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Mittwoch, 26. September

Ebenso verärgert wie verwirrt starrte Oliver den Rotschopf an, der ihn über den Schreibtisch hinweg anfunkelte, als wolle sie ihm die Luftröhre zerquetschen, sodass er allenfalls noch japsen konnte wie Darth Vader.

Naomi … wie war doch gleich ihr Nachname? Er warf einen weiteren Blick auf die Papiere. Powell. Erster Eindruck? Etwas beängstigend. Na ja, nein. Das war der zweite Eindruck. Der erste war, dass diese Frau heiß war. Sehr, sehr heiß.

Jedenfalls war Naomi Powell nicht das, was er erwartet hatte, als Vicky ihn unter Druck gesetzt hatte, damit er dieses beschissene Interview führte. Zum einen entsprach das Haar nicht dem Klischee. Er war auf silbergrau eingestellt gewesen, nicht auf feuriges Rot. Auch der Rest an ihr war feurig. Die Menschen in diesem Gebäude waren nicht wirklich bekannt für ihre Gefühlsausbrüche, doch diese Frau schien förmlich zu knistern vor Emotionen.

Die meiste Zeit über hatte Oliver Cunningham nichts dagegen, auf der 517 Park Avenue zu leben. Zugegeben, die meisten Leute hier verhielten sich, als sei ihnen ihr Silberlöffel dorthin geschoben worden, wo die Sonne nie hinkam. Und ja, er war der jüngste Bewohner, bestimmt gute dreißig Jahre jünger als der Rest.

Aber es gab auch Vorteile. Die Eigentümerversammlung hatte ihm gestattet, die Wand zwischen seiner Küche und seinem Wohnzimmer einzureißen, um ein auf der Park Avenue seltenes, offenes Wohnkonzept zu realisieren. Die Veränderung hatte Raum für seine hochwertige Küche und seinen Siebzig-Zoll-Flachbildschirm geschaffen. Und obwohl er keinen unbedingten Wert darauf legte, damit anzugeben, dass er heute im gleichen Gebäude lebte, in dem er aufgewachsen war, fand er es doch praktisch, dass er sich um seinen Vater kümmern und gleichzeitig sein eigenes, unabhängiges Leben führen konnte. Na ja, einigermaßen.

Mit anderen Worten, seine Wohnung war erträglich. Zumindest meistens.

Aber dann gab es Zeiten wie heute. In denen der seltene Fall eintrat, dass eine Wohnung frei wurde und sich sämtliche Bewohner des Hauses plötzlich lächerlicher aufführten als ein ganzes Studentinnenwohnheim im Vollrausch. Olivers Ansicht nach war der Bewerbungsprozess lediglich eine Gelegenheit für die Achtzigjährigen der Upper East Side, ihre makellose Abstammung geltend zu machen. Sie genossen es offenbar, denjenigen ein Gefühl der Minderwertigkeit zu vermitteln, die sich keiner obskuren Verbindung mit einem Vanderbilt oder einem Rockefeller brüsten konnten.

Oliver versuchte, sich nicht daran zu beteiligen, aber um Vickys willen war er heute eingeknickt. Es war schließlich nicht die Schuld der langjährigen Rezeptionistin, dass die Cunningham-Verpflichtungen gegenüber der Eigentümerversammlung nach dem Tod seiner Mutter und der Arbeitsunfähigkeit seines Vaters ihm zufielen. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, er musste sich dieser Aufgabe stellen. Und um eins klarzustellen, er hatte keine Freude daran. Aber wenn er den Vorgaben nicht folgte und dieses verdammte Interview führte, würde Vicky die Suppe auslöffeln müssen, deshalb war er hier.

Und dennoch, sie hatte Oliver nun wirklich nicht erwartet.

Außer dem roten Haar und der seltsamen Feindseligkeit, die in Wellen von ihr ausging, war ihr Gesicht einfach … hinreißend. Sie war auf jene Art attraktiv, die einen zweimal hinsehen ließ. Ihre großen blauen Augen neigten sich an den Ecken leicht nach oben. Ihre Lippen waren voll und üppig und im Augenblick zu einem leichten Schmollmund verzogen. Jede Menge Sommersprossen, die sie, soweit er sehen konnte, nicht mit Make-up übertünchte. Ganz anders als die perfekt symmetrischen, künstlichen Gesichter, an die er sonst so gewöhnt war.

Doch nichts von alldem erklärte dieses tödlich kalte Funkeln, mit dem Naomi ihn musterte. Normalerweise reagierten Frauen auf Oliver nicht allzu emotional. Aber diese Frau strotzte nur so vor Gefühl.

Oliver besann sich seiner gesellschaftlichen Umgangsformen und seiner Erziehung und streckte ihr über den Schreibtisch hinweg die Hand entgegen. »Ms Powell. Ich bin Oliver Cunningham.«

Sie zögerte offensichtlich, und einen rätselhaften Augenblick lang glaubte er, dass sie sich tatsächlich weigern würde, ihm die Hand zu schütteln.

Schließlich jedoch legte sie ihre Hand in die seine, und obwohl der feste Händedruck Routine war, war seine Reaktion darauf alles andere als gewöhnlich. Sein Magen zog sich zusammen, als ihre Handfläche die seine streifte, und Oliver biss die Zähne aufeinander.

Gütiger Herrgott, war er so lange schon nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen, dass es ihm schon ein Händedruck besorgte?

Er zog seine Hand zurück und räusperte sich.

»Na schön, Ms Powell«, sagte er in etwas unterkühltem Ton, um die Hitze auszugleichen, die in ihm loderte. »Wenn Sie es bis hierher geschafft haben, genügen ihr Leumund und ihr Hintergrund unseren Anforderungen. Kommen wir also gleich zur Sache. Warum wollen Sie hier wohnen?«

Er hörte, wie sie einatmete, als müsse sie ihr Temperament im Zaum halten, obwohl er nicht die leiseste Ahnung hatte, was er getan hatte, um sie derart auf die Palme zu bringen.

»Das Gebäude ist sehr hübsch. Die Vorkriegsarchitektur ist exquisit«, antwortete sie.

Sein Magen zog sich sogar noch mehr zusammen. Diese Stimme. Leise, heiser und verdammt verführerisch.

Reiß dich zusammen, Cunningham.

Er zwang sich, sich auf ihre Worte zu konzentrieren, die so langweilig waren wie ihre Stimme faszinierend war. Vorkriegsarchitektur?

Er kannte eine Menge Leute, die so ein Scheiß interessierte, aber er selbst gehörte nicht dazu. Und aus irgendeinem Grund hatte er nicht angenommen, dass sie dazugehörte. Verdammt. Enttäuschend.

Oliver lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, nahm die Aktenmappe und schlug damit auf die Hand, während er darüber nachdachte, wie er sie am besten wieder loswurde. Später warteten ein trocken gereiftes Ribeye, ein eiskalter Cocktail und das Yankees-Spiel auf ihn. Ganz zu schweigen von dem zweitausendteiligen Puzzle, das er unbedingt beenden wollte. Nicht dass er Letzteres jemals im Büro erwähnt hätte oder – na ja – jemals. Wie seine frühere Verlobte immer sagte, hatte ein erwachsener Mann, der gern puzzelte, etwas Seltsames an sich.

Oliver war da anderer Ansicht. Schließlich laminierte und rahmte er fertige Puzzles ja nicht, um sie sich an die Wand zu hängen. Das wäre schräg gewesen. Er löste nur gerne Rätsel. Puzzle. Sudoku. Kreuzworträtsel … Menschen.

»Wo wohnen Sie jetzt?«, fragte Oliver, dem plötzlich aufging, dass die Stille sich zu lange zwischen ihnen ausdehnte.

»Das steht doch sicher in meiner Akte«, antwortete sie mit hölzernem Lächeln.

Oliver sagte nichts, sie starrten – funkelten? – einander schweigend an, eine Art Wettbewerb, der ebenso aufregend wie kindisch war.

Er gewann, denn sie verdrehte verärgert die Augen. »Lower East Side.«

Oliver nickte. Er hatte seit seinen Tagen auf dem College nicht viel Zeit auf der Lower East Side verbracht, aber die Gegend passte zu ihr. Lebendig, jugendlich und einen Hauch urtümlich.

Sie war meilenweit von der Upper East Side entfernt – sowohl was die Atmosphäre, als auch was die Kilometer anging.

Bewusst provozierend zog Oliver die Augenbrauen hoch und sagte: »Langer Marsch.«

»Ja, die Taxifahrt über zwei Meilen war wirklich anstrengend.«

Kurz hörte er auf, mit der Aktenmappe auf seine Handfläche zu klopfen. Seltsam. Irgendetwas in ihrer Miene und an ihrem trockenen Sarkasmus kam ihm … bekannt vor. Er kramte in seinem Gedächtnis, aber ohne Erfolg. Er hatte nicht allzu viele Rotschöpfe in seinem Bekanntenkreis. Und an sie hätte er sich ganz gewiss erinnert.

»In Manhattan sind zwei Meilen viel«, sagte er.

»Das ist nur allzu wahr«, sagte sie mit einem weiteren »Lächeln«, das nicht die leiseste Spur von freundlich war. »Zwei Meilen in dieser Stadt machen häufig den Unterschied zwischen wirklichen und anmaßenden Menschen aus.«

Oliver biss die Zähne zusammen. Er verlor nicht allzu häufig die Beherrschung, aber diese Frau reizte ihn wirklich bis aufs Blut.

»Na gut, ich gebe auf, Ms Powell. Was soll das?«

»Was das soll?«

»Seit ich hereingekommen bin, schauen Sie mich an, als wollten Sie mir den Hals umdrehen.«

Er wartete darauf, dass sie es abstritt. Aber sie blickte nur auf ihre manikürten Nägel herab. Sie waren tiefblau lackiert, bemerkte er, nicht in dem züchtigen blassrosa oder klassischen Rot, das er sonst immer sah. Und doch war alles andere, das teure Kleid, die Designer-Handtasche, der gepflegte Haarschnitt, genau wie erwartet – wie bei jeder anderen Frau, die er kannte.

Aber irgendetwas steckte noch dahinter – etwas Interessanteres, auf das er den Finger nicht legen konnte. Als sei sie eine Mischung aus Selbstvertrauen und Verletzlichkeit, verflochten zu einem temperamentvollen, verführerischen Paket.

Sie war ein lebendiger Widerspruch.

Vielleicht würde Oliver heute Abend doch nicht mit seinem Puzzle anfangen. Schließlich hatte er ein verdammt verzwicktes Puzzle direkt vor sich sitzen.

»Ist Ihnen klar, dass ich derjenige bin, der Ihnen das Tor zur nächsten Runde öffnen kann?«, forschte er erneut.

Sie reckte den Nacken, gab vor, seine Hände zu betrachten. »Oh, tragen Sie vielleicht einen Ring, den ich küssen muss? Ich bin ein Neuling, was dieses Bewerbungsverfahren angeht. Sollte ich mich verbeugen?«

Da war es schon wieder. Dieses Gefühl, dass er sie kannte. Wer war diese Frau?

»Sind wir uns schon mal begegnet?«, fragte er, warf den Aktenordner auf den Tisch und musterte sie.

Sie wandte den Blick ab, und Oliver verengte die Augen zu Schlitzen. »Woher kenne ich Sie?«

Naomi erwiderte seinen Blick verhalten. »Gar nicht.«

»Sicher?«

Statt zu antworten, belohnte sie ihn nun mit dem ersten, echten Lächeln. Und verdammt, was das für ein tolles Lächeln war. Verführerisch und gleichzeitig todbringend.

Er geriet innerlich ins Taumeln und war regelrecht erschrocken, als sie plötzlich aufstand.

»Wir sind noch nicht fertig«, sagte er und zuckte innerlich zusammen, weil er so aufgeblasen klang. Genau wie sein Vater.

»Oh doch, ich glaube, das sind wir«, murmelte sie. »Ich glaube, wir wissen beide genau, was Sie auf meine Bewerbung schreiben werden, kaum, dass ich zur Tür hinaus bin.«

»Ja, das wissen wir«, blaffte er und erhob sich jetzt ebenfalls. »Brach das Vorstellungsgespräch eigenmächtig ab.«

Wütend funkelte sie zu ihm empor, und überrascht stellte Oliver fest, dass sie beide heftig atmeten.

Naomi Powell war nicht wirklich klein, aber mit seinen eins zweiundachtzig war er körperlich dennoch im Vorteil. Zum ersten Mal seit seinem Wachstumsschub auf der Highschool freute er sich über seine Größe. Diese verwirrende Frau ging ihm unter die Haut, wie schon seit Langem niemand mehr, und er benötigte jegliche Abwehr, der er habhaft werden konnte.

Er wollte ihr gerade eine gepfefferte Antwort geben – freute sich geradezu darauf –, als sie sich abwandte.

Oliver rief ihr hinterher. »Ihnen ist sicher klar, dass ich Sie für die nächste Interviewrunde nicht empfehlen werde.«

»Kein Problem, Mr Cunningham. Und betrachten Sie es einmal positiv. Wenn ich wieder weg bin, können Sie Ihren Napoleon-Komplex hier viel besser ausleben. Ich schicke Ihre Sekretärin herein. Sie sehen aus, als müssten Sie mal wieder von Hand gefüttert werden.«

Und so segelte Naomi zur Bürotür hinaus, ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen.

Oliver stand da und starrte auf den Eingang, war gleichzeitig sprachlos und verwirrt. Und was das Ärgerlichste war …

Fasziniert.

Wer zum Teufel war diese Frau?