11

Montag, 8. Oktober

Es war nicht das erste Mal, dass Janice ihn angerufen hatte, um ihn ruhig und sich entschuldigend darüber zu informieren, dass ihr Vater sich aus dem Haus geschlichen hatte, aber es wurde nie leichter, derlei schlechte Nachrichten zu hören.

Oliver biss sich auf die Innenseite seiner Wange, um den Taxifahrer nicht anzuschreien, dass er schneller fahren solle. Es war schließlich nicht die Schuld des Fahrers, dass sein Vater ausgerissen war.

Es war nicht einmal Janices Schuld. Sie hatte sich ausgiebig entschuldigt, aber er wusste nur zu gut, dass es ein Risiko war, dass nur eine einzige Person allein sich um die Betreuung seines Vaters kümmerte. Die Frau musste irgendwann auch mal auf die Toilette, und sie konnte seinen Vater währenddessen wohl kaum einsperren. Und wenn man bedachte, dass Walter oft innerhalb von fünf Sekunden beschloss, auf den Genuss seiner hartgekochten Eier zu verzichten und einen Spaziergang zu machen …

Oliver konnte nur hoffen, dass sein Vater nicht allzu weit gekommen war. Meist ging er zu einem der Nachbarn im gleichen Stockwerk oder hinunter zu Olivers Wohnung. Janice hatte allerdings an sämtlichen gewöhnlichen Orten nachgesehen, dann hatte sie sich der deutlich beunruhigenderen Möglichkeit gestellt. Dem Central Park.

Ironischerweise hatte sich sein Vater in Olivers Kindheit immer geweigert, mit ihm in den Park zu gehen und Ball zu spielen, aber in seinem momentanen Zustand liebte er den Park. Das Problem war nur, dass der Central Park mehr als drei Quadratkilometer groß war. Walter bewegte sich zwar nicht sehr schnell, aber wenn man einen Mann aufspüren musste, war er dennoch riesig.

Zwei Straßen vor seinem Wohnblock wurde Oliver von einer Ampel aufgehalten und fragte sich, ob es schneller war, jetzt auszusteigen und den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen. Da klingelte sein Handy.

Die Nummer war ihm unbekannt, aber Oliver hob ohne zu zögern ab und wappnete sich gegen schlechte Nachrichten.

Sein Ton war kurzangebunden. »Oliver Cunningham.«

»Oliver, hi.«

Er runzelte die Stirn. Die Stimme war weiblich und rauchig. Eindeutig.

»Naomi?«

»Ja. Hi. Äh, na ja, okay, es gibt keine nicht-peinliche Art, das zu sagen … ich habe Ihren Vater hier.«

Seine Hand rutschte vom Türgriff des Taxis ab, sein Körper plumpste erleichtert zurück. »Hier? Also, er ist in Ihrer Wohnung?«

»Yep. Ich habe ihn dabei ertappt, wie er im Flur umherirrte. Es geht ihm gut«, sagte sie sanft, weil sie schon ahnte, was er als Nächstes fragen würde. »Er sieht jetzt fern und will einen Scotch.«

Oliver lächelte leicht. Kaum zu glauben, aber die guten Tage in Walter Cunninghams Welt waren die Scotch-Tage. Eine Verbindung zu seinem alten Selbst, das eine Vorliebe für Macallan gehabt hatte.

»Seien Sie mir nicht böse, wenn ich frage«, fügte Naomi bedächtig hinzu. »Aber darf er?«

»Darf er was?«, fragte Oliver, fischte die Geldscheine aus seiner Brieftasche und gab sie dem Taxifahrer. Ohne aufs Wechselgeld zu warten, stieg er aus.

»Ich habe einen Scotch hier …«

Seine Erleichterung darüber, dass sein Vater sicher im Warmen saß und nicht in der Stadt herumirrte, wuchs, und Oliver grinste, als er auf den Bürgersteig trat. »Ms Powell. Schlagen Sie etwa gerade vor, meinem kranken Vater mitten am Nachmittag Alkohol zu geben?«

»Stimmt, ja«, sagte sie schnell. »Vergessen Sie’s. Ich weiß nicht, was …«

»Einen Fingerbreit mit Eis und einem Spritzer Wasser. Einem großen Spritzer. Er wird meckern, aber wenn Sie ihm sagen, dass es das gibt oder nichts, wird er sich wieder beruhigen.«

Sie zögerte einen Moment. »Wirklich?«

»Wirklich«, versicherte Oliver ihr. »Hören Sie, seine Betreuerin ist immer noch auf der Suche nach ihm. Ich muss sie anrufen. Aber ich bin in ein paar Minuten da. Ist das bis dahin okay für Sie?«

»Bei uns läuft’s gut.«

»Prima. Danke. Bis gleich.«

Er legte auf und rief sofort Janice an, die schon beim ersten Klingeln abhob und etwas atemlos war. »Haben Sie ihn gefunden?«

»Die Nachbarin hat ihn aufgegabelt. Er war vor meiner Wohnung.«

Sie seufzte erleichtert. »Gott sei Dank. Welche Nachbarin? Warum hat sie mich nicht angerufen?«

»Die neue Nachbarin«, stellte Oliver klar, während er die Park Avenue hinaufschritt. »Sie hat Ihre Telefonnummer nicht, aber ich werde sie ihr gleich geben.«

»Es tut mir so leid, Mr Cunningham. Es kommt bestimmt nicht wieder vor …«

»Doch, wird es wohl«, widersprach Oliver sanft. »Wir tun beide unser Bestes, aber wir sind auch nur Menschen, Janice. Und zum hundertsten Mal, nennen Sie mich Oliver.«

»Ja, Oliver«, antwortete sie steif, offensichtlich voller Unbehagen. »Aber es tut mir wirklich leid. Ich bin nur kurz auf die Toilette gegangen, habe ihn bestimmt nicht länger als eine Minute aus den Augen gelassen.«

»Ich weiß«, sagte er und fühlte eine Welle des Bedauerns. Nicht wegen Janice – er hatte seine Worte ernst gemeint. Sogar eine Vollzeit-Betreuerin konnte Walter nicht jede Sekunde des Tages im Blick haben. Aber Bedauern wegen der Krankheit. Derlei beängstigende Augenblicke waren im Augenblick zwar selten, aber es war möglich, dass sie sich über kurz oder lang häuften.

»Die neue Nachbarin wohnt in 2B, oder?«, sagte sie nun wieder in ihrem normalen, sachlichen Ton. »Ich kann in weniger als zehn Minuten da sein, um Mr Cunningham abzuholen.«

»Machen Sie sich keine Mühe. Ich bin näher dran.«

Sie schnaufte frustriert. »Sie haben früher Feierabend gemacht.«

»Ja. Aber nicht schlimm. Ich hatte keine Meetings, die man nicht hätte verlegen können. Nehmen Sie sich den Nachmittag doch einfach frei.«

»Oh, das will ich nicht.«

»Das ist ein Befehl, Janice«, sagte er und öffnete die Eingangstür des Wohngebäudes. »Dad und ich treffen sie dann heute Abend wieder.«

Anscheinend kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, dass Widerspruch in einer solchen Lage zwecklos war. »Na gut. Danke, Mr Cunningham.«

Er verdrehte die Augen. Keine Ahnung, warum er sie immer wieder bat, ihn Oliver zu nennen. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, dann stand er vor Naomi Powells Wohnungstür.

Er hörte den unverwechselbaren Klang des History Channel auf der anderen Seite der Wohnungstür. Er erlaubte sich einen Augenblick der Schwäche und lehnte die Stirn leicht auf die Wand vor ihrer Wohnung, erleichtert, dass sein Vater von einem freundlichen Menschen gefunden worden war.

Da zuckte sein Kopf zurück. Er hätte nie gedacht, dass er ausgerechnet das Wort freundlich mit der kratzbürstigen Ms Powell in Verbindung gebracht hätte, aber den sanften Ton, den sie eben am Telefon angeschlagen hatte, hatte er wohl kaum überhören können. Dadurch hatte ihre leise, rauchige Stimme sogar noch faszinierender geklungen.

Er hob den Kopf und klopfte.

Naomi öffnete die Tür, und Oliver wurde der Mund trocken, und seine Zunge klebte ihm einen langen, beschämenden Augenblick lang am Gaumen fest. Sie war nicht zurechtgemacht. Überhaupt nicht. Das Haar glatt und hinter die Ohren gestrichen, das Gesicht ohne Make-up – zumindest entdeckte er keines.

Es war ihr Outfit, das es ihm angetan hatte.

Eine schwarze Hose, die eng genug anlag, dass man die Wölbung ihrer Schenkel genau sehen konnte. Sie reichte nur bis zur Mitte der Wade. Bis zu diesem Augenblick hatte er nie verstanden, warum es früher als Eklat galt, wenn eine Frau ihre Knöchel zeigte.

Weil nackte Füße und Knöchel einfach nur heiß sein konnten.

Gott sei Dank trug sie ein schlabberiges Sweatshirt. Wenn sie von der Taille aufwärts auch noch eng anliegende Klamotten getragen hätte, wäre er womöglich noch überforderter gewesen. Obwohl ihr das Sweatshirt leicht von einer Schulter herunterrutschte und den dünnen Träger eines BHs oder Tanktops enthüllte und …

Naomi warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Was ist mit Ihnen?«

Er schüttelte den Kopf. Genau. »Sorry«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ist immer wieder ziemlich nervenaufreibend, wenn mein Dad ausreißt. Wahrscheinlich hab ich mich noch immer nicht richtig gefangen.«

Olivers Gewissen schüttelte missbilligend den Kopf. Hatte er gerade tatsächlich seinen kranken Vater ins Spiel gebracht, um nicht zugeben zu müssen, dass er Naomi gemustert hatte?

»Verständlich«, antwortete sie, zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie zur Seite trat. »Kommen Sie rein.«

Olivers Blick wanderte sofort zum Fernseher, vor dem sein Vater auf Naomis weißem Sofa saß. Sein Gewissen war wieder ein wenig besänftigt, weil Oliver wirklich erleichtert war, dass sein Vater dort friedlich herumsaß. Sicher und warm.

»Hey, Dad«, sagte er und schlug dabei einen bewusst fröhlichen und lässigen Ton an. Dann ging er ins Wohnzimmer.

Zögernd riss Walter die Augen vom Bildschirm los und sah Oliver an. Dann hob er das Glas in seiner Hand: »Die Kleine hat mir Scotch gegeben. Ganz gutes Zeug, aber sie hat ihn zu sehr verwässert.«

»Hmm. Ich rede mit ihr drüber«, antwortete er. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Naomi die Augen verdrehte, trotzdem sprach sie ihn nicht darauf an, dass sie doch eigentlich nur seine Instruktionen befolgt hatte.

»Sag mal, Dad, was hältst du davon, wenn wir die Sendung oben zu Ende gucken und Ms Powell wieder in Ruhe lassen?«

Die Aufmerksamkeit seines Vaters wurde wieder ganz und gar von dem Fernseher gefesselt. »Hab noch nicht ausgetrunken.«

»Ich wette, sie hätte nichts dagegen, wenn wir ihn mitnähmen und ihr das Glas später zurückgäben«, meinte Oliver. Dann warf er Naomi einen Blick zu, als warte er auf ihre Zustimmung.

»Ihr Cunninghams behaltet meine Trinkgefäße ja anscheinend ganz gern.«

»Sie vermissen wohl Ihre Tasse, was?«, fragte er, wobei er die Kaffeetasse mit dem Champagner meinte, die sie ihm am Wochenende überlassen hatte.

»Das war eine meiner Lieblingstassen.«

»Wie sah sie denn aus?«

Sie schürzte die Lippen. Sie hatte keine verdammte Ahnung, wie die Tasse aussah, und das wussten sie beide. »Viel mehr hab ich nun mal nicht.«

Oliver ging in ihre Küche, öffnete den Schrank rechts neben der Spüle – und hatte gleich beim ersten Versuch richtig geraten. Dann wandte er sich zu ihr um, wobei er die Augenbrauen hochzog.

Sie schürzte die Lippen sogar noch mehr. In dem Schrank befanden sich etwa ein Dutzend Tassen. Das war ihm klar gewesen, denn er hatte gesehen, wie sie sie am Tag ihres Einzugs ausgepackt hatte.

»Gewiss«, sagte er kühl und schloss den Schrank wieder. »Ich werde Ihnen die Tasse, die Sie mir geliehen haben, definitiv so schnell wie möglich zurückgeben.«

Statt einer Antwort umrundete sie die Kücheninsel und kam auf ihn zu, öffnete den Schrank, den er gerade geschlossen hatte. Ihre Finger streiften einander, nur eine Sekunde lang, und sie erstarrte, dann schob sie seine Hand fort und holte zwei Tassen aus dem Schrank.

Sie stellte beide auf die Arbeitsplatte und hob, die stumme Frage in den Augen, die Flasche Scotch in die Höhe, aus der sie auch ihrem Vater einen Drink eingegossen hatte.

Er nickte stumm. Eigentlich trank er am Tag normalerweise nur wenig, aber er war nun mal nicht gewöhnt an verbale Schlagabtäusche mit attraktiven Frauen, die in der Wohnung nebenan wohnten.

»Eis?«

»Bitte«, sagte er, als sie den Tiefkühlschrank öffnete. »Einen Würfel.«

Sie ließ einen Eiswürfel in seinen Drink und zwei in ihren eigenen gleiten, dann gab sie ihm den Becher.

Auf ihrer Tasse stand Arbeiten, Spielen, Morden in grellpinken Buchstaben, auf seiner prangte ein dümmlich dreinblickendes Cartoon-Kätzchen. Zehn Dollar darauf, dass sie die Tassen bewusst gewählt hatte.

»Cheers«, sagte er, bevor sie daran nippen konnte.

Naomi warf seiner Tasse einen skeptischen Blick zu. »Worauf trinken wir?«

»Na ja, darauf, dass ich noch nicht tot bin«, meinte Oliver ironisch. »Hätte ich nach unserem kleinen Zusammentreffen am Samstag gar nicht erwartet. Und nach dem Interview genauso wenig.«

Das hatte ein Scherz sein sollen, aber sie fuhr ganz leicht zusammen, und zu spät fiel es ihm ein: Brayden Hayes. Sie war mit dem Mann vielleicht nicht verheiratet gewesen, aber da sie miteinander geschlafen hatten, hatte er ihr sicher etwas bedeutet.

»Shit«, murmelte er. »Ich habe nicht richtig nachgedacht …«

»Vergessen Sie’s«, sagte sie. »Ach, und … ehe ich es vergesse …« Sie nahm Walters medizinisches Armband von der Theke und reichte es Oliver.

Er nahm das schwere, maskuline Armband an sich. Nachdem sie sich mehrfach wegen des alten gestritten hatten, das sein Vater als »zu kleinkariert« bezeichnet hatte, hatte er ihm dieses hier gekauft. In lichten Momenten war er weit genug bei sich, um zu wissen, dass Männer in Walter Cunninghams Realität keine Schmuckstücke trugen.

»Ich bin überrascht, dass sie es geschafft haben, es ihm auszuziehen«, meinte Oliver und drehte das Armband über den Fingern.

»Oh, wir haben ein kleines ›Zeig mir deins, dann zeig ich dir meins‹-Spiel gespielt.«

Oliver sah sie über den Scotch hinweg an. »Wie bitte?«

Sie deutete auf den Couchtisch, wo ein paar Schmuckstücke verstreut lagen. »Das ist der Vorteil, wenn man ein Unternehmen für Accessoires leitet. Ich habe jede Menge Stücke vorrätig.«

»Maxcessory«, murmelte Oliver gedankenverloren.

Naomi warf ihm einen eigentümlichen Blick zu.

»Stand auf Ihrer Bewerbung«, erklärte er.

»Wo wir gerade beim Thema sind, warum haben Sie mich für die nächste Runde vorgeschlagen?«

»Sie meinen, nachdem Sie vorher grundlos aus meinem Büro hinausgestürmt waren?«

»Oh, ich hatte durchaus Gründe«, sagte sie in ihren Drink hinein.

»Was dagegen, mich darüber mal aufzuklären?«

Sie stellte ihre Tasse mit einem heftigen Knall auf die Theke. »Sie sind ziemlich …«

Naomi deutete mit einem Handwedeln auf seine Gestalt und krause die Nase, während sie im Geiste nach dem richtigen Wort suchte.

»Höflich? Professionell?«, soufflierte er, wobei er das Interview aus seiner Perspektive Revue passieren ließ.

»Arrogant. Anmaßend. Sie haben keinen Zweifel daran gelassen, dass sie glaubten, ich gehöre nicht hierher.«

»Anmaßend? Und Sie halten mich für einen Snob.«

»Von Snob habe ich nichts gesagt«, widersprach sie und trank noch einen Schluck Scotch. »Ich sagte anmaßend

»Sie sind unmöglich«, murmelte Oliver, kippte den restlichen Drink herunter, genoss das Brennen in ihrer Kehle. »Dad, gehen wir.«

Walter gab keine Antwort.

»Dad.« Olivers Stimme war jetzt eine Spur schärfer als sonst gegenüber seinem Vater. Aber er musste hier einfach raus, bevor er irgendetwas Absurdes tat. Wie die Frau zu küssen, von der er nicht mal wusste, ob er sie mochte. Und die umgekehrt ihn definitiv nicht mochte.

Walter warf ihm einen unheilverkündenden Blick über die Schulter hinweg zu. »Was?«

»Wir gehen.«

Walters Gesicht nahm jetzt einen rebellischen Ausdruck an, und Oliver sprach sanfter. »Janice hat mir gesagt, dass sie das Yankees Game von gestern aufgezeichnet hat. Ich hab’s noch nicht gesehen.«

Walter zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder dem History Channel zu. »Dann geh doch allein. Ich hab’s schon gesehen. Vier-fünf, Angels.«

Klar, daran erinnerte er sich. Sofort bedauerte Oliver den frustrierten Gedanken und ließ resigniert das Kinn auf die Brust sinken. Erschöpft.

Naomis Anwesenheit hatte er beinahe vergessen, bis er ihre ruhige Stimme hörte, die leiser klang als gewöhnlich. Sanfter. »Wann ist es diagnostiziert worden?«

»Vor einigen Jahren.«

»Das war sicher ein Schock.«

Oliver zog eine Schulter hoch. »Es gab durchaus ein paar Warnsignale, ich war also teilweise gewappnet, aber … ja. Es war trotzdem ein Schock, besonders so kurz nach Moms Tod.«

»Tut mir leid«, antwortete sie aufrichtig, wenn auch etwas steif. »Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein.«

Er atmete aus. »Bis zum damaligen Zeitpunkt hielt ich eigentlich Krebs für die schlimmste Diagnose. So war es bei meiner Mom. Sie war elf Monate tot, nachdem uns der Arzt die Neuigkeiten mitteilte. Aber das hier …« Oliver deutete mit einem Kopfnicken auf seinen Vater. »… ist eine ganz neue Ebene von hart. Es ist langsam, wechselhaft. An manchen Tagen ist es beinahe, als hätte ich meinen Dad wieder, an anderen ist er vollkommen verloren.«

Naomi sah wieder auf Walters Hinterkopf, ließ ihre Tasse zwischen ihren zarten Händen hin und her rollen. »Wer passt auf ihn auf, während Sie arbeiten?«

»Eine Vollzeit-Pflegekraft. Sie ist großartig, aber Alzheimer-Patienten sind unberechenbar. In einer Sekunde schauen sie noch fern, und man glaubt, mal schnell ins Bad gehen zu können, und im nächsten Augenblick …«

»Passiert so etwas häufig?«

»Nein, glücklicherweise nicht. Aber wenn sich derlei Fälle häufen, muss ich über eine Heimunterbringung nachdenken. Ich bin nur froh, dass er nicht gewalttätig ist.«

Sie riss die Augen auf. »War er … denn vorher …«

»Nein«, versicherte Oliver schnell. »Ich meine, vor seiner Erkrankung konnte er ein eiskalter Mistkerl sein, aber er hat nie die Hand gegen mich oder meine Mutter erhoben. Meist war er einfach nur … gleichgültig. Aber Alzheimer-Patienten sind oft schnell frustriert und schlagen dann zu. Wenn das eine eher schwache eins fünfundfünfzig große Frau tut, ist das unproblematisch, aber ein über eins achtzig großer Mann, der lebenslang regelmäßig Squash gespielt hat …«

Oliver atmete aus und lockerte seine Krawatte. »Keine Ahnung, warum ich Ihnen das alles erzähle. Aber noch mal danke.«

»Jeder andere hätte an meiner Stelle genau so gehandelt«, beruhigte Naomi ihn leise.

Er schüttelte den Kopf. »Als alleinstehende Frau einen fremden Mann zu sich eingeladen? Wohl kaum.«

Ihre dunkelroten Augenbrauen schossen nach oben. »Ich glaube nicht, dass die Betonung des Single-Status hier notwendig war.«

»Eine allein lebende Frau«, berichtigte er.

»Schon besser«, sagte sie missmutig. »Aber warum gehen Sie immer davon aus, dass ich Single bin? Brayden ist vor ein paar Monaten gestorben, und so lange war ich gar nicht mit ihm zusammen. Zeit genug, um sich neu zu orientieren.«

Aus irgendeinem Grund verschlechterte sich seine Laune bei der Vorstellung, dass sie kein Single war, noch mehr. »Sorry, wenn ich anmaßend war. Wer ist der Glückliche?«

Er betonte das letzte Wort etwas zu sarkastisch, um sie zu piesacken.

Sie wich der Frage aus. »Wie steht’s mit Ihnen? Irgendein kleines Frauchen, das unbedingt in die Rolle der Mrs Cunningham schlüpfen will?«

Verbarg sich hinter ihrem höhnischen Ton etwa eine Spur von Interesse? Oder war das nur Wunschdenken seinerseits? Und dann, angewidert von dem, was er da gerade machte, und trotzdem hoffend, dass sein Vater den Mund halten würde, nickte Oliver. »Es gibt jemanden.«

»Ach ja? Wie heißt sie denn? Nein, lassen Sie mich raten …«

»Lilah«, platzte er heraus. Das war der erstbeste Name, der ihm in den Sinn kam, und zwar dank seiner Empfangsdame, die stets versuchte, ihn mit einer Cousine dieses Namens zu verkuppeln.

»Hmmm. Und was machen Sie und Lilah in Ihrer Freizeit? Oper? Kaviar-Tastings?«

»Natürlich. Wenn wir nicht gerade, wie normalerweise dreimal die Woche, im Metropolitan Museum of Art sind oder beim Tee über Tolstoi reden. Und nicht gerade unser Freitagsabendsherry ansteht, bei dem wir über Lyrik diskutieren.«

Um ihre Lippen zuckte ein verräterisches Grinsen, das sie gerade noch rechtzeitig wieder unterdrückte. »Hübsch.«

»Und Sie und … Bob?«, fragte er den ersten Namen, der ihm einfiel, nennend.

»Nicht Ihre Liga. Motorsport, Pabst-Blue-Ribbon-Bier, Spitting Contests.«

»Spitting Contests.«

»Wenn er sich nicht gerade wieder ein neues Tattoo stechen lässt.«

»Woher wollen Sie wissen, dass ich nicht auch tätowiert bin?«

Er wollte sie mit dieser Frage necken, aber die Art, wie sie den Blick über ihn hinweggleiten ließ, war auf eine ganz andere Art und Weise neckend.

Ihre blauen Augen blickten in die seinen. »Totenkopf?«

»Clown.«

»Von der durchgeknallten Stephen-King-Art?«

»Natürlich. Gibt’s noch einen anderen?«

Für den Bruchteil einer Sekunde lächelten sie einander an, und die Feindseligkeit wich der Belustigung. Aber bevor mehr daraus werden konnte, beschloss Walter, dass er jetzt genug vom History Channel hatte, kam in die Küche und ging schnurstracks auf die Scotch-Flasche zu.

Oliver schnappte sie ihm weg, und sein Vater warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Gib das her.«

»Der gehört uns nicht, Dad. Sondern Ms Powell.«

Sie öffnete den Mund, wollte gerade mehr anbieten, um gastfreundlich zu sein, ließ es dann aber doch bleiben. Er war dankbar, dass sie erkannte, was mit dieser Bemerkung bezweckt werden sollte: Es ging weniger um Manieren, sondern um den Alkoholkonsum seines Vaters.

Oliver ließ seinen Dad durchaus manchmal trinken. Die Ärzte quittierten dies mit einem Stirnrunzeln, aber der Mann hatte schon so viel verloren. Oliver ertrug es einfach nicht, ihm dieses eine, einfache Vergnügen auch noch zu nehmen.

Aber er war stets vorsichtig. Und er wollte abwarten, wie der Drink, den Walter bereits intus hatte, sich auf seine momentane Stimmung auswirkte.

Walter funkelte Naomi wütend an. »Wer ist das?«

»Ich bin Naomi, Mr Cunningham«, antwortete sie, anscheinend nicht zum ersten Mal an diesem Tag.

Er musterte sie intensiv von Kopf bis Fuß, abschätzig, so wie es der alte Walter vor seiner Erkrankung getan hätte, aber dieses flüchtige Aufblitzen des alten Walter stellte keine Erleichterung da. Der alte Walter war nämlich schlicht und ergreifend ein widerlicher Weiberheld gewesen.

Walter grinste Naomi an. »Du siehst aus wie deine Mutter.«

Oliver atmete um Geduld ringend ein. Er wusste, dass es zwecklos war, seinem Vater zu erklären, dass er Naomis Mutter nicht kannte.

»Na gut, Dad, Zeit zu gehen«, sagte Oliver entschieden und griff nach seiner Aktentasche.

Sein Vater rührte sich nicht. Naomi ebenso wenig – sie standen da, gefangen in einem seltsamen Krieg ihrer Blicke. Er erwartete, dass Naomi jetzt entnervt sein würde, und das war sie auch, aber vornehmlich wirkte sie wütend, und das war nicht fair. Immerhin war es nicht Walters Schuld, dass er krank war.

»Er weiß nicht, was er sagt«, meinte Oliver steif. Er hasste es, jemandem die Erkrankung seines Vaters in dessen Beisein erklären zu müssen, aber irgendetwas musste er sagen, um diesen Ausdruck in ihrem Gesicht wegzuwischen.

Sie schluckte und warf Oliver einen flüchtigen Blick zu, aber die Koketterie war verschwunden.

Stattdessen nickte sie verkrampft, und einen Augenblick später wurden er und sein Vater in den Flur hinausgeschoben wie zwei lästige Müllsäcke.

Walter blickte an sich herab und runzelte die Stirn. »Wo ist meine Hose?«

»Was für eine Frage!«, murmelte Oliver.

Er legte seinem Vater die Hand auf die Schulter. »Komm schon. Wir gehen dir jetzt eine Hose holen.«

»Ein paar Eier könnte ich jetzt auch vertragen«, grummelte Walter. »Und vielleicht einen Scotch. Wo ist mein Armband?«

Gewissenhaft beantwortete Oliver die Fragen seines Vaters, gab ihm das Armband und folgte seinem Vater dann zum Aufzug.

Aber nicht, ohne zuvor noch einen nachdenklichen Blick auf Naomi Powells verschlossene Wohnungstür zu werfen, sicherer denn je, dass ihm irgendein wichtiges Puzzleteil fehlte.

Und entschlossener denn je, es zu finden.