihr sank das Herz, weil Deena Oliver nicht erwähnt hatte.
Deena nickte. »Sie müssen jeden Augenblick zurück sein. Sie waren jetzt mit der nächsten Starbucks-Runde dran, und ich hoffe, ich habe das Richtige bestellt. Was soll ich mit einem Frappuccino ohne extra Milchschaum?«
»Deena«, fragte Naomi leise. »Hast du einen Mann hier gesehen? Einen …«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie, und eine Frau in türkisfarbener OP-Kleidung trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. »Hi, Naomi. Ich bin Dr. Estrada. Es geht das Gerücht, dass Sie einen ziemlichen Rums auf die Birne gekriegt haben.«
Juchu, also eine von diesen Ärztinnen.
Deena drückte ihr beruhigend die Hand, dann zog sie sich zurück, sodass Naomi allein mit der Ärztin sprechen konnte.
Dr. Estrada überprüfte die Infusion, notierte sich etwas auf ihrem Clipboard und zog eine kleine Taschenlampe aus der Tasche.
Ein paar nervige Minuten später, nachdem sie ihr mit dem Licht in die Augen geleuchtet und sie angewiesen hatte, dem Finger mit den Blicken zu folgen, ein paar einfache Rechenaufgaben zu lösen und ihr Schmerzlevel auf einer Skala zwischen eins und zehn einzuordnen, verkündete die Ärztin, dass sie keinerlei Anzeichen für eine Gehirnerschütterung zeigte, man aber ein CT machen wolle, um sicherzugehen.
»Wann werde ich entlassen?«, fragte Naomi.
Dr. Estrada lächelte unpersönlich und kritzelte etwas auf ihr Clipboard. »Kommt auf das Ergebnis des CTs an. Ich schicke Ihnen in Kürze jemanden vorbei. Brauchen Sie noch etwas?«
Einen Fluchtweg. Oliver. Antworten.
»Nein, alles gut.«
Dr. Estrada nickte und verließ das Krankenzimmer. Es klopfte erneut, und Naomi widerstand dem Drang, dem Betreffenden, wer immer es war, zuzurufen, dass er sich zum Teufel scheren sollte, damit sie mal eine Minute zum Nachdenken kam. Der Protest erstarb ihr vollends auf den Lippen, als sie sah, wer es war.
»Oliver.«
Sie lächelte, aber er erwiderte es nicht. Tatsächlich sah er … anders aus. Nicht nur wegen der Jeans und des Sweatshirts statt des üblichen Anzugs, sondern er wirkte … kalt. Weit weg.
»Oliver, es tut mir so leid«, sagte sie und versuchte sich aufzusetzen. »Walter … ist er?«
Sanft drückte Oliver sie wieder in die Kissen zurück, obwohl es eine unpersönliche Tu-das-nicht-Berührung war, nicht die verweilende Berührung eines Liebenden.
»Es geht ihm gut. Ich habe ihn auf der Hundewiese im Central Park gefunden.«
»Oh, gut«, antwortete sie, etwas verwirrt von seinem verärgerten Ton. »Dort ist er gern.«
Oliver ersparte sich ein Nicken. Lächelte nicht. Es war, als hätte sie es mit einem Roboter zu tun.
»Erinnerst du dich daran, was passiert ist?«, fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
Naomi zögerte. Wie sagte man jemandem, dass man in einem Krankenhausbett lag, weil sein kranker Vater gewalttätig geworden war?
»Nicht genau. Er wurde wütend und hat mich gestoßen – oder geschlagen? Ich weiß es nicht genau.«
Oliver seufzte und ließ die Arme sinken. »Ich dachte mir schon so etwas. Walter konnte uns nichts sagen, aber … ich entschuldige mich.«
»Du entschuldigst dich«, sagte sie seinen frostigen Ton imitierend. »Es war nicht deine Schuld. Es war nicht mal Walters Schuld. Er wusste nicht …«
»Nein, es war seine Schuld«, unterbrach Oliver. »Und wahrscheinlich auch meine, weil ich nicht früher erkannt habe, dass bei jemandem seiner Größe und in seinem Zustand häusliche Pflege nicht mehr ausreicht.«
»Was meinst du damit?« Sie sah ihm ins Gesicht, versuchte zu ergründen, was in ihm vorging.
Er schluckte, so angespannt und verlegen, dass sie es hören konnte.
»Ich habe ihn heute Morgen in eine entsprechende Einrichtung gebracht.«
»Oliver«, sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus.
Aber er ergriff sie nicht. »Das Heim ist in der Nähe von Westchester. Ein wenig weiter weg als manche Heime in der Stadt, aber dafür hübscher. Mehr Natur. Großer grüner Außenbereich. Er schien …« Er schluckte erneut. »Er schien es zumindest nicht furchtbar zu finden.«
»Wegen dieser Kleinigkeit hättest du das nicht tun müssen – das war eine einmalige Sache.«
»Nein, eher eine erstmalige Sache«, sagte er ruhig. »Ich weiß eigentlich schon länger, dass es dazu kommen würde. Schneller als ich dachte, aber … so ist es besser.«
»Nein, ist es nicht. Du regst dich offensichtlich auf, du …«
»Ich bin hergekommen, sobald ich meinen Dad gefunden hatte«, unterbrach Oliver. »Und meine Nachbarin Ruth war bis zu diesem Zeitpunkt die ganze Zeit bei dir.«
»Oh. Okay. Danke …«
»Sie konnten deinen Notfallkontakt nicht erreichen. Ich war der Erste hier, noch vor deiner Assistentin und deinen Freundinnen. Sie fragten, ob ich wüsste, wie man sie erreichen könne.«
»Wen?«, fragte sie, und ihr Schädel pochte noch heftiger. Sie wusste, dass ihr irgendetwas entging, war aber zu durcheinander, um sich denken zu können, was es war.
»Den Namen deines Notfallkontaktes. Deine Mutter.«
»Oh«, sagte Naomi nur und fuhr regelrecht zusammen. »Den habe ich wohl nicht aktualisiert …«
Dann erstarrte sie. Mit der Hand hatte sie die Bandage an ihrem Kopf betastet. Jetzt ließ sie sie sinken.
Ihre Mutter. Oliver kannte jetzt den Namen ihrer Mutter …
»Danica Fields«, sagte er mit kalter Stimme. »Ich wusste sofort, dass ich den Namen kannte, aber ich brauchte eine Weile, um ihn einordnen zu können. Bis die Erinnerung an meine Mutter einsetzte, die diesen Namen hervorspie wie ein Schimpfwort, eine Heimsuchung.«
Naomi schloss die Augen. »Oliver.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass du diese Naomi warst, aber du wusstest, dass ich dieser Oliver war, nicht wahr? Karotte?«
Dass er ihren Spitznamen aus der Kindheit benutzte, hätte sie unter anderen Umständen zum Lächeln gebracht, aber das war jetzt nicht der Fall. Jetzt war sie nur die Karotte für seinen Ollie, und er hasste sie genauso sehr wie damals.
Das Problem war nur, dass sie diesen Hass nicht erwiderte. Nicht mehr.
»Ich wollte es dir sagen«, wandte sie ein und öffnete die Augen immer noch nicht.
»Wann?« Seine Stimme brach um eine winzige Nuance, und er räusperte sich. »Wann?«
»Ich habe es immer wieder versucht, aber …«
»Aber gar nichts. Wie konntest du nur … wie konntest du nicht …«
Sie öffnete die Augen in dem gleichen Augenblick, in dem er die seinen schloss, und die Erschöpfung und der Schmerz auf seinem Gesicht zerrissen ihr das Herz.
»War das der Grund, warum du in dieses Gebäude gezogen bist?«, fragte er und sah ihr jetzt wieder kühl in die Augen. »War das eine Art von – was? – einem Racheplan? Hast du mich deshalb von Anfang an gehasst?«
»Ja«, flüsterte sie. »Ich meine, ich wollte dir oder deinem Vater nichts antun. Ich wollte nur … mit dem allen abschließen.«
»Mit etwas, das vor zwanzig Jahren geschehen ist? Als ich noch ein Kind war? Als wir beide noch Kinder waren? Werde erwachsen, Naomi.«
»Hey«, fauchte sie jetzt, obwohl sie sich lieber entschuldigt hätte. Andererseits war sie aber auch nicht bereit, die ganze Schuld auf sich zu nehmen. »Diese zwanzig Jahre sind für dich und mich ein wenig unterschiedlich verlaufen. Weißt du eigentlich, dass wir nirgendwo hin konnten, nachdem du gelogen hattest, um deinen Dad zu decken? Ich schlief auf der Straße mit meinem Rucksack als Kissen. Von dort aus gingen wir ins Obdachlosenasyl und dann in ein abscheuliches Motel. Es folgten zahllose weitere, abscheuliche Motels und sogar noch abscheulichere Wohnungen …«
»Das ist nicht mein …«
»Nicht dein Problem?«, riet sie. »Es ist nicht dein Problem, dass meine Mutter völlig entgleiste, nachdem deine Eltern sie rausgeworfen hatten? Sie hatten sie auf die schwarze Liste gesetzt. Und als sie keinen neuen Job als Haushälterin bekommen konnte, gab sie auf, Oliver. Also nein, vielleicht war es nicht dein Problem, aber ganz sicher war es deine Schuld. Deine Mom hätte meine Mom ganz sicher nicht weiter für sich arbeiten lassen müssen, aber sie hätte ihr zumindest ihr letztes Gehalt geben können. Und wenn dein Dad sie und mich nicht so im Stich gelassen hätte, hätten wir vielleicht wenigstens Zeit finden können, uns ein Dach über dem Kopf zu suchen.«
In Olivers Augen flackerte so etwas wie Reue auf, und er starrte sie eine ganze Weile an. »Du hast recht.«
Naomi öffnete den Mund, bereit für einen weiteren Streit, aber dieser einfache Satz traf sie unvorbereitet, und also nickte sie nur verlegen, sodass ihr Kopf noch heftiger schmerzte.
Er kam näher. »Naomi, davon hatte ich keine Ahnung. Wirklich nicht, und ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut. Ich bin nicht stolz darauf, wie ich mich damals verhalten habe. Und ich weiß, dass es dadurch nicht wieder gut wird, aber obwohl dies keineswegs das letzte Mal war, dass mein Dad meine Mom betrog, so war es auf jeden Fall das letzte Mal, dass ich ihn deckte. Ich war ein ätzender kleiner Junge, aber ich bin ein besserer Mensch geworden.«
»Ich weiß«, flüsterte sie.
»Mein Gott«, sagte er, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und sah sie an. »Naomi Fields. Wie lange habe ich nicht mehr an dich gedacht … Wo ist deine Brille? Und dein Haar ist dunkler. Du bist nicht mehr so …«
»Streitlustig?«
Er lächelte zögernd. »Nein, das bist du definitiv noch. Ich wollte enervierend sagen, aber das bist du auch immer noch.«
Sein Lächeln verblasste, und er sah ihr weiterhin unverwandt in die Augen. »Was du getan hast, war ziemlich mies. Ich kann verstehen, dass man mit der Vergangenheit abschließen will. Sogar, dass man erreichen will, dass die Verantwortlichen ihre Schuld einsehen. Aber dich in unser Leben einzuschleichen – du hast dir sicher ins Fäustchen gelacht, als du sahst, was mit uns geschehen war. Meine Mom tot. Mein Dad, der kaum noch wusste, wer er war. Ich, der sich Hals über Kopf in dich verliebte. War das der Plan, Naomi?«
»Nein, so war es nicht!«, protestierte sie und versuchte wieder, sich aufzusetzen, schlug seine Hand fort, als er versuchte, sie daran zu hindern. »Ja, ich bin in dieses Wohnhaus gezogen, weil ein Teil von mir sich wünschte, dass ihr Wand an Wand mit der Tochter der Haushaltshilfe leben musstet, mit der Tochter der Frau, mit der dein Vater deine Mutter betrogen hatte. Aber ich hatte keine Ahnung … ich wusste nicht, wie krank dein Vater war. Und ich wusste auch nicht dass du … dich verändert hattest.«
»Aber nachdem du es herausgefunden hattest, hast du dich nicht gerade beeilt, reinen Tisch zu machen. Stattdessen ließest du uns – mich – verdammt, Naomi, du hast uns etwas bedeutet. Ich meine, ja, Walters Art der Zuneigung ist kompliziert, aber du hast zugelassen, dass ich dich in unser Leben lasse. Zum Teufel, ich habe meinen Vater der Obhut eines Menschen überlassen, der ihn hasst.«
»Nein, ich … okay, ich habe ihn gehasst«, gab sie zu. »Sehr sogar. Aber jetzt nicht mehr, Oliver, ich schwöre es dir. Ich will, dass es ihm gut geht. Ich will, dass du glücklich bist …«
»Beim ersten Punkt geht dein Wunsch in Erfüllung. Walter wird es gut gehen. Vielleicht sogar besser nun, da er rund um die Uhr betreut sein wird, und das angemessener, als ich das hier leisten könnte. Und was Punkt Zwei angeht, dass ich glücklich bin … das kriege ich schon noch hin. Irgendwann. Aber nicht mit dir, Naomi.«
Sie gab einen krächzenden Schreckenslaut von sich, und in ihre Augen traten Tränen. »Oliver.«
Er deutete mit einem Nicken auf ihren Kopfverband. »Ich bezahle die Krankenhausrechnungen. Es ist meine Schuld, dass du hier bist. Und ich bin froh, dass es dir gut geht, aber Naomi …« Sein Blick kehrte zu ihr zurück, kalt und hart. »Wir sind fertig miteinander.«
»Nein!«, rief sie, was ihr einen besorgten Blick von einer Krankenschwester im Flur eintrug.
Er wollte sich schon abwenden, dann drehte er sich wieder zu ihr um. »Wozu es auch immer gut sein mag, das was damals passiert ist, tut mir wirklich leid. Ich bin absolut nicht stolz auf mich. Schon gar nicht auf meine Eltern. Und wenn ich etwas daran verändern könnte, würde ich das tun.«
»Das weiß ich, Oliver …«
»Aber«, unterbrach er sie kurz angebunden, »das alles bildet ein weiteres deiner Eckstücke, das ich gefunden habe, Naomi. Und es zeigt mir, dass du unehrlich und vielleicht sogar ein wenig rachsüchtig bist.«
Nun konnte sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten, und sie rannen ihr die Wangen hinunter. »Vielleicht. Aber es gibt doch noch viel mehr Puzzleteile.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe kein Interesse mehr daran, dein Puzzle zu lösen.«
Und dann war er verschwunden.