25

Samstag, 3. November

»Ich kann nicht glauben, dass ich mich von dir dazu habe überreden lassen«, sagte Claire und starrte in den Ganzkörperspiegel in ihrem Schlafzimmer. Wütend funkelte sie ihr Spiegelbild an. »Ich dachte, die Tage der Blind Dates lägen hinter mir.«

»Und ich kann nicht glauben, dass ich gerade auf dem Bett sitze, wo du es mit meinem Exfreund getrieben hast«, antwortete Naomi und wippte auf der hellblauen Decke auf und ab.

Claire warf ihr im Spiegel einen Blick zu. »Ernsthaft jetzt?«

»Oh, komm schon«, meinte Naomi. »Darüber müssen wir doch einfach Witze reißen. Er war schließlich nicht mal gut, nicht wahr?«

»Naomi!«

»Was? War er nicht! Es sei denn, es lag an mir …«

Claire streckte die Hand aus und nahm die Mascara aus der Kommode, trat näher an den Spiegel heran, um noch eine weitere Schicht aufzutragen, dann murmelte sie: »Es lag nicht an dir.«

»Ja! Ich wusste es«, rief Naomi und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. »Jetzt, wo ich darüber nachdenke, frage ich mich, warum ich überhaupt so lange bei ihm geblieben bin. Er schien mir nur die richtige Art von Mann zu sein. Nett. Zog den Stuhl zurück. Gebildet. Höflich.«

»Ja. Ich weiß. Immerhin habe ich ihn geheiratet«, bemerkte Claire und trug die Mascara leicht auf ihrem unteren Wimpernkranz auf.

»Stimmt.«

Claire drehte sich zu Naomi um. »Wenn ich das hier mache, erzählst du mir dann, was zwischen dir und Oliver vorgefallen ist? Ich hab grad meine Lieblingsserie beendet und noch keine neue angefangen. Ich brauche unbedingt ein Pärchen, mit dem ich mich identifizieren und hinterher freuen kann, wenn es zusammenkommt, und ich habe beschlossen, dass ihr beiden das seid.«

»Naja, sorry, Baby, da musst du dir jemand anders suchen. Es gibt nichts zu erzählen.«

»Aber er hat dich geküsst. Zweimal.«

»Ja, und wir sind übereingekommen, dass es besser ist, wenn wir nur Freunde bleiben.«

Claire zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Na gut … ich bin ausgerastet, als sein Dad mich als ›Haushaltshilfe‹ bezeichnete, und hatte mit einem Mal Panik, dass wir uns in unsere Eltern verwandeln und ich auf der Straße lande wie meine Mom …«

»Wow, Liebes«, sagte Claire, kam zum Bett hinüber und setzte sich neben sie. »Was sagst du da?«

»Ich weiß.« Naomi presste die Finger an die Schläfen. »Es war ein richtiger B-Movie-Augenblick, das versichere ich dir. Ich trat innerlich einen Schritt zurück, glaubte, dann doch die Kurve kriegen zu können. Aber unterdessen wurde ihm klar, dass er niemanden wie seine Verlobte haben will …«

»Oliver ist verlobt

»Ex-Verlobte. Sie hat ihn verlassen, als sie erfuhr, wie hart es mit Walter werden würde, und jetzt schützt er quasi sich selbst und wahrscheinlich auch seinen Dad. Und ich verstehe ihn, denn Alzheimer ist echt das Schlimmste, und …«

»Okay, nun mal langsam«, sagte Claire und legte Naomi die Hand aufs Knie. »Lass uns erst einmal etwas klarstellen. Was willst du

»Keine Ahnung«, sagte Naomi seufzend, setzte sich auf und stützte die Ellbogen auf ihrer Jeanshose ab. »Ich weiß es nicht mehr.«

»Nun, was wolltest du denn am Anfang?«

»Musst du nicht langsam zu deinem Date?«, fragte Naomi mürrisch.

»Ich habe noch Zeit«, sagte Claire und sah auf die Uhr, die Naomi ihr vor ein paar Wochen geschenkt hatte. »Warum bist du in dieses Gebäude gezogen?«

»Weil ich meiner Mom versprochen habe, die Cunninghams mit dem zu konfrontieren, was sie uns angetan haben.«

»Und hast du das getan?«

Naomi zog die Nase kraus. »Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil es Walter nicht mehr gut genug geht, um das überhaupt noch zu verstehen. Und Oliver …«

»Und Oliver?«, half Claire geduldig nach, als Naomi nicht weitersprach.

»Er ist nicht mehr wie früher«, sagte Naomi und spielte mit einem losen Fädchen auf Claires Decke. »Er ist nicht so, wie ich ihn in Erinnerung habe.«

»Natürlich nicht«, antwortete Claire in Red-keinen-Unsinn-Ton. »Er war damals zehn, Naomi. Die meisten kleinen Jungs sind mit zehn einfach furchtbar. Mädchen ebenfalls. Und ohne deiner Mutter gegenüber respektlos sein zu wollen, ich weiß nicht, ob es gut für dich war, dass sie dir all die Jahre die Ohren über die Cunninghams vollgejault hat. Ja, sein Dad hat etwas Schreckliches getan. Oliver auch. Aber das Ganze ist zwanzig Jahre her. Vielleicht ist es Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, auch wenn deine Mom dazu nie in der Lage war. Wie du schon sagtest, das, was du willst, wirst du von Walter nie bekommen. Und frag dich mal, was du selbst davon hast, wenn du es Oliver insgeheim weiterhin vorhältst.«

»Du meinst also nicht, dass ich es ihm sagen sollte?«

»Oh doch. Du solltest es ihm auf jeden Fall sagen«, antwortete Claire.

Erneut zog Naomi die Nase kraus. »Diese Antwort habe ich erwartet.«

»Ich bin halt weise.«

»Das stimmt, aber du kommst auch zu spät«, meinte Naomi, streckte die Hand aus und drehte Claires Uhr um, um die Zeit ablesen zu können.

»Welchen Lippenstift willst du auftragen? Dezent? Leuchtend?«

Claire zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Du hast den Typen ausgesucht. Was meinst du denn?«

Naomi tippte sich mit den Fingern an die Wange und überlegte. Ihr Beitrag zum Dating-Pakt des Trios war ein ausgesprochen netter Broker, mit dem sie vor längerer Zeit ein- oder zweimal ausgegangen war, mit dem die Chemie aber so gar nicht gestimmt hatte. Er hatte vor einigen Jahren seine Frau durch einen Autounfall verloren, weshalb Naomi davon ausging, dass er Claires Bedürfnis, es langsam angehen zu lassen, respektieren würde.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich so bald nach dem Verlust meines Mannes wieder ein Date habe. Was sollen bloß die Leute denken?«

»Niemand muss es wissen. Und außerdem war dein Mann eine betrügerische Schlange. Egal, was ihm zugestoßen ist, er hat deine Loyalität nicht verdient«, versicherte Naomi und stand vom Bett auf. Sie machte sich auf den Weg in Claires Badezimmer, um die Lippenstift-Optionen durchzugehen.

Claire blickte auf ihre Hände herab und sagte, ohne aufzublicken: »Naomi. Hältst du mich … hältst du mich für … dumm?«

Naomi drehte sich wieder zu ihr um. »Du bist eine Menge, Claire, aber gewiss nicht dumm.«

»Ich meine nicht, weil ich es … vermassele oder so. Ich meine dumm, weil ich denke, dass ich vielleicht noch mal von vorn anfangen kann. Eine zweite Chance bekomme.«

»Mit einer Ehe?«, fragte Naomi.

Claire zögerte, dann nickte sie.

»Pass mal auf, ich glaube nicht an den einen Seelenverwandten. Oder anders gesagt, ich glaube, dass wir viele Seelenverwandte haben. Du wirst jemanden finden, der viel besser für dich ist als Brayden.«

Claire spielte mit ihrem Armband herum, sah Naomi aber immer noch nicht an.

»Was überlegst du?«, forschte Naomi.

»Wenn ich so drüber nachdenke, bin ich gar nicht sicher. Was, wenn ich es nicht will?«

»Nicht will …«

»All das. Liebe. Beziehungen. Zum Teufel, ich bin nicht mal sicher, dass ich den Sex vermisse. Was, wenn ich mit meinen vierunddreißig Jahren diesen Teil meines Lebens hinter mir habe?«

»Was du willst, kannst du auch tun«, sagte Naomi, kehrte zu ihrer Freundin zurück und drückte ihr die Hand. »Aber bis du dich entschieden hast … solltest du dir vielleicht alle Optionen offenhalten?«

Claire hob den Kopf und lächelte verhalten. »Okay, ich versuch’s, wenn … wenn du Oliver Cunningham erzählst, wer du tatsächlich bist.«

»Gebongt.«

»Gut. Aber zumindest darfst du dich nicht länger mit Dylan treffen, Naomi. Da hat Oliver etwas Besseres verdient.«

Naomi runzelte die Stirn. »Wovon sprichst du? Ich habe ihm seit diesem lauwarmen Date nicht mehr gesehen, und die ganzen TV-Angelegenheiten regeln wir per E-Mail.«

»Aber ich habe ihn vor deinem Wohnhaus gesehen. Neulich, als ich dir schrieb und dich fragte, ob du zu Hause seiest, weil ich mit dir einen Kaffee trinken wollte. Du schriebst, dass du in deinem neuen Büro säßest, was übrigens fantastisch klingt …«

»Ja, ja«, Naomi wedelte mit den Fingern, um Claire zu bedeuten, dass sie auf den Punkt kommen sollte. »Was Dylan angeht …«

»Stimmt ja! Also, ich bin ziemlich sicher, dass er es war. Er sprach mit einem älteren Herrn. Erst dachte ich, dass es vielleicht Olivers Dad war, aber dann konnte ich es nicht glauben. Die Vorstellung, dass einer deiner Freunde mit dem Dad eines anderen Freundes spricht, finde ich so abstrus …«

Claire sprach immer weiter, merkte gar nicht, wie Naomi ein mulmiges Gefühl beschlich.

»Bist du sicher, dass er es war?«, unterbrach sie sie. »Dylan, meine ich?«

»Na ja, nun da du fragst, ich habe gewinkt, aber er winkte nicht zurück, sondern ging einfach davon. Vielleicht war er es doch nicht.«

Oder vielleicht wollte er auch nicht, dass jemand von seiner Anwesenheit dort erfuhr.

Naomi griff nach ihrem Handy. »Eine Sekunde, okay?«

Mit der einen Hand hielt sie sich den Magen, mit der anderen das Handy am Ohr und wanderte in Claires Gästezimmer, während sie darauf wartete, dass Dylan abhob. Sie schaffte es nur ein paar Zentimeter in das Zimmer, denn es war mit allerlei Zeugs vollgestopft. Naomi zuckte zusammen, als sie sah, dass es sich um Braydens Klamotten handelte, die achtlos auf dem Bett verteilt oder wütend in Kisten geworfen worden waren.

Und dann zuckte sie zusammen, als ein Mann, der sie viel zu sehr an Brayden erinnerte, ans Telefon ging. »Naomi! Hi! Ich muss sagen, ich war mir ziemlich sicher, dass du mich abservieren würdest«, sagte er mit leisem Lachen.

»Warst du deshalb an meiner Wohnung?«

Sie hielt sich nicht mit der Frage auf, ob er da gewesen war. Ihr Instinkt sagte ihr, dass er es gewesen war – und dass er tatsächlich mit Walter gesprochen hatte.

»Ah …« Sein nervöses Lachen verriet ihn. »Ich bin vorbeigefahren, als ich sowieso in der Gegend war.«

Naomi verdrehte die Augen. »Und hast spontan beschlossen, dich mit meinen Nachbarn zu unterhalten?«

»Ist das ein Verbrechen?« Er klang defensiv. Ein bisschen wie ein bockiger Teenager, den man beim Rauchen erwischt hat. Oder in diesem Fall beim Schnüffeln.

Sie atmete tief ein, dann ließ sie die Luft langsam wieder entweichen. »Du hast es herausgefunden.«

Dylan seufzte gereizt. »Dass du im Augenblick im gleichen Gebäude lebst, in dem deine Mom als Haushälterin arbeitete? Ja, unsere Rechercheure haben das etwa fünf Minuten nach unserem Meeting rausbekommen.«

Seine Stimme klang höhnisch, und sie schloss die Augen, fragte sich, wie sie so blind hatte sein können. Doch sie klammerte sich an die Hoffnung …

»Aber du hast ihnen doch gesagt, sie sollen mich in Ruhe lassen. Bei diesem Meeting …«

»Weil ich nicht deine gefilterte Version der Ereignisse haben wollte. Ich wollte wissen, was tatsächlich vorgefallen ist. Sieh mal, ich weiß, es ist ätzend, aber gutes Fernsehen bedeutet, dass man im Schmutz wühlt. Außerdem hast du den Vertrag schließlich unterschrieben.«

»Ja?«, fragte sie liebenswürdig, um die Wut zu verbergen, die wegen seines Verrats in ihr aufstieg. »Und hast du gefunden, wonach du suchtest?«

»Nein«, bekannte er nach einer kurzen Pause. »Ich kam nicht ins Haus, und der Einzige, der rauskam, war dieser verrückte Alte, der einen Menschen nicht von einem Laternenpfahl unterscheiden kann …«

Naomi sah vor Wut nur noch glühend-weiße Sternchen.

»Woher kriege ich einen neuen Produzenten?«, unterbrach sie sein belangloses Geschwätz.

»Was?

»Einen neuen Produzenten für Max. Wie kriege ich den?«

Er lachte ungläubig auf. »Das meinst du nicht ernst. Was für eine selbstgerechte …«

»Ich arbeite nicht mit Menschen zusammen, die mir von hinten ein Messer in den Rücken rammen. Ich werde meinen Anwalt mit der Angelegenheit betrauen.« Sie legte auf, bevor er etwas antworten konnte.

Sie schloss die Augen und hielt sich die Faust vor die Stirn, konzentrierte sich bewusst darauf, ihre Atmung wieder in den Griff zu bekommen, obwohl blanke Wut sie durchzuckte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Claire leise von der Tür aus.

Naomi ließ die Hand sinken und öffnete die Lider. »Im Großen und Ganzen …«

Claire runzelte die Stirn. »Du klangst aufgebracht. Und stinksauer.«

»Oh, das bin ich auch. Aber ich hatte auch gerade eine Erleuchtung.«

»Ooh, so etwas liebe ich! Welcher Art?«

Naomi lächelte. »Eine von der Art, bei der du erkennst, dass deine Geschichte eine überraschende Wendung nimmt. Und dass du die ganze Zeit über den Falschen für den Bösewicht gehalten hast.«