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Mittwoch, 26. September

Naomi hätte es auch telefonisch regeln können, aber dann siegte doch ihre Neugier.

Was dumm war. Eigentlich hätte sie im Büro und in ihrer Wohnung sein sollen und packen und sich auf den doppelten Umzug vorbereiten. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie sich endlich mit dem Produktionsunternehmen herumschlagen musste, das ihr Leben in ein Primetime-Special verwandeln wollte. Von den ganzen anderen Aufgaben, die mit der Leitung des eigenen Milliarden-Dollar-Unternehmens einhergingen, einmal ganz abgesehen.

Und stattdessen?

Stattdessen schlüpfte Naomi am Mittwochnachmittag leise aus dem Büro, und statt sich, wie sonst, zum Mittagessen Sushi oder ihren Lieblingssalat Niçoise in ihrem Stammbistro in der Lower East Side zu gönnen, begab sie sich in den oberen Teil der Stadt.

Hin zu einem Wohnblock, an den sie schon seit Jahren nicht mehr gedacht hatte.

Na ja, das stimmte nicht ganz. Sie hatte versucht, in den letzten Jahren nicht daran zu denken. Und meist war sie dabei erfolgreich gewesen – außer dann, wenn die lebenslange Verbitterung ihrer Mutter ihr mal wieder unter die Haut gegangen war und sie gezwungen hatte, sich zu erinnern.

Vor dem Gebäude blieb Naomi stehen und musterte die Fassade von 517 Park Avenue. Sie sah aus … wie immer. Und das war wahrscheinlich der Punkt. Hier, an der Upper East Side, hielt man Vorkriegsarchitektur nicht für alt, sondern für altehrwürdig. Und das galt als höchstes Lob.

Mir nichts dir nichts hatte sich eine Wolke über sie gelegt, und sie spürte, wie sie sich veränderte. Als seien das Stella-McCartney-Kleid, die Schuhe und die Tasche, die alle für sich genommen mehr kosteten als die Miete für ihre erste Wohnung, einfach verschwunden.

Als sei sie nicht länger Naomi Powell, die erstklassige »junge Chefin«, die die Geschäftswelt Amerikas im Sturm erobert hatte.

Stattdessen war sie Naomi Fields. Das magere, neunjährige Mädchen in geschenkten Klamotten, das nicht in diesen Stadtteil gehörte und jeden verdammten Tag wieder aufs Neue daran erinnert wurde.

Naomi biss die Zähne zusammen, um die Erinnerung zurückzudrängen, straffte die Schultern, reckte das Kinn und erklomm die Treppenstufen.

Ein vertrauter Duft erfüllte das Foyer, aber sie ignorierte das bekannte Gefühl, als sie sich dem Türsteher vorstellte und in das kleine Büro zur Rechten dirigiert wurde, an dem sie als Mädchen immer blitzschnell vorbeigerannt war. Die grauhaarige Frau hinter dem altmodischen Schreibtisch einer Sekretärin war irgendetwas zwischen mittelalt und Seniorin und arbeitete wahrscheinlich schon sehr lange hier.

Sie warf Naomi über ihre Brille hinweg einen Blick zu. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin Naomi Campbell. Ich habe einen Termin.«

»Ja, natürlich«, murmelte die Frau und wandte sich einem Stapel Aktenmappen rechts von ihr zu, von dem sie die oberste an Naomi weiterreichte.

»Ihr Gespräch ist für zwölf Uhr dreißig angesetzt. Nehmen Sie doch bitte im Büro zu Ihrer Linken Platz und werfen Sie einen Blick in Ihre Akte. Wir haben Sie per Post erhalten, deshalb ist sie ein wenig verknittert.«

Die Stimme der Frau klang tadelnd, aber Naomi ignorierte ihren Ton. Allerdings hätte sie durchaus fragen sollen, warum sie überhaupt eine Akte hatte – egal ob diese per Post verschickt wurde oder auf anderem Wege zu ihr gelangt war.

Aber sie nickte nur, nahm die Akte an sich und ging in das betreffende Büro – einen muffigen, kleinen Warteraum mit sogar noch muffigerem Mobiliar. Dann setzte sie sich auf einen Chintz-Sessel vor einem großen hölzernen Schreibtisch. Sie öffnete die Akte.

Und atmete scharf aus. Nicht wegen der Bewerbung selbst – die war nullachtfünfzehn – sondern wegen der Schrift, in der sie verfasst worden war. Die Handschrift ihrer verstorbenen Mutter war immer das würdevollste an ihr gewesen. Elegante, schwungvolle Buchstaben, die Danica Fields Tattoos, ihren Kettenraucher-Husten und den vulgären Akzent Lügen straften.

»Oh, Mom«, flüsterte Naomi leise und fuhr mit dem Finger über ihren Namen. »Was hast du getan?«

Nach einer schnellen Durchsicht der Papiere fand Naomi ihre Befürchtungen bestätigt: Danica hatte im Namen ihrer Tochter einen Antrag auf eine Wohnung hier gestellt, in ebenjenem Gebäude, das ihre Mutter seinerzeit gern als Höllenschlund bezeichnet hatte.

Naomis Blick fiel auf die Unterschrift am Fuße der Seite. Wie erwartet handelte es sich um ihren eigenen Namen, allerdings in der präzisen Schreibschrift ihrer Mutter. Sie besah sich das Datum daneben: der 21. März.

Vor sechs Monaten. Und nur zwei Wochen vor dem Tod ihrer Mutter.

Naomi schluckte den Kloß im Hals herunter und schloss die Akte, verschränkte die Hände im Schoß und wartete.

Und wartete.

Nach fünf Minuten begann sie, die altmodische Uhr an der Wand zu beobachten, die spöttisch vor sich hin tickte. Nach zehn Minuten fing sie an, die Uhr wütend anzufunkeln.

Wer immer dieses »Interview« führen wollte, verspätete sich.

Naomi stand auf in der Absicht, der Dame an der Rezeption zu erklären, dass sie für so etwas keine Zeit hatte. Zum Teufel, sie wollte es eigentlich überhaupt nicht. Naomi brauchte keine Wohnung. Schon gar nicht eine, für die man, wie das Datum auf der Bewerbung ihrer Mutter nahelegte, sechs Monate lang auf einer Warteliste stand.

Und selbst wenn sie wohnungssuchend gewesen wäre, wäre sie niemals auf einen trübseligen Ort wie diesen verfallen, wobei bei der Entscheidung, wen man hier akzeptierte und wen nicht, zu allem Überfluss vermutlich so ein Wort wie Stammbaum fiel.

Doch wenn Naomi ehrlich zu sich selbst war, dann war das, was sie an diesen Menschen verachtete, auch gleichzeitig der Grund, warum sie überhaupt hergekommen war. Sie plagte eine beinahe morbide Neugier, zu sehen, ob sie ihre Bewerbung annehmen würden oder nicht.

Laut Stammbaum war sie zwar eher eine Promenadenmischung als ein reinrassiges Tier, aber dafür eine Promenadenmischung mit Diamanthalsband. In den acht Jahren seit dem Launch hatte sich Maxcessory von einer winzigen Ein-Frauen-Klitsche, die sie von ihrer Einzimmerwohnung im East Village aus betrieben hatte, zu einem blühenden Unternehmen gemausert mit siebenstelligem Kapital, Hunderten von Angestellten und Büros in New York und San Francisco und einem, das demnächst in Los Angeles eröffnet wurde.

Wenn die Eigentümerversammlung ihre Bewerbung ablehnte, sollten sie es ihr ins Gesicht sagen, sollten laut und deutlich aussprechen, dass ihr Blut nicht blau genug war. Denn bei Gott, ihr Geld war ganz gewiss grün genug.

Aber bevor sie der Empfangsdame Dampf machen konnte, hörte sie Stimmen. Die erste gehörte der Rezeptionistin, Victoria, aber bei der zweiten handelte es sich um das tiefe Rumpeln einer männlichen Stimme. Vielleicht war das die Person, die das Bewerbungsgespräch führen würde?

Wer immer es war, er hatte offenbar keine Ahnung – oder es war ihm egal –, dass die Tür einen Spalt weit aufstand und sie jedes Wort ihrer Unterhaltung verstehen konnte.

»Suchen Sie sich dafür jemand anderen«, forderte der Mann. »Dieses ganze Auswahlverfahren ist total veraltet.«

Naomi zog die Augenbrauen hoch. Dem konnte sie wohl kaum widersprechen. Allerdings hatte sie so eine Einstellung nicht erwartet.

»Seien Sie nicht kindisch«, antwortete die Frau in herrischem Ton. »Gehen Sie jetzt da rein und führen Sie das Bewerbungsgespräch mit dem Mädchen.«

»Drücken Sie das doch Doreen aufs Auge. Sie macht so was gern.«

»Sie ist mit ihrem neuesten Toyboy in Miami. Mit dem Italiener.«

Naomi riss die Augen auf. Gut gemacht, Doreen.

Man hörte ihn leise fluchen. »Was ist mit Janet? Oder Ned? Die fahren doch total darauf ab, andere zu fragen, wer ihre ›Leute‹ sind.«

»Die beiden haben bereits mehr als ihren Anteil an Interviews geführt. Wir hatten Hunderte von Bewerbern, und mehr als fünfzig haben die Vorauswahlrunde überstanden. Jeder ist mal mit Interviews dran, und man hat mich beauftragt, Ihnen dieses hier aufs Auge zu drücken.«

»Warum?«, knurrte der Mann.

»Ich habe keinen blassen Schimmer, aber das arme Ding sitzt jetzt schon beinahe zwanzig Minuten da drin. Hier sind die Papiere. Tun Sie wenigstens so, als würden Sie sie in Betracht ziehen, dann können wir uns alle wieder unserem Tagesgeschäft zuwenden.«

Naomi verengte die Augen. Er sollte so tun, als ob er sie in Betracht zöge? Wie konnte sie jetzt schon aus dem Rennen sein?

Weil du Abschaum bist. Und das riechen sie.

Naomi schloss die Augen, um die Stimme aus ihrem Hirn zu verbannen. Sie hatte geglaubt, diesen kleinen Teil ihres Unterbewusstseins schon vor Jahren erstickt zu haben, aber etwas an diesem verdammten Gebäude …

Naomi blieb nur noch der Bruchteil einer Sekunde, um den Kopf herumwirbeln zu lassen und die Unwissende zu spielen, bis die Tür geöffnet wurde. Sie wartete mit im Schoß verschränkten Händen, als der Mann eintrat und die Tür mit genug Wucht zuknallte, um ihr zu zeigen, dass er wenig Lust hatte, hier zu sein.

Naomi legte die Beine übereinander, sah züchtig vor sich hin, während der Mann sich auf die andere Seite des Schreibtisches begab. Sie sah, wie er eine Aktentasche neben sich auf den Boden stellte und die Kopie ihrer Akte auf den Schreibtisch knallte, bevor er sich auf dem Ledersessel ihr gegenüber niederließ.

Ungeduldig öffnete er den Folder und blätterte ihn durch, überflog ihn, bis er anscheinend auf ihren Namen gestoßen war, denn er sprach ihn laut und in unfreundlich gereiztem Ton aus: »Naomi Powell.«

Naomi atmete behutsam ein und setzte eine, wie sie hoffte, Maske gelassener Höflichkeit auf. Dann sah sie ihm in die Augen.

Und wieder atmete sie scharf aus, als sie seinem sengenden Blick begegnete.

Es war nicht die Tatsache, dass der Mann gut aussah, obwohl das durchaus der Fall war. Er sah sogar geradezu verstörend gut aus. Dichtes braunes Haar, ein Gesicht, auf dem nicht die leiseste Spur eines Bartschattens zu sehen war, sodass das maskulin kantige Kinn noch besser zur Geltung kam, breite Schultern …

Und hellblaue Augen, die sie überall wiedererkannt hätte.

Vor allem in ihren Alpträumen.

Und Erinnerungen.

Naomi hatte geglaubt, heute auf alles vorbereitet zu sein. Auf jeden.

Aber nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sie dieses Bewerbungsgespräch mit Oliver Cunningham führen würde. Niemals hätte sie im Traum daran gedacht, dass der Junge, der sie in ihrer Kindheit erbarmungslos gepiesackt hatte, noch einmal ihr Schicksal in seinen Händen halten würde.