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Samstag, 6. Oktober

Oliver hatte keine Schwestern, aber im Laufe seines Lebens hatte er genug Freundinnen gehabt, um zu wissen, wann er sich auf gefährlichem Terrain bewegte. Und unversehens in einen Mädelsabend zu platzen gehörte zu solchen Situationen.

Die hübsche Brünette, die ihm die Tür geöffnet hatte, schien recht freundlich zu sein. Sie war groß und schlank und besaß eine kultivierte Schönheit, die ihn an die Mädchen erinnerte, mit denen er auf die Privatschule gegangen war. Glücklicherweise war ihr Lächeln jedoch echt und erfrischend frei von dem Snobismus, den er so häufig bei denen sah, die er insgeheim als »Stirnreifträger« bezeichnet hatte: Mädchen, deren vornehmstes Ziel darin bestanden hatte, glänzendes Haar zu haben, zur Ivy League zu gehören und reich zu heiraten.

Aber während die Brünette freundlich war, wirkte die Rothaarige, die er immerhin heute hatte besuchen wollen … na ja, als wolle sie ihm den Bauch aufschlitzen.

Wenn Naomi Powell bei ihrem ersten Zusammentreffen in der vergangenen Woche von seiner bloßen Existenz überrascht und verärgert gewesen war, sah sie heute aus, als sei sie mit der Zeit zu dem Schluss gekommen, dass sie ihn nur noch mehr verabscheute.

Dieser Gedanke war faszinierend. Und leicht verwirrend. Um die Wahrheit zu sagen, Oliver war nicht daran gewöhnt, dass die Leute ihn nicht mochten. Eines Tages hatte er seine Mutter zu Ruth sagen hören, dass sie beinahe dankbar dafür war, dass er als Kind so eine Plage gewesen sei, weil er sich die üblen Seiten seiner Persönlichkeit dadurch schon frühzeitig ausgetrieben habe. Wahrscheinlich hatte sie damit recht. Er war als Junge ein ziemlicher Mistkerl gewesen, aber auf der Highschool hatte er herausgefunden, wer er war – oder besser, wer er sein wollte –, und hatte aufgehört, der sprichwörtliche Alptraum eines jeden Schulhofs zu sein. Jetzt fand er sich eigentlich absolut umgänglich, wenn auch vielleicht ein wenig reserviert und sarkastisch.

Naomi Powell schien da anderer Ansicht zu sein. Sie musterte ihn aus verengten blauen Augen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als hätte er ihr eine Ratte aus der U-Bahn mitgebracht und keinen ziemlich teuren Champagner.

»Oliver?«

Er löste den Blick von der unerklärlich erzürnten Rothaarigen und bemerkte endlich die dritte Frau im Zimmer. Er blinzelte, ging schnell seinen mentalen Rolodex durch und fand einen Namen. »Claire. Wie geht es Ihnen?«

Dann zuckte er zusammen, denn ihm fiel ein, was er über Claire Hayes wusste. Was für eine beschissene Frage an eine Frau, die gerade verwitwet war.

»Die Nachricht von Brayden hat mir sehr leid getan«, sagte er, ging zu ihr hin, stellte den Champagner auf den Tisch und nahm ihre Hände in die seinen.

Sie drückte sie und schenkte ihm ein kurzes, gezwungenes Lächeln. »Danke.«

»Ihr beiden kennt euch?«, fragte Naomi und klang äußerst ungehalten über diese Tatsache.

»Flüchtig«, erklärte Claire. »Oliver und ich …« Sie sah ihn an. »Hm, woher kennen wir uns eigentlich?«

Oliver kratzte sich die Wange und dachte nach. Claire und ihr Mann Brayden gehörten nicht wirklich zu seinem Freundeskreis, aber sie hatten sich immer ganz gut verstanden, wenn sie sich bei Wohltätigkeitsveranstaltungen oder auf Partys getroffen hatten. Die Kreuz- und Querverbindungen innerhalb der New Yorker Elite waren manchmal ein wenig inzestuös – jeder kannte jeden –, aber nur selten wusste man, woher man sich kannte.

»Rob Eagel?«, riet Oliver auf gut Glück.

Claire schnippte zustimmend mit den Fingern. »Ja. Er hat mit Brayden zusammengearbeitet.«

Oliver deutete auf sich selbst. »Mit Rob gehe ich zum Pokern.«

Er verschwieg die Tatsache, dass Brayden ebenfalls hin und wieder an den Pokerabenden teilgenommen hatte. Er bezweifelte, dass seine frischgebackene Witwe hören wollte, dass ihr verstorbener Gatte normalerweise große Summen verloren hatte, bevor er betrunken verkündete, dass er jetzt zu seiner Geliebten gehen würde.

»Woher kennen Sie sich denn alle?«, fragte er höflich, aber auch neugierig. Er und Claire waren bei ihren diversen Zusammentreffen nie über Smalltalk hinausgekommen, trotzdem fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, dass die ruhige, sanftmütige Claire Naomi nahestand. Die eine war freundlich und hatte ein angenehmes Sozialverhalten, die andere war, soweit er es sehen konnte, schrullig und sprunghaft.

Es entstand ein langes Schweigen, und Oliver entging der bedeutungsschwangere Blick, den die drei Frauen tauschten, keineswegs. Er konnte ihre stille Kommunikation nicht deuten, aber Claire anscheinend schon, denn sie nickte Naomi ganz leicht zu, die ihm das süßeste Lächeln schenkte, das er je gesehen hatte.

Sofort war Oliver auf Habachtstellung. Ein süßes Lächeln von dieser Frau kam ihm beinahe wie eine gezückte Waffe vor.

»Audrey und ich haben mit Claires Mann geschlafen.«

Oliver blinzelte, hatte Mühe, das zu verarbeiten. Naomis Lächeln wurde sogar noch süßlicher. Und gefährlicher. Mit einem Kopfnicken deutete sie auf den Champagner und ließ die Lider flattern. »Ist der für mich?«

Er sah auf den Dom Pérignon hinab, immer noch zu verblüfft über die Bombe, die sie hatte platzen lassen, um etwas anderes tun zu können, als ihr wortlos die Flasche hinzuhalten.

»Wie handhabt man so etwas in der High Society?«, fragte Naomi mit gekünstelter Stimme, nahm die Flasche und hielt sie in die Höhe. »Erwartet man von mir, dass ich sie gleich öffne, damit wir sie alle genießen können, oder wäre es ein Faux Pas, sie nicht für eine besondere Gelegenheit aufzubewahren?«

»Machen Sie sie auf«, befahl Oliver etwas ungehalten. Eigentlich sogar unhöflich. Aber zum Teufel, jetzt brauchte er einen Drink.

Brayden Hayes und Naomi hatten eine Affäre gehabt? Und die Frau, die die Tür geöffnet hatte?

Und alle drei Frauen waren … Freundinnen?

Sicherlich hatte Naomi ihn veralbert. Aber ein schneller Blick auf Claire und die Brünette zeigte, dass sie das wohl nicht getan hatte. Die Brünette hatte Mitleid mit ihm und trat mit ausgestreckter Hand einen Schritt vor. »Hi, ich bin Audrey Tate. Brayden und ich gingen beinahe ein Jahr miteinander aus, bevor er starb. Ich hielt ihn für die Liebe meines Lebens – aber augenscheinlich war er eher eine Geißel des Frauengeschlechts.«

Oliver lachte unwillkürlich auf, während Naomi den Korken knallen ließ. »Wir können nur aus Kaffeetassen trinken. Ist das ein Problem?«

Das war eher als Provokation denn als Frage gedacht, und Oliver war wütend, weil sie ihn offensichtlich als Snob einordnete. Also bediente er ihre Erwartungen.

»Dom Pérignon aus der Tasse? Wohl kaum. Ich werde gleich mal nach nebenan gehen und die geeigneten Stielgläser holen.«

Wortlos hielt sie seinem Blick stand, drehte langsam und bewusst die Flasche um und goss ohne viel Federlesens einen großzügigen Schluck Champagner in die Porzellantasse. Ihre kastanienbraunen Augenbrauen wölbten sich herausfordernd, als wolle sie einen Kommentar provozieren.

Aber er ignorierte sie vollkommen und wandte sich wieder an Audrey. »Ich bin Oliver Cunningham. Ich wohne nebenan und hatte keinen Sex mit Brayden Hayes.«

Sie lachte. »Na ja, da sind Sie hier wohl der Einzige.«

Ohne es zu wollen, sah Oliver zu Naomi hinüber, die in einer Umzugskiste herumkramte und noch mehr Tassen, aber keine Weingläser daraus hervorzog. Selbst wenn sie irgendwelche Champagnerflöten gefunden hätte, hätte sie sie vermutlich ignoriert, um ihn zu ärgern.

»Yep«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Ich war Braydens Hure.«

Claire atmete hörbar aus. »Naomi.«

»Na, vielleicht nicht?«, fragte Naomi und hob den Kopf. »Ich meine, du warst mit ihm verheiratet. Und mit Audrey hatte er wenigstens richtige Dates. Aber ich?« Sie zuckte mit den Schultern, und obwohl Oliver wusste, dass es ihn nichts anging, faszinierte ihn die Frage, wie sie diesen Satz beenden würde, mehr als es der Fall hätte sein sollen.

Der Gedanke, dass Naomi Powell und Brayden Hayes es miteinander getrieben hatten, war … Nein. Das wollte er sich gar nicht vorstellen.

Und die Vorstellung von Naomi Powell nackt …

Nein, dieses Bild wollte er ebenfalls nicht im Kopf haben. Sie war das genaue Gegenteil seines Typs. Er hatte zwar für sie als Mitbewohnerin in diesem Gebäude gestimmt in der Hoffnung, dass sie eine Ablenkung darstellen würde, aber nicht eine von der nackten Sorte, mit der man im Bett landete.

Allerdings: Wenn sie weiterhin so eng anliegende Jeans trug, würde er darüber noch einmal nachdenken müssen.

»Nun, das wäre also geklärt«, sagte Audrey, klatschte in die Hände und wollte die Tassen mit dem Champagner holen, die Naomi gerade fertig eingegossen hatte. »Sollen wir anstoßen? Auf Naomis neue Wohnung und ihren gutaussehenden, neuen Nachbarn? Wie lange wohnen Sie hier schon, Mr Cunningham?«

»Oliver«, sagte er lächelnd, nahm die klobige weiße Tasse entgegen und dachte, dass dies das erste Mal war, dass er Champagner aus einem anderen Material als aus Kristall trank. Plötzlich kam er sich doch sehr wie der hochnäsige Snob vor, für den Naomi ihn anscheinend hielt. Und seine nächsten Worte waren eine weitere Bestätigung: »Und ich wohne tatsächlich schon Zeit meines Lebens hier.«

Diese Erkenntnis war ein wenig verstörend. Oliver hatte sich selbst nie für einen Snob gehalten, aber nun, da er sich durch Naomi Powells hasserfüllte Augen sah, musste er zugeben, dass er schon ein wenig … kauzig war.

»Tatsächlich!«, rief Audrey. »Naomi hat uns gerade erzählt, dass sie …«

Audrey brach mitten im Satz ab, und man musste kein Hellseher sein, um den Grund zu erkennen. Und so erfrischend es war, dass Naomis Todesblick sich jetzt auf jemand anders als ihn selbst richtete, so neugierig war er doch auf das, was Audrey gerade hatte sagen wollen.

Claire überspielte den peinlichen Moment. »Danke vielmals für die Blumen, die Sie nach Braydens Tod geschickt haben.«

Oliver zerrte leicht an seiner Krawatte. »Ehrlich gesagt, hätte ich gewusst, wie er Sie behandelt hat, hätte ich vielleicht ein weniger aufwändigeres Gesteck gewählt. Und ich – ach zum Teufel, das hier ist ganz schön peinlich, was?«

Claire lachte. »Stimmt, aber selbstsüchtig muss ich gestehen, dass es auch erfrischend ist. Außer mit Naomi und Audrey konnte ich bisher mit niemandem über Braydens wahres Wesen sprechen. Wahrscheinlich haben viele Leute einen Verdacht, aber alle erwähnen lediglich die Tragödie seines Ablebens. Nicht, dass ich schlecht von Toten reden möchte, aber …«

»Oh, na los doch«, rief Naomi. »Ich tue das sehr wohl.«

»Was für eine Überraschung«, murmelte Oliver.

Sie ignorierte ihn. »Aber ernsthaft, Claire, du solltest nicht zulassen, dass die Leute mit dir reden wie mit einem Opfer. Du hast dein Leben zurück.«

»Ja, aber auf Kosten des seinen«, antwortete Claire leise.

Naomi seufzte, dann ging sie zu Claire hinüber und legte ihr den Arm um die Schultern. »Du hast recht. Ich bin eine Bitch.«

»Nein«, widersprach Claire im gleichen Augenblick, in dem Oliver Yep! dachte. »Du bist einfach nur … na ja, sagen wir, ich bin eifersüchtig auf dich. Du hast dein Unternehmen, das dich in Atem hält, eine neue Wohnung, die dich ablenkt …«

Claire warf Oliver einen Blick zu. »Tut mir echt leid. Das haben Sie wahrscheinlich nicht erwartet, als Sie herüberkamen, um Ihre neue Nachbarin zu begrüßen.«

»Definitiv nicht«, bekannte er. »Aber ich bin froh, dass Sie beide dabei sind. Ich fürchte, ohne Zeugen würde Ms Powell dieses Cuttermesser in ihrer Tasche einer tödlichen Bestimmung zuführen.«

Audrey lachte. »Naomi kann keiner Fliege etwas zuleide tun.«

»Einer Fliege vielleicht nicht«, bemerkte Naomi und warf ihm einen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht annähernd so sicher war wie besagte Fliege.

»Na gut, ich geb’s auf«, sagte er und breitete die Hände zu beiden Seiten aus. »Was habe ich getan, Ms Powell? Was an mir hat mich auf Ihre schwarze Liste geraten lassen, bevor ich überhaupt Ihren Namen kannte?«

Er sah, wie Audrey und Claire einen Blick wechselten, dann tippte Claire auf ihre Armbanduhr. »Oh mein Gott. So spät haben wir schon? Audrey, wir müssen los, wenn wir uns noch diesen Film ansehen wollen.«

»Wirklich?«, fragte Naomi, und ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, was sie von der fadenscheinigen Ausrede der Freundin hielt, um aus der Wohnung zu kommen. »Was denn für ein Film?«

Claire und Audrey nannten gleichzeitig zwei verschiedene Filme, und Naomi verdrehte die Augen. »Ich dachte, Ihr beiden helft mir beim Auspacken.«

Audrey schlang sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und hielt ihre Finger in die Höhe. »Ich hab’s versucht, wirklich, aber ich habe das Maximum dessen erreicht, was ich leisten kann, ohne mir einen Nagel abzubrechen.«

Claire wirkte nicht mehr ganz so sicher, ob sie Oliver und Naomi wirklich allein lassen sollte, aber da zerrte Audrey sie auch schon zur Tür.

»Was ist mit eurem Champagner?«, rief Naomi. »Ich bin sicher, dass es in dieser Gegend als Schwerverbrechen gilt, einen Dom stehen zu lassen. Ihr lauft Gefahr, deshalb verhaftet zu werden. Oliver hier hat die Nummer der Etikettenpolizei sicher auf Kurzwahl eingespeichert.«

»Den könnt ihr beiden austrinken. Vielleicht erinnern dich die noblen Bläschen ja auch irgendwann an deine Manieren«, sagte Audrey und sah Naomi vielsagend an.

»Oh, haben Sie denn welche?«, fragte Oliver und wandte sich Naomi zu.

»Na, schließlich sind Sie ja kein geladener Gast«, fauchte sie und sah ihn an. »Sie sind einfach hier reingeschneit mit ihrem edlen Gesöff und Ihrem Stock im Arsch …«

Mit einem Klicken fiel die Tür ins Schloss. Audrey und Claire waren gegangen.

Naomi deutete anklagend zur Tür. »Schauen Sie doch nur, was Sie getan haben.«

»Ich?« Er stellte seine Tasse auf einem Kistenstapel ab, stemmte die Hände in die Hüften und wandte sich ihr jetzt vollends zu. »Sie haben sich seit dem ersten Augenblick unseres Zusammentreffens wie ein bockiges Kind benommen. Erzählen Sie mir doch mal, womit genau ich Sie dermaßen beleidigt habe.«

Sie öffnete den Mund, aber er war noch nicht fertig und preschte weiter voran.

»War es der Champagner, den ich mitgebracht habe? Die Tatsache, dass ich Sie als neue Nachbarin willkommen geheißen habe? Dass Sie ohne meine Stimme hier gar nicht wohnen würden? Für welches meiner vielen Verbrechen werde ich hier gerade bestraft?«

Sie trank einen großen Schluck des Dom Pérignon, als handele es sich um alkoholfreies Bier aus dem Pub um die Ecke. Dann stellte sie die Tasse ab und griff in ihre Hosentasche, aus der sie das orangefarbene Cuttermesser zog.

Mit dem Daumen ließ sie die Klinge ausfahren, und er warf ihr einen weiteren Blick zu.

»Echt jetzt? Wollen Sie mir drohen?«

Statt zu antworten, wandte Naomi sich der nächsten Kiste zu und ließ die Klinge mit mehr Kraft als nötig über das Klebeband gleiten. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich muss auspacken.«

Sie ließ die scharfe Klinge wieder einschnappen, schob das Messer wieder in die Hosentasche zurück und drehte ihm den Rücken zu. Er war eindeutig entlassen. Und das machte ihn stinksauer. Einem Instinkt folgend stapfte Oliver zu ihr hinüber und zog das Messer aus ihrer Tasche, wobei es ihm so gar nicht leidtat – sorry! –, dass die Rückseite seiner Finger dabei ihren jeansbekleideten Hintern berührten.

Naomi wirbelte zu ihm herum, die Augen ungläubig und wütend, aber diesmal war er es, der die Klinge wieder hinausschob. Die Geste repräsentierte eine Verschiebung der Machtverhältnisse, und das wussten sie beide.

Er nippte noch einmal an seinem Champagner, stellte die Tasse auf den kleinen Küchentisch neben Audreys und Claires verlassene Tassen. Dann öffnete er langsam und genüsslich eine der Kisten mit der Aufschrift KÜCHE.

»Was machen Sie denn da?«

»Sie haben gesagt, dass Sie auspacken müssen. Wozu hat man Nachbarn?«

»Um die Zeitung einzusammeln, wenn man verreist ist, und keine laute Musik nach 22 Uhr zu spielen«, sagte sie und schnappte ihm den Cutter aus der Hand.

»Das kann ich auch«, sagte er, hob ein schweres Bündel, das in Küchenpapier eingeschlagen war und wickelte es aus. Darin verbargen sich Gabeln. »Wohin räumen Sie Ihr Besteck?«

»Gehen Sie«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Erst wenn Sie mir sagen, warum Sie mich hassen«, antwortete er, umrundete sie, ging in die Küche und öffnete die Schubladen, bis er eine fand, die einen anscheinend nagelneuen Besteckeinsatz enthielt. Er legte die Gabeln in ein Fach und kehrte zum Karton zurück, aus dem er ein ähnlich geformtes Bündel herauszog.

»Das ist die kindischste Unterhaltung, die ich seit Jahren geführt habe«, meinte Naomi, fuhr sich mit der Hand übers Haar und funkelte ihn wütend an, während er die Teelöffel neben ihren Gabeln platzierte.

Oliver zuckte mit den Schultern. Kein Widerspruch. Obwohl er überrascht feststellte, dass er sich, so lächerlich die ganze Situation auch war, prächtig amüsierte. Er hatte für Naomi Powell als neue Bewohnerin gestimmt in der Hoffnung, dass sie eine Ablenkung darstellen würde, und bislang machte die Frau das großartig.

»Wissen Sie, dass ich noch nie in dieser Wohnung war?«, fragte er und sah sich um.

»Das überrascht mich nicht. Sie hat den kleinsten Grundriss im ganzen Gebäude, stimmt’s?«

»Ja, und die Wände bestehen in dieser Wohnung auch nicht aus Gold«, sagte er und wanderte in die Richtung der anderen Räume. »Und eine Gelddruckmaschine fehlt auch. Blöd.«

Ungeniert betrat er eines der Zimmer. Das dazugehörige Bad sagte ihm, dass dies das Hauptschlafzimmer sein sollte. Sie folgte ihm, blieb im Türrahmen stehen, und er zog die Augenbrauen hoch. »Kingsize Matratze. Ziemlich viel Bett für eine alleinstehende Frau«, sagte er, nur um sie zu provozieren.

Sie schenkte ihm ein Lächeln, das ihn an eine zufriedene Katze erinnerte. »Wer hat gesagt, dass ich Single bin?«

Die Erwähnung ihres Liebeslebens erinnerte ihn an die Bombe, die Naomi eben hatte platzen lassen. »Also. Brayden Hayes, hm?«

Ihr Lächeln verblasste. »Steht nicht zur Diskussion.«

»Sie haben die Sache doch selbst zur Sprache gebracht«, bemerkte er.

Sie warf ihm einen eisigen Blick zu und wandte sich ab, aber er packte sie am Arm, selbst ein wenig überrascht von seinem Verhalten. Trotzdem ließ er sie nicht los. »Ich bin kein schlechter Mensch, Naomi.«

Naomi schwieg stur und richtete den Blick bewusst auf die Stelle, wo er ihren Arm festhielt.

Oliver seufzte und gab auf, ließ sie los. »Na gut, es ist ein paar Jahre her, dass ich einen kindischen Erzfeind hatte, aber wenn Sie unbedingt wollen, dann kann ich mich drauf einlassen. Nur damit ich die Regeln kenne, ist das hier ein kalter Krieg, der mit Streichen und jeder Menge Geschrei einhergeht … soll ich auf dem Schulhof erst auf den Ball spucken, bevor ich ihn Ihnen an den Kopf werfe?«

Irgendetwas flackerte in ihrem Blick, aber bevor er so genau wusste, was es war, wandte sie sich wieder ab.

Oliver folgte ihr zurück ins Wohnzimmer, aber statt ihr weiter beim Auspacken des Bestecks zu helfen, ging er zur Tür.

»Genießen Sie Ihre Einsamkeit, Ms Powell.«

Er trat in den Flur hinaus und schloss die Tür, noch bevor sie eine Antwort geben konnte – obwohl er ziemlich sicher war, dass sie keineswegs die Absicht hatte, überhaupt etwas zu ihm zu sagen.

Oliver stürmte in sein eigenes Apartment zurück und fühlte sich wütender, aber auch lebendiger als seit Monaten. Was für ein verdammtes Problem hatte diese Frau, fragte er sich und riss die Tür seines Kühlschranks auf, nur um sie gleich wieder zuzuknallen, als er sah, dass er leer war.

Er hatte durchaus schon einige Männerhasserinnen kennengelernt, aber das hier schien auf etwas Persönliches zurückzuführen zu sein.

Oliver holte sein Handy heraus und überlegte, ob er sich etwas bestellen sollte, als es laut und geschäftsmäßig an seine Tür klopfte. Er sah durch das Guckloch, entdeckte niemanden und öffnete die Tür.

Gerade noch rechtzeitig, um zu hören, wie sich die Tür seiner Nachbarin schloss.

Oliver blickte nach unten. Zu seinen Füßen stand eine weiße Kaffeetasse mit Champagner – anscheinend hatte sie nachgeschenkt, denn die Tasse war voller als eben. Daneben stand ein Teller, der mit einer Anzahl Käsedelikatessen beladen war.

Er blickte nach rechts, den verlassenen Flur hinab, dann lächelte er verhalten, beugte sich herab und sammelte alles ein. Er stellte Tasse und Teller auf seine Kücheninsel und klappte die Karteikarte auf, auf die sie etwas geschrieben hatte:

Ich hab in den Champagner keineswegs gespuckt.

– N.

Oliver grinste über das widerwillige Friedensangebot und trug Käseplatte und Champagner zu seinem Couchtisch hinüber, wo er den Fernseher einschaltete. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, ob er den Dom Pérignon in eines der Waterford Champagnergläser, die seine Mutter ihm zum Einzug geschenkt hatte, umfüllen sollte.

Er entschied sich dagegen. Es stellte sich heraus, dass der Champagner aus der Tasse viel besser schmeckte.