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Montag, 5. November

»Ja, ich weiß, dass es sehr kurzfristig ist. Ja, ich verstehe – nein, verstehe absolut, dass Ihre Agentur eigentlich vierundzwanzig Stunden im Voraus informiert werden möchte … Yep, ich weiß es zu schätzen, dass Sie hier eine Ausnahme machen. Ja, sechs Uhr heute Abend wäre perfekt.«

Oliver katzbuckelte noch eine weitere Minute am Telefon vor der Betreuungsagentur herum. Dann führte er ein weiteres Telefonat, diesmal mit einem seiner Lieblingsrestaurants, in dem er nicht mehr gewesen war seit … viel zu lang.

Zugegeben, Montagabende waren nicht unbedingt die beliebtesten Date-Abende, aber er wollte Naomi überraschen. Ihr zeigen, dass er ihr auf halbem Wege entgegenkommen konnte, dass er einen Weg finden konnte, damit das mit ihnen funktionierte.

Die Frau hatte sämtliche Erwartungen übertroffen. Zunächst mit dem gestrigen Brunch, bei dem sie nicht mit der Wimper gezuckt hatte, nachdem das Ganze in einen wenig überraschenden Wutanfall von Walter übergegangen war. Dann heute Nachmittag, als Oliver von einem Klienten aufgehalten worden war und Janice gleichzeitig plötzlich heftige Zahnschmerzen bekommen hatte. Wie selbstverständlich hatte Naomi angeboten, bei Walter zu bleiben, damit Janice zum Zahnarzt gehen konnte.

Einfach so, als sei das keine große Sache. Als seien sie Partner in dieser Sache, obwohl er kein Recht hatte, sie zu diesem frühen Zeitpunkt ihrer Beziehung um so etwas zu bitten.

Oliver wusste, dass er gefährlich dicht davor war, sich in diese Frau zu verlieben, und das Einzige, das ihn noch davon abhielt, war das nagende Gefühl, dass sie sich zurückhielt.

Deshalb der heutige Abend. Nur sie beide. Guter Wein. Elegante Kleidung. Keine hartgekochten Eier. Nicht mal ein Puzzle.

Damit sie eine Chance hatten, musste er sie aus den Mauern der 517 Park Avenue hinausmanövrieren und ihr zeigen – sich selbst zeigen –, dass sie es in der richtigen Welt schaffen konnten.

Nachdem er den Tisch fürs Abendessen bestellt hatte, tätigte er einen weiteren Anruf. Diesmal mit Naomi. Sie hob nicht ab, was nicht überraschend war, denn sein Dad forderte häufig die ganze Aufmerksamkeit seiner Begleitung.

Beinahe hätte er ihr eine Textnachricht geschickt, um ihr mitzuteilen, dass er eine alternative Betreuung für diesen Abend gefunden hatte, da Janice – die nach einer Wurzelbehandlung schmerzstillende Medikamente nehmen musste – wohl kaum in der Lage sein würde, sich um Walter zu kümmern.

Stattdessen beschloss er, sie zu überraschen, wobei er auf dem Weg beim Blumenladen anhielt, um ihr einen Strauß zu kaufen. Sie hatte darauf beharrt, die Rosen von gestern in seiner Wohnung zu lassen, um die Räume ein bisschen »aufzuheitern«, und er wollte auch etwas für sie besorgen – einen Gratulationsstrauß für das neue Büro.

Oliver wählte ein Bouquet aus rosa Rosen im Laden an der Ecke, dann eilte er nach Hause, wobei er auf dem Weg in den fünften Stock zwei Stufen auf einmal nahm.

Vor Naomi hatte Oliver immer noch eine Pause in seiner eigenen Wohnung eingelegt, um wieder zu Atem zu gelangen, sich umzuziehen und sich vom Architekten in den Sohn eines Patienten zu verwandeln.

Nach Naomi gehörte es zu den Highlights des Tages, in die Wohnung seines Vaters zu gelangen und sie dort zu treffen. Zu den Highlights der Woche.

Die Frau entwickelte sich gerade zum Highlight seines Lebens.

Oliver holte die Schlüssel hervor und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen, als er sah, dass die Wohnungstür seines Vaters offenstand.

Sein Herz klopfte wie wild, als er langsam auf die Tür zuging und sie aufstieß, gleichzeitig in Eile und voller böser Vorahnungen.

Nichts.

»Naomi? Dad?«

Keine Antwort. Das Einzige, was er hörte, war der History Channel auf voller Lautstärke.

Oliver brach der kalte Schweiß aus. Vielleicht waren sie ja spazieren gegangen, aber Naomi hätte die Tür nie unverschlossen gelassen, geschweige denn offen.

»Dad!«, rief er jetzt dringlicher und ging ins Schlafzimmer. Es war leer.

Geistesabwesend griff er nach der Fernbedienung, um den Fernseher abzuschalten. Die Stille steigerte nur sein Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

Ein Handy vibrierte auf einem harten Untergrund, und er sah sich im Zimmer um. Da entdeckte er Naomis Handy auf der Küchentheke, auffällig in seiner korallenfarbenen Hülle.

Oliver ging hin, griff danach, dann erstarrte er. Sein Herz setzte aus.

»Naomi«, stieß er hervor.

Sie lag zusammengekauert auf dem Küchenboden, unter ihrem Kopf hatte sich eine kleine Blutlache gebildet.

»Naomi!« Sie bewegte sich nicht.

Er hockte sich neben ihr hin, strich ihr mit der Hand über die Seite, obwohl er nach seiner Erste-Hilfe-Ausbildung eigentlich wusste, dass er sie nicht bewegen sollte.

Sanft berührte Oliver ihre Wange, aber sie rührte sich immer noch nicht. Er holte sein Handy hervor und wählte mit zitternden Fingern die 911.

»Ja, ich brauche einen Krankenwagen zur 517 Park Avenue. Eine bewusstlose Frau.«

Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder, als er die Fragen der Telefonistin beantwortete.

Nein, er wusste nicht, was passiert war.

Ja, da war Blut.

Atmete sie?

Oliver schluckte. Das hatte er nicht überprüft, denn der Gedanke war ihm gar nicht gekommen – er hatte ihn verdrängt, weil er ihn nicht ertragen hätte.

Zitternd umfing er Naomis Handgelenk. Fand den Puls. Um sich selbst zu beruhigen, führte er seine Hand unter ihre Nase, spürte den Luftzug ihres Atems.

»Ja. Sie atmet.«

»Okay, der Krankenwagen ist auf dem Weg. Können Sie in der Leitung bleiben und mir helfen, den Sanitätern genau zu sagen, wohin sie müssen, wenn sie da sind?«

Er wollte eigentlich ja, natürlich, sagen, als es ihm wieder einfiel. Walter. Walter war nicht da.

Und plötzlich sah sich Oliver der schlimmsten Entscheidung seines Lebens gegenüber: Sollte er neben der blutüberströmten, bewusstlosen Gestalt der Frau, die er liebte, bleiben oder sich aufmachen und seinen verirrten, kranken Vater suchen?