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Dienstag, 16. Oktober
Kaum zu glauben, aber seit ein paar Jahren gehörte Naomi doch tatsächlich zu den Frauen, die gerne liefen.
An ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag vor ein paar Jahren hatte sie sich ordentlich ins Gewissen geredet und klar gemacht, dass eine körperlich gesunde Frau keinen vernünftigen Grund hatte, nicht auf die unzähligen Empfehlungen zu hören, dass Bewegung für die Gesundheit unabdingbar war. Insbesondere für eine Unternehmerin, die stundenlang am Schreibtisch arbeitete, am Telefon oder in Taxis saß. Aber ein Fitnessstudio? Nicht wirklich.
Wie es mit der Umsetzung von Vorsätzen häufig der Fall ist, war der Anfang schwer. Sie hatte alles ausprobiert. Yoga. Power-Yoga. Pilates. Hip-Hop-Tanzkurse. CrossFit. Cycling-Kurse. Aber Naomi war ein einsamer Wolf. Deshalb hatte sie keinen Gefallen an Aktivitäten mit festem Stundenplan oder – nun ja – sozialer Interaktion gefunden. Ihr Bedürfnis nach Bewegung begründete sich genauso sehr auf dem Wunsch, den Kopf freizubekommen, wie auf den gesundheitlichen Erwägungen. Da passte Laufen wie die Faust aufs Auge.
Sie lief ein paar Mal die Woche, wenn das Wetter mitspielte draußen, auf dem Laufband in ihrem Fitness-Studio, wenn es schlecht war. Der heutige Morgen war kühl und klar, sodass sie an der frischen Luft laufen wollte. Aber statt sich auf einen stetigen, langen Dauerlauf einzulassen, war ihr Tempo beinahe erbarmungslos und ihr Rhythmus fieberhaft gewesen.
Nachdem sie in beinahe strapaziösem Tempo durch den Central Park gesprintet war, um die aufgestaute Energie von der Heimarbeit loszuwerden, gestattete sie sich einen Cool-down-Walk, japste nach Luft und zwang sich, sich der Wahrheit zu stellen:
Sie war vor ihren Dämonen davongerannt.
Die letzten paar Tage hatte Naomi damit verbracht, ihren Beinahe-Kuss mit Oliver nochmals zu durchleben.
Die letzten paar Nächte hatte sie davon geträumt.
Es sich gewünscht.
Und sich deshalb gehasst.
Sie hatte durchaus ihren Anteil an Freunden, Geliebten – wie immer man sie nennen wollte – im Leben gehabt. Die meisten davon hatte sie auch gemocht, sogar Brayden, auch wenn das sicherlich nicht für ihre Menschenkenntnis sprach.
Aber noch nie hatte sie etwas Derartiges empfunden. Sich dermaßen von einem anderen Menschen angezogen zu fühlen, nicht nur auf körperlicher Ebene, sondern auf emotionaler, beinahe schon Seelen-Ebene. Und dann hatte er Streit mit ihr angefangen.
Verdammt.
Naomi steigerte ihr Tempo wieder, als könne ein weiterer aufreibender Lauf ihr Oliver Cunningham austreiben.
Sie hatte nicht vorgehabt, ihn zu begehren. Nicht annähernd. Ihr Plan war einfach gewesen – und hatte mit Gefühlen nichts zu tun gehabt.
Schritt Eins: In dieses Gebäude ziehen, um den Wunsch ihrer Mutter zu ehren.
Schritt Zwei: Die Cunninghams konfrontieren, sie darüber informieren, dass das Mädchen, das sie damals wie Müll behandelt hatten, ihnen nun ebenbürtig war.
Schritt Drei …
Na ja, über Schritt Zwei war sie noch nicht hinausgekommen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, beruhte ihr Plan eigentlich eher auf dem dringenden Bedürfnis, mit der ganzen Geschichte ein für alle Mal abzuschließen, und nichts sonst. Nicht nur um ihrer Mutter willen, sondern damit Naomi endlich das Gefühl hatte, Naomi Fields hinter sich gelassen zu haben.
Sie brauchte keine Rache, nur Anerkennung. Sie wollte die Cunninghams mit ihrem Verhalten in der Vergangenheit konfrontieren, ihnen vor Augen führen, was sie mit ihrer Achtlosigkeit angerichtet hatten. Dass sie sich entschuldigten.
Aber Margaret Cunningham, jene kalte Frau, die so herzlos die Bitte von Naomis Mutter ignoriert hatte, nur noch eine einzige Nacht dort bleiben zu können, damit sie eine Bleibe für ihre Tochter suchen konnte, war tot.
Walter Cunningham war, nun ja … auch wenn Naomi ihn eigentlich durchaus mit seinen Vergehen konfrontieren wollte, sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich so grausam sein konnte oder ob er sich überhaupt an den Vorfall würde erinnern können, geschweige denn Reue empfinden würde.
Und was Oliver Cunningham anging …
Naomi stöhnte auf dem einigermaßen einsamen Bürgersteig laut vor sich hin, stemmte die Hände in die Hüften, blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken, um in den Himmel emporzublicken.
Warum? Warum musste sie ausgerechnet ihn begehren?
Neuer Plan, sagte Naomi sich, während sie ihren Weg über die wenigen Straßenzüge zu ihrer Wohnung fortsetzte. Meide alle Cunningham-Männer.
Die brachten sie eindeutig durcheinander, und Naomi hasste es, die Dinge nicht unter Kontrolle zu haben. Sie musste dorthin zurück, wo sie vor ein paar Monaten noch gestanden hatte.
Vor drei Monaten war sie sich wie die kontrollierteste Frau auf der Welt vorgekommen. Ihr Berufsleben war perfekt strukturiert. Sie hatte einen Liebhaber, dessen Gesellschaft sie genoss. Und sie hatte den festen Plan, sich immer weiter ein für alle Mal von ihrer hässlichen Vergangenheit zu lösen.
Und jetzt Vorspulen in die Gegenwart: Ihr Liebhaber war tot und ein Arschloch, und die Geister ihrer Vergangenheit erwiesen sich als kompliziert. Und sie hatte ein paar Wochen lang noch nicht mal ein Büro, in das sie sich flüchten konnte.
Es war beinahe so, als wolle das Universum ihr mitteilen, dass sie davonlaufen konnte, so schnell sie wollte: Früher oder später musste sie sich ihrer chaotischen Gefühlswelt stellen. Und so schmerzhaft es auch war, das auch nur sich selbst einzugestehen, ihre Gefühle betrafen vornehmlich die Cunninghams.
Um das zu ändern, brauchte sie Abstand. Musste alles wieder in die richtige Perspektive rücken.
Und nicht mal anfangen, über Olivers behämmerte Behauptung nachzudenken, dass sie die TV-Serie mied, weil sie Angst hatte. Scheiß drauf! Als sie heute Morgen aufgewacht war, war sie so wild entschlossen gewesen, ihm das Gegenteil zu beweisen, dass sie Dylan eine E-Mail geschickt hatte, um ihm mitzuteilen, dass sie im Boot war.
Der Vertrag war bereits auf dem Weg zu ihrem Anwalt, und Naomi war … ja, sie würde es bis zum letzten Atemzug leugnen, falls Oliver sie jemals fragte, aber sie war nervös. Aufgeregt. Sie war sicher, dass diese Entscheidung richtig gewesen war, und doch fühlte sie sich verdammt verletzlich. Irgendwie musste sie einen Weg finden, um die Story zu beeinflussen. Sie wollte nur die inspirierende Wahrheit enthüllen, wie sie von einem winzigen Einzimmerapartment aus ein millionenschweres Unternehmen gegründet hatte. Gleichzeitig aber musste sie dabei die Menschen schützen, die ihr etwas bedeuteten.
Naomis Privatleben würde ein offenes Buch sein, aber bis in den Tod würde sie das Andenken an ihre Mutter ehren. Ebenso wie Claires und Audreys Privatsphäre.
Naomi war beinahe wieder an ihrem Wohnhaus angelangt. Doch sie verlangsamte den Schritt, als sie wenige Meter vor sich einen Mann entdeckte, der nur mit einem weißen T-Shirt und blauen Boxershorts bekleidet die Park Avenue hinabschlurfte. Zumindest trug er diesmal Schuhe.
Sein mittlerweile vertrauter grauer Schopf wurde von dem kalten Herbstwind zerzaust, und Naomi schauderte. Für ihren morgendlichen Lauf war die kalte Luft hervorragend gewesen, aber sie trug Handschuhe, eine Laufleggins, Laufshirt und Jacke sowie ein Stirnband, um die Ohren warm zu halten.
Walter war für Temperaturen um die null Grad wohl kaum richtig gekleidet. Naomi warf einen hoffnungsvollen Blick auf die Eingangstür des Wohnhauses und wünschte, dass gleich Oliver oder Janice hinausgestürmt kämen, um ihn wieder hereinzuholen.
Nichts.
Naomi seufzte schwer. Na gut.
»Hey, Walter!«, rief sie. So viel dazu, dass sie sich von den Cunningham-Männern fernhalten wollte.
Er drehte sich nicht um, also joggte sie langsam hinter ihm her, um ihn einzuholen, was in Anbetracht seines langsamen Schrittes nicht schwer war.
»Hey«, rief sie und tippte ihm auf den Arm.
Walter sah sie erschrocken an. »Hallo.«
»Ich bin’s, Naomi«, sagte sie mit, wie sie hoffte, beruhigendem Lächeln, denn er schien sie nicht zu erkennen. »Ich wohne in Ihrem Haus. Wir sind Freunde.«
Er lächelte. »Ich mag hübsche Freundinnen.«
Darauf möchte ich wetten, du alter Sack.
Sie dachte das ohne wirkliche Feindseligkeit, und … verdammt. Fing sie etwa an, eine gewisse Zuneigung für diesen Mann zu empfinden?
»Wo gehen Sie hin?«, fragte sie lässig, als er sich erneut in Bewegung setzte.
»Gehen?« Der Wind frischte wieder auf, und Walter zitterte. Dann sah er sich um, wirkte herzzerreißend verwirrt. Wohin er sich auch auf den Weg gemacht haben mochte, er hatte es offensichtlich vergessen.
Sie schob sich vor ihn hin, versperrte ihm den Weg. »Ich könnte ein Frühstück gebrauchen. Wollen Sie was mit mir essen?«
»Was essen Sie denn?«, fragte er skeptisch.
»Pancakes?«
Er wirkte angewidert.
»Oder Eier?«, sagte sie, sich an einen Strohhalm klammernd. Sie war einigermaßen sicher, keine Eier im Haus zu haben, aber hoffentlich hatte Oliver welche da. Wenn nicht, würde sie welche bei einem der unzähligen Lebensmittellieferanten bestellen, die es in New York gab. Alles, um ihn nur wieder ins Haus zu locken.
Er zuckte mit den Schultern. »Okay.«
»Perfekt«, rief Naomi erleichtert und hakte ihn unter.
Er ließ sich von ihr ins Gebäude zurückführen. Sie ging langsam, damit er mitkam und nicht das Gefühl hatte, manövriert zu werden und sich womöglich doch noch wehrte.
Walter betrachtete ihr Outfit. »Sie haben Sport getrieben. Meine Frau macht gern Jazztanz.«
»Ach ja?«, fragte Naomi. »Und Sie? Auch irgendeine Sportart?«
»Bin ganz gut im Squash. Spielen Sie auch?«
»Definitiv nicht. Ich weiß nicht mal genau, wie Squash geht«, sagte sie und drückte auf den Aufzugknopf zu Walters Stockwerk statt ihrem eigenen. Sie hätte jetzt alles für eine heiße Dusche gegeben, nicht nur um sich aufzuwärmen, sondern auch, um den getrockneten Schweiß loszuwerden, aber erst musste sie Walter wieder in seine Wohnung schaffen, bevor Oliver und Janice noch ausflippten vor Angst.
Zum Teufel, wahrscheinlich flippte Oliver bereits aus.
Walter hatte das Squash-Thema fallengelassen und murmelte etwas darüber, dass der Dow-Jones um zweihundert Punkte gesunken war, vor sich hin. Sie hatte keine Ahnung, ob er von heute, gestern oder von vor zwanzig Jahren sprach, also gab sie nur ein Hmm-hmm von sich und führte ihn zu seiner Wohnung.
»Haben Sie einen Schlüssel?«, fragte sie ihn.
»Schlüssel?«
»Ach egal.« Sie klopfte an die Tür.
Diese öffnete sich, noch bevor sie mit Klopfen fertig war, sodass ihre Hand noch in der Luft schwebte, als Oliver im Türrahmen erschien.
Ein beinahe nackter Oliver.
Naomis Mund wurde plötzlich ganz trocken, und ihr Puls etwas … holprig.
Und ihr war eindeutig nicht mehr kalt.
»Dad«, rief Oliver und schloss einen Moment lang erleichtert die Augen. »Dad, das darfst du nicht machen!«
»Was darf ich nicht machen?«, fragte Walter und trat ein. »Warum trägst du ein Handtuch?«
»Weil ich unter der Dusche war«, antwortete Oliver außer sich. »Du hast noch geschlafen, und … ach egal.« Er seufzte nur und fuhr sich mit der Hand durch das feuchte Haar.
Immer noch war Naomis Anwesenheit ihm gar nicht aufgefallen, was wahrscheinlich ein Segen war, denn sie konnte sich kaum daran erinnern, wie man verdammt noch mal überhaupt atmete. Und noch schwerer fiel es ihr, die Augen von seiner nackten Brust abzuwenden.
Er war … nun ja … sehr gut gebaut. Sie hatte das angesichts seines Erscheinungsbildes im Anzug bereits vermutet, aber die Wirklichkeit war sogar noch besser als erwartet. Sie ertappte sich bei der Frage, welchen Sport er wohl trieb, denn sie hatte den Verdacht, dass er weder Jazztanz machte noch Squash spielte, und sein ausgeprägter Bizeps sagte ihr, dass er sich auch nicht aufs Laufen beschränkte.
Dieser Mann hatte kein Gramm Fett am Leib – sein Oberkörper war schmal und verlief konisch bis zu dem dunkelblauen Handtuch, das er sich um die Hüften geknotet hatte, und …
Ohne den Kopf zu drehen, sah Oliver zu ihr hinüber, und ihre Blicke trafen sich.
Ups.
Jetzt hatte er sie dabei erwischt, wie sie den Mann angaffte, den sie beinahe aus ihrem Leben verbannt hatte.
»Danke«, sagte er heiser und leicht zögernd. »Ich war weniger als fünf Minuten unter der Dusche und dachte … doch schon war er weg …«
»Kein Problem«, beruhigte sie ihn leise. »Walter geht es gut. Ich habe ihn eingeholt, bevor er sich weiter als einen Straßenzug entfernt hatte.«
Er schloss erneut die Augen. »Ich wollte gerade die Nachbarn durchtelefonieren. Normalerweise bleibt er innerhalb des Gebäudes, aber wenn er jetzt anfängt, auch rauszugehen …«
Oliver tat ihr leid, als sie den aufrichtigen Kummer in seinem Gesicht sah. Nicht nur, weil er zutiefst entsetzt war bei der Vorstellung, dass sein Vater allein in New York City umherirrte, sondern weil er wusste, dass die Tage, in denen sein Vater noch zu Hause wohnte, gezählt waren.
Und obwohl sie ihre letzte Auseinandersetzung noch gut im Gedächtnis hatte, obwohl die Erinnerungen an ihre Kindheit immer im Hintergrund lauerten, ging ihr auf, dass sie helfen wollte. Sie konnte den durch Alzheimer bedingten Verfall nicht aufhalten, aber vielleicht konnte sie den beiden Männern wenigstens ein bisschen zur Seite stehen.
»Wollen Sie, dass ich bei ihm bleibe, während Sie sich anziehen?«, fragte sie, obwohl ihr klar war, dass sie dann die Wohnung würde betreten müssen – jene Wohnung, in der das Leben ihrer Mutter komplett aus den Fugen geraten war.
Abschließen. Weißt du noch? Du wolltest mit der ganzen Sache abschließen.
Oliver sah sie verblüfft an, dann sah er an sich herab und stöhnte. Offenbar war ihm gar nicht aufgefallen, dass er halb nackt war. »Mein Gott.«
Sie schenkte ihm ein winziges, verhaltenes Lächeln. »Wenn Sie sich dabei besser fühlen, an mir klebt der Schweiß von einem Lauf über mehrere Meilen.«
Sofort bedauerte sie ihr sorgloses Bekenntnis, denn sein Blick glitt über sie hinweg, sodass sie es förmlich spürte. Ja, sie hatte mehr Klamotten an als er, aber immer noch brauste von dem Lauf das Blut durch ihre Adern, und ihre Gefühle von neulich Abend simmerten an der Oberfläche. Irgendetwas Urtümliches lag in der Luft.
Nein, das war zu vage. Irgendetwas Urtümliches lag zwischen ihnen. Eine Hitze, die sie nicht wollte und von der sie verdammt sicher auch nicht wusste, was sie damit anfangen sollte.
Ein lauter Knall aus der Wohnung verdarb den Augenblick, ebenso wie Walters leises Fluchen. Oliver schloss die Augen, als ringe er um Geduld. »Heute ist wieder einer seiner schlechten Tage. Wenn Sie ihn nur für fünf Minuten im Auge behalten könnten. Zwei Minuten …«
»Kein Problem«, sagte sie und trat bereits ein. Ihr Blick wanderte zu Walter hinüber, der neben dem Couchtisch stand. Der Knall, den sie gehört hatten, war ein Stapel Bücher, und Naomi ging sofort hinüber, um sie aufzuheben.
»Das müssen Sie nicht tun«, sagte Oliver und schloss die Wohnungstür.
»Besser ich als Sie in einem Handtuch«, gab sie zurück und warf ihm über die Schulter hinweg ein spöttisches Grinsen zu.
Er wand sich. »Stimmt. Bin gleich wieder da.«
»Ich mach das schon, Walter«, sagte sie zu dem anderen Mann. »Setzen Sie sich einfach schon mal hin.«
»Wer sind Sie?«, fragte er gereizt, gehorchte aber und ließ sich in dem Lehnsessel nieder.
»Ich bin Naomi.«
»Sind Sie hier, um ihn zu besuchen?«, fragte er und deutete in die Richtung des Raumes, in dem Oliver verschwunden war.
»Nein, ich wollte Sie besuchen.« Sie stapelte die Bücher auf den Couchtisch. Es waren vornehmlich typische Bücher für einen Couchtisch mit modernen Farben und hübschen Fotografien, aber auch ein Roman von Stephen King, der anscheinend zwar nagelneu war, zu den anderen Büchern aber so gar nicht passen wollte.
»Gehört der Ihnen, Walter?«, fragte sie und hielt das Buch in die Höhe.
Er sah es verständnislos an. Wenn es seins war, erinnerte er sich offensichtlich nicht mehr daran. Aber genauso gut konnte es auch Janice gehören. Oder Oliver.
Sie fuhr mit dem Finger über den Buchrücken. Es war einer der neueren Titel, die sie noch nicht gelesen hatte.
»Früher liebte ich Stephen King«, sagte sie zu Walter, obwohl der schon nach der Fernbedienung griff und den Fernseher einschaltete und sie vollkommen ignorierte.
»Was ist passiert?«
Naomis Kopf fuhr herum. Oliver kam gerade aus dem Bad. Sein Haar war noch feucht, aber er hatte sich rasiert und trug einen schwarzen Pullover und Jeans. Dies war das erste Mal, dass sie ihn ohne Anzug sah, und sie versuchte, zu ignorieren, dass er in hochwertigem Casual-Look genauso gut aussah wie im förmlichen Business-Outfit.
»Was?« Sie zwang sich, ihm wieder in die blauen Augen zu sehen.
»Sie sagten, dass Sie früher einmal Stephen King liebten. Warum sehen Sie das heute anders?«
»Oh, nichts ist passiert«, sagte sie und stand mit dem Buch in der Hand auf. »Ich habe nur einfach nicht mehr viel Zeit zum Lesen.« Doch schon hatte sie sich ertappt und sah auf das Buch hinab. »Nein, das stimmt gar nicht. Ich glaube, ich nehme mir keine Zeit mehr zum Lesen.«
»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Das Erwachsensein fordert von uns allen seinen Tribut. Nimmt uns Stück für Stück gefangen, und ehe wir’s uns versehen, ist all unsere Freizeit … dahin«, sagte er, kam zu ihr herüber und griff nach dem Buch, ließ den Finger genauso am Buchrücken entlangwandern, wie sie es noch wenige Augenblicke zuvor gemacht hatte.
Die geistesabwesende Geste sagte ihr alles, was sie wissen musste: »Es gehört Ihnen.«
Er lächelte wehmütig und legte das Buch auf die anderen. »Ich bin ebenfalls ein Fan. Und finde anscheinend ebenfalls keine Zeit, um mit dem verdammten Ding auch nur anzufangen.«
»Warum liegt es hier statt in Ihrer Wohnung?«
»Es ist für die Abende gedacht, wenn Janice aus ist und ich auf Dad aufpasse. Normalerweise geht er früh zu Bett, und ich nehme mir immer wieder vor, endlich mit dem Buch anzufangen.«
»Und was machen Sie stattdessen? Fernsehen?«
»Ja, und meistens arbeiten.«
Sie nickte verstehend, sagte aber nichts.
Oliver räusperte sich. »Na ja. Danke jedenfalls, dass sie ein Auge auf ihn hatten. Normalerweise geht es ihm gut, wenn ich dusche oder mich anziehe oder telefoniere, aber heute ist er schon den ganzen Morgen über ruhelos und gereizt.«
»Red’ nicht über mich, als wäre ich nicht da«, meckerte Walter, der anscheinend nicht annähernd so intensiv ins Fernsehen vertieft war, wie es den Anschein gehabt hatte.
»Klar, jetzt hörst du mir zu«, sagte Oliver gutmütig zu seinem Vater und bedeutete Naomi mit einem Kopfnicken, ihm in die Küche zu folgen, wo Walter sie nicht mehr verstehen konnte.
»Wo ist Janice?«, fragte Naomi.
»Ihr Vater hatte einen Herzanfall. Sie ist gestern Abend nach Birmingham geflogen, um bei ihm zu sein.«
»Hat er es überstanden?«
»Sein Gesundheitszustand ist immer noch kritisch«, antwortete Oliver und rieb sich den Nacken. »Ich habe ihr gesagt, sie solle bei ihrem Vater bleiben, solange sie will. Vermutlich ist sie mindestens eine Woche weg.«
Das schrille Ping der Gegensprechanlage an der Wand neben der Eingangstür unterbrach ihn. Bei dem Geräusch fuhr sie zusammen. Sie kannte es noch aus ihrer Kindheit. Es ertönte immer, wenn jemand unten im Haus die Nummer der Cunninghams wählte.
»Wie alt ist dieses Ding? Hundert?«
»So ungefähr«, antwortete er mit einer Grimasse. »Es hat keinen Sinn, diese Wohnung technisch modernisieren zu lassen und den Klingelton auf das Handy der Bewohner umleiten zu lassen. Zum einen hat mein Dad gar kein Mobiltelefon, zum anderen teilen Janice und ich uns die Zeit hier untereinander auf.«
Er ging zur Wand und drückte den Knopf. »Hallo?«
Die Antwort war genauso statisch aufgeladen wie in Naomis Erinnerung. Knisternd ertönte die Stimme des Türstehers von unten. »Hi, Mr Cunningham, hier will eine Serena Grogan zu Ihnen?«
»Ja, schicken Sie sie herauf«, antwortete Oliver und ließ den Knopf wieder los.
»Eine vorübergehende Betreuerin, die Janice vertreten soll«, erklärte er Naomi.
»Oh.« Sie verschränkte lose die Finger vor dem Oberkörper.
Oliver blickte demonstrativ auf die Uhr. »Sehen Sie, Naomi. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie meinem Dad heute Morgen geholfen haben. Wirklich. Aber Sie haben auch kein Geheimnis daraus gemacht, dass Sie nichts mit mir zu tun haben wollen, also …«
Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Also … gehen Sie?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Vormittag war ziemlich anstrengend. Und in einer halben Stunde habe ich eine Telefonkonferenz. Ich habe keine Ahnung, ob Dad Serena gleich auf seine Ich-hasse-sie-auf-den-ersten-Blick-Liste setzt …«
»So eine Liste hat er?«
»Mein Gott, ja. Er erinnert sich nicht an allzu viel, aber wenn er einmal beschließt, jemanden nicht zu mögen, dann scheint er das so schnell nicht zu vergessen.«
»Wirklich? Zu mir war er eigentlich immer nett«, sagte sie und blickte zu dem fügsam wirkenden Walter hinüber.
»Ja, in der Tat, er mag Sie. Wahrscheinlich ist ihm nicht bewusst, dass dieses Gefühl nicht auf Gegenseitigkeit beruht.« Oliver öffnete bei diesen Worten die Haustür, ein klarer Hinauswurf, und überrascht spürte Naomi einen Stich des Bedauerns.
Doch was konnte sie jetzt überhaupt noch sagen? Er gab ihr genau das, was sie zu wollen glaubte. Er versuchte, sich verdammt noch mal aus ihrem Leben herauszuhalten, also warum stand sie noch immer hier? Naomi brachte ein steifes Nicken zustande und ging an ihm vorbei in den Hausflur. Dann wandte sie sich um.
»Ich könnte Ihnen helfen.«
Oliver sah sie an. »Wie bitte?«
»Ich könnte Ihnen mit Walter helfen. Ich habe in den nächsten Wochen immer noch kein Büro, also arbeite ich von zu Hause aus. Zeitlich bin ich flexibel, wenn Sie also jemanden brauchen, der ihm Gesellschaft leistet …«
Oliver starrte sie mit offensichtlicher Überraschung an.
Überrascht sind wir wohl beide, dachte Naomi. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihm so ein Angebot machte.
Hatte sie sich nicht gerade gesagt, dass es Zeit war, die ganze Geschichte hinter sich zu lassen, nun, da sie wusste, dass sie niemals die Entschuldigung von Walter Cunningham bekommen würde, auf die sie so lange aus gewesen war?
Und dann bot sie ihm an, die Betreuerin zu spielen?«
»Naomi, ich kann nicht …«
Aber bevor er den Satz noch beenden konnte, piepte der Aufzug, und eine zierliche blonde Frau trat in den Flur hinaus.
Sie lächelte freundlich, als sie Oliver und Naomi sah. »Ist das die Wohnung der Familie Cunningham?«
Naomi lächelte gezwungen und deutete auf die offene Haustür.
Die Frau nickte höflich, als sie und Naomi aneinander vorbeigingen. Wie betäubt lauschte Naomi, wie Oliver und Serena Grogan sich einander vorstellten.
Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und riskierte einen schnellen Blick über die Schulter, aber Oliver hatte bereits die Tür zugemacht und sie damit ausgeschlossen.
Das war schließlich genau das, was sie wollte, und doch … eigentlich auch wieder nicht.