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Zwei Monate später – Montag, 24. September
Als Naomi Powells Manolo Blahniks den Aufzug in der Maxcessory-Zentrale verließen, tauchten ein paar preiswerte Nordstrom Rack Pumps an ihrer Seite auf. Das synchrone Klicken ihres Gleichschritts war Naomi ebenso vertraut – und lieb geworden – wie die Frau, die diese Schuhe trug.
»Hoffentlich ist das nicht das, wofür ich es halte«, sagte Deena Ferrari und musterte mit zusammengekniffenen Augen die pinkfarbene Kuchenschachtel in Naomis Händen.
»Double chocolate Geburtstagskuchen für meine Lieblingsassistentin«, sagte Naomi und gab ein knutschendes Geräusch in Deenas Richtung von sich.
»Wird ignoriert«, sagte Deena.
»Deinen Geburtstag kannst du nicht ignorieren«, widersprach Naomi, während Deena die Glastür zu Naomis Eckbüro öffnete und ihr hineinfolgte.
»Na ja, in Anbetracht der Tatsache, dass ich das jetzt schon seit fünf Jahren hintereinander tue«, sagte Deena und verschränkte die Arme vor der Brust, sodass ein beeindruckendes Dekolleté aus ihrem Leopardendruck-Wickelkleid herausquoll, »scheine ich das hervorragend zu können.«
»Aber warte, den besten Teil hast du doch noch gar nicht gesehen«, erklärte Naomi, stellte den Kuchen auf den Schreibtisch, warf ihre Hermès-Tasche auf den Stuhl und öffnete schwungvoll die Schachtel.
Deena blieb wie angewurzelt stehen, die Arme störrisch über der Brust gekreuzt. Trotzdem reckte sie den Hals, um zu sehen, was das stand.
Herzlichen Glückwunsch
zum 35.!
Deena, die, wie Naomi sehr wohl wusste, keinen Tag jünger als siebenundvierzig war, grinste. »Na gut, Geburtstag akzeptiert.«
»Dachte ich mir«, meinte Naomi und schloss den Deckel wieder, damit er in den Pausenraum gebracht werden konnte und sich später die Angestellten gemeinsam darüber hermachen konnten.
»Aber kein Lied«, forderte Deena und hob einen rot lackierten und mit Goldglitter verzierten Fingernagel in die Höhe. »Und keine Kerzen.«
»Geschenke?«, fragte Naomi.
»Geschenke nehme ich an. Aber vorher habe ich erst einmal Geschenke für dich …«
Naomi stöhnte, als Deena einen Stapel Klebezettel in die Höhe hielt und mit ihnen hin und her wedelte.
»Du drückst dich«, sagte Deena, als Naomi ihre Tasche wieder hochnahm und sich auf den Stuhl plumpsen ließ.
»Nicht mit Absicht«, widersprach Naomi und rieb sich die Schläfen. »Wenn ich das nächste Mal beschließe, in ein und demselben Monat nicht nur aus meiner Wohnung auszuziehen, sondern auch aus meinen Büroräumlichkeiten, darfst du mich schlagen. Und zwar mitten ins Gesicht. Wie in Desperate Housewives.«
»Mit Vergnügen«, antwortete ihre Assistentin und blätterte ihre Notizen durch.
Wahrscheinlich meinte Deena es ernst. Sie betonte gern, dass sie in einem anderen Leben im Reality-TV mitgemacht hätte, zum Beispiel bei Jersey Shore. Aber obwohl Deena das Drama liebte und man es auf den ersten Blick nie von ihr gedacht hätte, war sie absolut effizient. Vor vier Jahren, nachdem Naomis erste Assistentin sich aus dem Berufsleben verabschiedet hatte, um in Brooklyn ihre beiden Kinder aufzuziehen, war Deena in die Maxcessory-Zentrale marschiert, ohne Termin, ohne Lebenslauf und mit viel zu viel Parfüm.
Deena hatte niemals im Büro gearbeitet und hatte definitiv keine Ahnung vom Tippen – und selbst wenn sie die gehabt hätte, hätten ihre meilenlangen Fingernägel ihr das erschwert. Aber sie, das waschechte Jersey-Girl, hatte etwas, das Naomi mehr respektierte als Erfahrung. Sie hatte Stil.
Deena Ferrari war in ihr Büro stolziert, mit erhobenem Kinn und glitzerndem Lipgloss. Ihr schwarzes Kleid war eng anliegend und atemberaubend gewesen, die Absätze ihrer knöchelhohen Boots himmelhoch. Und obwohl die Frau in jeder Hinsicht speziell war, sah Naomis Adlerauge, das sich stets auf die Accessoire-Auswahl ihres Gegenübers konzentrierte, dass an Deenas Handgelenk genau die richtige Anzahl von Armreifen klimperte. Zudem hatte sie auf eine Halskette verzichtet, um jene Aufmerksamkeit auf ihre Chandelier-Ohrhänger zu lenken, die sie verdient hatten.
Nach unzähligen frischgebackenen College-Absolventinnen mit Kostümchen, die sie eigens fürs Vorstellungsgespräch angezogen hatten, mittelhohen Pumps und langweiligen Standardantworten, war Deena genau jener schwer parfümierte Lufthauch gewesen, den Naomi brauchte. Sie hatte Deena vom Fleck weg engagiert und es nie bereut.
»Was denkt das Team über unseren Umzug?«, fragte Naomi und drehte sich langsam in ihrem Stuhl herum.
Deena zuckte mit den Schultern. »Sie sind aufgeregt. Sosehr sie dich lieben und an Maxcessory glauben, dass sie sich ihre Schreibtische teilen und ständig um die beiden Konferenzräume streiten mussten, war schon ziemlich nervig.«
»Aber ich habe ein schlechtes Gewissen, weil wir zwischen den Pachtverträgen diese monatelange Pause haben«, meinte Naomi.
Deena warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Ernsthaft? Davon, dass dein Boss dir sagt, du musst von zu Hause aus arbeiten, träumt doch eigentlich jeder!«
»Wirklich?«, hakte Naomi erstaunt nach.
»Aber absolut. Konferenzschaltungen im Pyjama und keine elend überfüllte Linie F um sechs Uhr abends an einem Montag? Sie sind begeistert!«
»Ja, na ja, die Begeisterung lässt sicher bald nach, glaub mir«, murmelte Naomi. »Zwei Jahre in meiner winzigen Einzimmerwohnung zu arbeiten, um dieses Unternehmen aus dem Boden zu stampfen, hat mich beinahe umgebracht.«
»Klar, aber du musst zugeben, dass du dir manchmal immer noch wünschst, in Yogapants und ohne BH zu arbeiten.«
Naomi warf Deena einen Blick zu. »Wann hast du denn zum letzten Mal keinen BH getragen?«
Deena ließ ihre pushed-up Doppel-Ds in Naomis Richtung wogen, trotzdem kannte sie Naomis Verzögerungstaktik.
»Halt den Mund und hör dir an, was los ist«, stürzte sich Deena mitten hinein. »Die Umzugshelfer wollen unseren Umzug um drei Tage verschieben, konnten mir aber keinen plausiblen Grund nennen. Ich nehme an, ich kann ihnen sagen, dass sie sich gefälligst an den Vertrag halten oder sich zum Teufel scheren können?«
»Wenn du es anders formulierst, ja.«
»Die Reinigung hat angerufen. Sie konnten den Wasabi-Fleck nicht aus deiner weißen Bluse mit der Schleife rauskriegen.«
»Verdammt«, murmelte Naomi. »Dabei liebe ich diese Bluse.«
»Kommenden Freitag hast du deine jährliche Kontrolluntersuchung beim Gynäkologen, am Dienstag eine Massage, und deine Friseurin musste deinen Termin von Mittwoch auf Freitag verschieben … steht alles in deinem Kalender …«
Deena legte die Klebezettel vor Naomi hin, denn sie hatte mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass Naomi ihre Aufgaben eher im Kopf behielt, wenn sie sie buchstäblich vor Augen hatte.
»Claire hat angerufen«, fuhr Deena fort. »Wollte dich erinnern, dass ihr euch heute Abend um sechs bei Audrey trefft, vor dem Film …?«
Deenas Ton klang fragend, und Naomi wusste, dass ihre Assistentin sagenhaft neugierig auf die beiden Frauen war. Sie waren im Sommer scheinbar aus dem Nichts in Naomis Leben aufgetaucht und innerhalb von zwei Monaten zu guten Freundinnen avanciert.
Naomi gab keine Antwort auf die Frage, die Deena nicht stellte. Intuitiv vertraute sie Deena, hielt Deena für eine treue Freundin. Aber es gab einfach ein paar Dinge, die man anderen nicht erklären konnte. Die Tatsache, dass man sich mit der Ehefrau und der Freundin des verstorbenen Geliebten angefreundet hatte, gehörte dazu.
Naomi, Claire und Audrey hatten von ihrer gegenseitigen Existenz zwar bis zu Braydens Beerdigung nichts geahnt, aber sie hatten die verlorene Zeit nachgeholt, indem sie häufig zusammen brunchen gegangen waren oder Weinabende miteinander verlebt hatten. Naomi gefiel die Vorstellung, dass die Tatsache, dass die drei Frauen, die Brayden Hayes betrogen hatte, sich miteinander verbündet hatten, ihn auf seinem Platz in der ersten Reihe der Hölle quälte.
Deena kam auf ihren nächsten Notizzettel zu sprechen. »Dylan Day hat wieder angerufen. Bescheuerter Name, aber …«
Naomi ließ ihren Kopf vor Ärger mehrfach gegen die Stuhllehne knallen. »Dieser Kerl lässt mich einfach nicht in Ruhe!«
»Meiner bescheidenen Meinung nach solltest du dich drauf einlassen«, meinte Deena.
»Das sähest du anders, wenn es dein Leben wäre, das zu einer TV-Serie verwurstet werden soll«, murmelte Naomi.
»Au contraire«, widersprach Deena und wackelte mit ihren Augenbrauen. »Ich zähle darauf, dass du deine italienische Diva von einer Assistentin zu einem integrativen Bestandteil deines Erfolgs machst.«
»Du weißt, dass sie dich nicht dich selbst spielen lassen werden, oder? Sie zielen auf eine dieser ›basierend auf einer wahren Geschichte‹ Storys ab, nicht auf einen Dokumentarfilm.«
»Warte, bis er mich kennenlernt«, sagte Deena zuversichtlich. Dann runzelte sie die Stirn. »Warte, er ist doch nicht schwul, oder? Das würde meine Chancen mindern.«
»Keine Ahnung.«
»Na ja, was sagt dir dein Gaydar? Ist nicht so gut wie meins, aber wenn er offensichtlich schwul ist …«
»Keine Ahnung, ich hab ihn doch noch gar nicht kennengelernt.«
Deena blieb der Mund offen stehen. »Aber der Sender ist doch schon seit Wochen deshalb hinter dir her.«
Naomi zuckte mit den Schultern. »Ich bin ihnen ausgewichen.«
»Aber warum? So entstehen nun mal Legenden, Baby. Du könntest gut und gern als Netflix-Serie durchgehen.«
Vielleicht. Aber die Naomi-Powell-Story war wohl kaum das Märchen, das sie sich erhofften. Oder vielleicht doch? Nur die ersten Jahre waren erheblich düsterer als Cinderellas Geschichte. Und in den späteren Stadien war keinerlei Prince Charming in Sicht.
»Ich rufe ihn zurück«, sagte Naomi entschieden, suchte nach dem entsprechenden Klebezettel und signalisierte Deena damit, dass die Unterhaltung beendet war. Vorläufig.
»Letzte Nachricht«, verkündete Deena und überflog das letzte pinkfarbene Post-it in ihrer Hand. »Die ist komisch. Irgendeine Frau hat angerufen und gesagt, dass dir ein Gespräch mit dem Ausschuss der Eigentümerversammlung gewährt würde. Ich dachte, du hättest deine neue Wohnung bereits gefunden?«
Naomi runzelte die Stirn. »Stimmt. Ich habe letzte Woche den Vertrag für diese Eigentumswohnung in Tribeca unterzeichnet. Hat Ann denn angedeutet, dass es irgendein Problem gibt?«
»Es war nicht Ann. Die Frau heißt Victoria, und das Apartment, von dem sie sprach, lag auf der Upper East Side, nicht in Tribeca.«
Naomi zog die Nase kraus. »Upper East Side?«
Nach ihrer Erfahrung mit Brayden wollte sie mit diesem eingebildeten, alteingesessenen, reichen Teil Manhattans nicht zu tun haben.
Deenas braune Augen überflogen den Zettel. »Yep. Die Adresse lautet 517 Park Avenue?«
Naomi hatte ihren Drehsessel langsam hin und her schwingen lassen, aber jetzt erstarrte sie. Das war die Adresse. »Was hast du gesagt?«
Naomi hörte selbst, wie scharf ihre Stimme klang, und auch Deena entging es nicht, denn sie warf Naomi einen erschrockenen Blick zu. »Du kennst es?«
Ja, sie kannte die Adresse, ganz sicher sogar.
Und genau so ein schlüpfriges Detail ihrer Vergangenheit wollte Dylan Day schließlich ausschlachten.
Dabei hatte Naomi über ein Jahrzehnt lang versucht, diesen Teil zu vergessen und hinter sich zu lassen.