15
Freitag, 12. Oktober
»Sie hätten mich nicht nach Hause begleiten müssen«, sagte Naomi und schob die Hände in die Tasche.
»Vielleicht nicht«, sagte Oliver, legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Nachthimmel hinaus.
Sie stieß ein verblüfftes Lachen aus. »Die Zeit der freundlichen Plattitüden liegt anscheinend hinter uns.«
»Naomi, seit ich Sie kenne, haben Sie nicht eine einzige freundliche Plattitüde in meine Richtung abgegeben.«
»Stimmt.« Sie ließ die Schultern etwas sinken. »Also warum haben Sie es getan?«
»Warum habe ich was getan?«
»Angeboten, mich nach Hause zu begleiten.«
»Habe ich das angeboten?«, fragte er nachdenklich. »Oder haben Ihre Freundinnen etwa achthundert Mal darauf hingewiesen, dass wir sowieso in die gleiche Richtung müssen?«
Naomi lachte. »Ja, tut mir leid. Ich dachte, es sei nur Audrey, aber Claire scheint ihre Kuppelei-Versuche inzwischen zu unterstützen.«
»Sie bedeuten Ihnen viel.«
»Ja. Das, und außerdem haben wir eine Art Pakt geschlossen.«
»Einen Pakt?« Er sah sie an.
»Also, Sie wissen ja, dass wir alle … mit Brayden zu tun hatten?«
Er nickte.
»Wir wussten es damals nicht. Offensichtlich. Wir haben es erst am Tag seiner Beerdigung erfahren.«
Mein Gott. Oliver zuckte regelrecht zusammen. »Sie haben sich auf seiner Beerdigung kennengelernt?«
»So ungefähr. Wir wollten ursprünglich alle auf seine Beerdigung gehen, fanden uns stattdessen aber im Central Park wieder. Wir trugen dieselben Schuhe, und, na ja, egal, spielt keine Rolle. Wir fühlten uns alle, als habe man uns den Boden unter den Füßen weggezogen, nachdem uns klar geworden war, wie gründlich Brayden uns benutzt hatte, und wir vereinbarten, einander zu helfen, nie wieder in eine ähnliche Falle zu geraten.«
»Das hört sich eher wie ein Anti-Kuppelei-Plan an. Aber Claire und Audrey wollten uns ja beinahe schon zum Händchenhalten animieren, als sie uns zur Tür hinausschoben.«
»Seien Sie nicht so eingebildet – wahrscheinlich wollten sie mich viel eher von Dylan wegbugsieren als in Ihre Arme treiben.«
Das wurmte ihn stärker, als er zugeben wollte, aber ihre Freundinnen hatten recht. Dylan war nicht gut für sie. Oliver hätte ihr das beinahe gesagt, aber sie ergriff als Erste wieder das Wort.
»Wer ist denn heute Abend bei Ihrem Vater?«, fragte sie.
Oliver atmete scharf ein, als er mit einem Mal wieder auf dem Boden der Tatsachen landete. Und ihm klar wurde, dass er sich aufgrund seiner persönlichen Situation gar nicht auf eine Beziehung einlassen konnte. Nicht mit Lilah. Nicht mit Claire. Und definitiv nicht mit Naomi.
Einmal hatte er versucht, eine Frau und seinen Vater miteinander zu vereinbaren. Eine Weile hatte es funktioniert. Seine Ex war freundlich gewesen, sanftmütig … und hatte absolut kein Interesse daran gehabt, mit einem Mann zusammen zu sein, der einen kranken Vater hatte.
»Janice«, beantwortete er ihre Frage. »Sie hat an den Wochenenden meist frei, aber hin und wieder zahle ich ihr etwas extra, um abends mal ausgehen zu können.«
»Wie oft kommt das vor?«
Während sie weiterspazierten, sah er auf sie herab. Die Frage überraschte ihn. »Warum fragen sie das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Kommt mir nur so vor, als sei das alles ziemlich hart. Sämtliche Abende und Wochenenden ihrem Vater zu opfern.«
Sie waren jetzt beinahe an ihrem Wohnhaus angelangt, und obwohl er eigentlich gar nicht wollte, dass dieser Abend endete, war er zuversichtlich, dass sie sich eiligst in die Sicherheit ihrer Wohnung zurückziehen würde, sobald sie einmal drinnen waren. Also blieb Oliver auf dem stillen Bürgersteig stehen.
Sie tat es ihm gleich und sah ihn fragend an.
Ebenso wie sie schob Oliver die Hände in die Taschen in dem Versuch, sich gegen den frischen Herbstwind zu schützen.
»Es ist nicht immer leicht«, bekannte er. »Ich hätte niemals gedacht, dass ich mit dreißig meine Abende an den Wochenenden damit verbringen würde, hartgekochte Eier vom Boden aufzuheben und die wiederholte Frage meines Vaters zu beantworten, ob sein Sohn – also ich – schon vom Fußballtraining zurück ist. Aber …«
Er sah sich kurz um, versuchte sich zu sammeln. »Was soll man machen? Immerhin ist er mein Dad.«
»Vermissen Sie ihn? Ich meine, wie war er vorher?«
Oliver stieß bei dieser Frage den Atem aus, und sie wollte schnell über die Frage hinweggehen. »Tut mir leid. Wir müssen nicht …«
»Er war ein Arschloch«, platzte Oliver heraus.
Seit der Diagnose hatte er schon viele Floskeln gehört, und sogar die engsten Freunde der Cunninghams hatten es nicht gewahrt, die Wahrheit auszusprechen.
Das war vielleicht das Schlimmste daran, dass die Welt den alten Walter Cunningham schlicht und ergreifend vergessen hatte.
»Er war schwierig«, relativierte Oliver seine Aussage etwas. »Fordernd. Selbstsüchtig.«
Naomi blinzelte. »Wow. Das ist …«
»Ehrlich?«, sagte er und lachte auf.
»Ungewöhnlich«, antwortete sie sanft. »Die meisten Menschen, die ich kenne, idealisieren ihre Eltern – zumindest ein bisschen.«
»Das habe ich früher auch gemacht. Als Junge wollte ich sein wie er.«
»Was ist geschehen?«
Oliver zuckte einmal mit den Schultern. »Ich bin erwachsen geworden. Habe eine eigene Persönlichkeit entwickelt und erkannt, wer ich sein wollte.«
Und das war ganz sicher kein arbeitssüchtiger Frauenheld, der so viele Affären gehabt hatte, dass Oliver sich gar nicht mehr an alle erinnern konnte, häufig unter den Augen seiner Frau.
»Und doch sorgen Sie immer noch für ihn«, sagte Naomi, und ihre Stimme hatte einen fragenden Unterton.
»Ja, nun ja. Der Mensch, der ich sein wollte, war keiner, der ein Familienmitglied, das ihn braucht, im Stich lässt.«
»Nobel.«
Er lächelte und machte einen Schritt auf sie zu. »Das klang beinahe wie ein Kompliment.«
»Ach ja?«, fragte sie und schürzte die Lippen. »Da müssen Sie sich verhört haben.«
Er kam noch näher und hätte am liebsten in Siegerpose die Faust in die Luft geworden, als sie nicht zurückwich. »Warum?«, fragte er.
»Warum was?«
»Warum sind Sie so wild entschlossen, mich nicht zu mögen?« Er musterte sie eindringlich, und wieder hatte er dieses eigentümliche Gefühl, dass ihr Gesicht ihm bekannt vorkam, obwohl er eigentlich doch genau wusste, dass er sie noch nie gesehen hatte. Frauen mit einem solchen Gesicht vergaß man als Mann einfach nicht.
Naomi sah ihm unverwandt in die Augen. »Ich habe meine Gründe. Und ich arbeite daran.«
Bei diesen ehrlichen Worten lachte er überrascht auf. »Darf ich die Gründe erfahren?«
Sie reckte das Kinn und beantwortete seine Frage mit einer Gegenfrage: »Warum haben Sie mich in die nächste Bewerbungsrunde gelassen? Der Eigentümerversammlung. Ich war unhöflich zu Ihnen, und trotzdem haben Sie sich dafür ausgesprochen, dass ich hier wohnen durfte. Warum?«
Oliver lächelte und trat sogar noch näher, sodass sie jetzt nur noch wenige Zentimeter trennten. »Ich habe meine Gründe.« Sein Blick fiel auf ihre vollen Lippen. »Und ich arbeite dran.«
Naomi neigte ihm das Gesicht entgegen, und einen Augenblick lang stockte Oliver der Atem. Ein unbekanntes Gefühl überkam ihn. Verlangen, ja. Lust, sicherlich. Aber dieser Augenblick war etwas anderes. Irgendwie voller, als ob diese Frau nicht nur in diesem Augenblick zu ihm gehörte, nicht nur für eine Nacht, sondern für immer.
Sie spürte es ebenfalls. Das wusste er, denn einen Augenblick lang weiteten sich ihre Augen vor Überraschung, dann kniff sie sie misstrauisch zusammen.
Nicht, dachte er frustriert. Wende dich nicht ab.
»Er ist nicht gut für Sie«, platzte Oliver heraus, denn entweder sprach er jetzt aus, was er dachte, oder er küsste sie. Und obwohl Letzteres deutlich verlockender gewesen wäre, sagte ihm sein Instinkt, dass das jetzt nicht der richtige Augenblick war.
»Wer?«
Er warf ihr einen Blick zu. Sie funkelte ihn wütend an.
»Sie kennen Dylan doch nicht einmal.«
»Sie doch auch nicht.«
»Ich …«
»Er hat den halben Abend damit verbracht, Ihren Freundinnen Informationen über Sie zu entlocken. Und als er nicht bekam, was er wollte, fuhr er zum Flughafen, statt Sie nach Hause zu bringen«, erläuterte Oliver.
»Er hat morgen Nachmittag ein Shooting in Dallas.«
»Dann hätte er auch morgen früh noch fliegen können.«
»Ich würde keinen Mann der Welt bitten, für mich seinen Flug zu verschieben.«
Darum solltest du auch nicht bitten müssen. Doch war dieses Bekenntnis wieder ein Puzzleteil. Vielleicht nicht gerade ein Eckstück, aber zumindest ein wichtiges. Es sagte ihm, dass sie es nicht gewöhnt war, wenn Männer ihr die Priorität einräumten.
»Warum haben Sie ihn gebeten, Sie heute Abend zu begleiten?«
Sie zog die Schultern hoch. »Audrey meinte, ich solle ein Date mitbringen.«
Verdammt, Naomi, mach die Augen auf. Ich war doch da.
»Und er versucht immer noch, Sie dazu zu bringen, diesen Vertrag für die TV-Serie zu unterzeichnen?«
»Ja.«
»Und Sie denken ernsthaft darüber nach?«
Sie nickte, aber ihr kurzes Zögern sprach Bände.
Normalerweise hätte sich Oliver auf die Zunge gebissen, aber … sie reizte ihn nun mal bis aufs Blut. Und schließlich hatte er nichts zu verlieren – auch wenn er sich tausend Mal wie der perfekte Gentleman verhalten hatte, hatte er sie noch lange nicht für sich gewonnen.
»Sie haben Angst«, sagte er also.
Sie verkrampfte sich. »Was?«
Oliver machte keinen Rückzieher. »Sie sind ein Feigling. Das ist der Grund, warum Sie sich auf ein Date mit Dylan Day eingelassen haben, aber gleichzeitig zögern, die Serie produzieren zu lassen.«
»Wovon reden Sie überhaupt?« Sie wollte sich abwenden, aber er packte ihren Arm und drehte sie sanft zu sich um.
»Dieser Typ fordert nichts von Ihnen. Nicht Ihren Verstand, nicht Ihr Herz. Er ist leicht, und Sie glauben, dass es das ist, was Sie wollen. Aber im Gegensatz dazu ist diese Fernsehserie, zu der dieser Typ Sie drängt, das genaue Gegenteil von leicht. Sie ist ein Risiko. Denn damit werden Sie öffentlich. Und zwar nicht nur Ihre Arbeit. Sie selbst. Und das macht Ihnen Angst.«
Naomi war sehr still geworden, sah ihn mit großen, unergründlichen blauen Augen an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Sie wissen ja gar nicht, wovon Sie reden. Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Aber er kennt Sie?«
»Sie kennen mich nicht«, wiederholte sie jedes einzelne Wort deutlich artikulierend und riss sich los. »Also halten Sie sich verdammt noch mal aus meinen Angelegenheiten raus.«
Naomi stürmte davon, doch dann drehte sie sich erneut zu ihm um und feuerte einen letzten Schuss ab: »Ich werde diese Fernsehserie machen. Und falls darüber jemals ein Zweifel bestand, Sie werden niemals Teil meiner Lebensgeschichte werden.«