31

Samstag, 1. Dezember

»Ich weise nur darauf hin, dass wir erst weniger als sechs Monate Freundinnen sind, ich dir aber schon zweimal beim Umzug geholfen habe. Dafür müsste es eigentlich einen Preis geben.«

Claire hielt im Auspacken einer Servierplatte inne und warf Audrey einen ungläubigen Blick zu. »Dir ist schon klar, dass helfen in deinem Fall eine glatte Übertreibung ist, oder?«

»Hey, ich mache doch durchaus etwas«, protestierte Audrey und hob ihr Weinglas, das sie auf Naomis Küchenablage gestellt hatte. »Ich habe diesen süßen Jungs gesagt, wo sie die Kommode hinstellen sollen.«

»Damit hast du mir das Leben gerettet«, meinte Naomi und tätschelte der Freundin das Knie.

»Nicht wahr? Aber diese Wohnung gefällt mir echt total. Ich meine, die andere war auch okay, aber ich fand sie trotzdem merkwürdig. Sie passte nicht zu dir. Und im Flur roch es nach Mottenkugeln.«

»Ein bisschen«, pflichtete Naomi ihr bei und riss eine weitere Umzugskiste mit der Aufschrift KÜCHE auf, um ihren Pastatopf herauszuholen.

»Die hier entspricht dir viel eher«, sagte Audrey, hüpfte von der Küchenplatte und drehte sich einmal um die eigene Achse.

»Wie viel Wein hast du schon intus?«, murmelte Claire.

»Genug.« Audrey ging zu dem Fenster hinüber, von dem aus man Ausblick über den Hudson River hatte. »Weißt du, dass ich fast nie zur West Side komme?«

»Nein«, rief Claire in entsetztem Ton. »Wir sind schockiert. Einfach nur schockiert, nicht wahr, Naomi?«

Naomi lächelte nur, genoss das gutmütige Gezänk ihrer Freundinnen, denn dadurch wurde sie von ihren eigenen Gedanken abgelenkt.

Nicht, dass ihr ihre neue Wohnung nicht gefiel. Audrey hatte absolut recht. Sie passte besser zu ihr. Ein nagelneues Hochhaus im Westen Manhattans in einer todschicken Gegend. Naomis neue Bleibe war das genaue Gegenteil von 517 Park Avenue mit seinen makellosen Stammbäumen und dem altehrwürdigen Reichtum.

Naomi stand eher für eine neue Art von Wohlstand. Nicht den von der Pelzmantel- und Scotch-Sorte. Sie trank immer noch billigen Wein aus billigen Gläsern und konnte »guten Kaffee« immer noch nicht von schlechtem unterscheiden, denn gut war er für sie nur, wenn genug Zucker drin war …

Aber sie war erfolgreich. Sie war finanziell abgesichert, mehr als das. Sie war glücklich.

Na ja. Beinahe glücklich.

Irgendwie glücklich.

Sie würde irgendwann glücklich sein, verdammt.

Sie vermisste Oliver.

Sie wickelte eine Bratpfanne aus und bemerkte dabei, dass Claire auf die Uhr sah. Zum fünften Mal in weniger als zwanzig Minuten.

»Claire.«

»Hmm?«

»Willst du irgendwo hin?«

»Nein! Nein, gar nicht, wirklich nicht.«

»Hm, vielleicht müsstest du das, wenn du Naomis Blind Date eine Chance gegeben hättest.«

»Ich hab dir doch schon gesagt, er war nett. Ich habe mich durchaus mit ihm amüsiert. Und mindestens das ganze nächste Jahr habe ich nicht die Absicht, noch einmal mit jemandem auszugehen, weder mit ihm noch mit sonst jemandem«, meinte Claire.

»Warum ein Jahr?«

»Ich habe beschlossen, dass dies der angemessene Zeitrahmen für eine Witwe zum Trauern ist, bevor sie sich wieder aufs Dating-Pferd setzt.«

»Ich gebe es nur ungern zu, aber du hattest die ganze Zeit über recht«, stimmte Naomi niedergeschlagen zu. »Ich hätte ebenfalls ein Jahr warten sollen. Vielleicht wäre ich dann schlau genug gewesen, um mich nicht mit Oliver einzulassen …«

Verdammt! Wie lange würde das noch so gehen? Wie lange würde ihr noch der Magen in die Kniekehlen sinken, sobald sie auch nur seinen Namen dachte?

Claire sah erneut auf die Uhr, und Naomi warf das Cuttermesser auf die Arbeitsplatte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Spuck’s aus. Worauf warten wir?«

Wie aufs Stichwort klingelte es an der Tür, und Claire lächelte sie unschuldig an. »Keine Ahnung, wer das sein könnte.«

»Ich auch nicht, zumal ich niemanden explizit eingeladen habe, und der Türsteher auch keinen Besucher angekündigt hat.«

»Nun ja.« Claire pflückte sich eine imaginäre Fluse vom Ärmel ihres Strickkleides. »Theoretisch könnte einer deiner Freunde dem Türsteher erzählt haben, dass du einen Besucher erwartest, sodass er ihn einfach hochgeschickt hat …«

Ihn …

Naomi wurde ganz still. »Claire.«

Ihre Freundin ging bereits zur Tür, und noch bevor sie geöffnet hatte, wusste Naomi, wer davorstand.

»Oliver, hi!«, begrüßte Claire ihn.

»Nun ja«, sagte Audrey mit einem vielsagenden Blick in Naomis Richtung. »Was für ein interessantes Déjà-vu.«

Und das umso mehr, als Oliver die Wohnung betrat, in der Hand eine Flasche …

»Dom Pérignon!«, verkündete Audrey aufgeregt und griff bereits nach der Champagnerflasche. »Zumindest können wir sie diesmal genießen …« Sie fing Claires Blick auf. »Oder … auch nicht.«

»Ich habe gehört, er sei besonders gut, wenn man ihn aus einer Kaffeetasse trinkt«, sagte Oliver mit leiser Stimme.

Langsam zwang Naomi sich, ihn anzusehen. Im Stillen verfluchte sie Claire, weil sie sie nicht vorgewarnt hatte. Dann hätte sie zumindest etwas anderes anziehen können als die abgerissene Jogginghose und Olivers Columbia-Shirt, das sie ihm zurückzugeben »vergessen« hatte.

Sein Blick fiel nun auf das T-Shirt, dann sah er ihr in die Augen. »Hübsches Shirt.«

Sie legte sich die Hand auf den Magen, um die Schmetterlinge zu beruhigen, aber dann umklammerte sie den Stoff mit der Faust. Sie sah eher aus wie ein aufgeregter, verlegener Teenager und nicht wie die kühle, gefasste Frau, die sie bei ihrem nächsten Zusammentreffen eigentlich hatte sein wollen.

»Du hast mich angelogen«, sagte Oliver leise.

Claire zog Audrey energisch zur Tür, obwohl beide bei diesen Worten Naomi einen alarmierten Blick zuwarfen.

Diese versuchte, sie mit den Augen zum Weitergehen zu animieren. Was Oliver ihr auch sagen wollte, es musste raus. Je eher sie das hier hinter sich brachten, was immer es war, umso eher würde sie auch damit zurande kommen, dass sie ihre Beziehung auf dem Gewissen hatte.

Audrey wollte offensichtlich nicht gehen, aber dennoch gab sie Oliver im Vorbeigehen die Champagnerflasche zurück und flüsterte etwas, das verdächtig klang wie: »Sie ist zerbrechlicher, als sie aussieht.«

Naomi wollte widersprechen. Darauf beharren, dass sie nicht der zerbrechliche Typ war, schon gar nicht, wenn es um einen Mann ging, aber sie bekam keinen Ton heraus. Sie war fix und fertig.

Oliver neigte ganz leicht den Kopf, nahm die Champagnerflasche entgegen, ignorierte ihre Freundinnen, die nun zur Tür schlichen, aber vollends. Sie hielten nur noch kurz an, um ihr per Handzeichen zu signalisieren: Ruf uns an!

Dann schloss sich die Tür hinter ihnen, und in der großen, leeren Wohnung blieben nun nur noch Naomi und Oliver zurück

Er sah sich um. »Hübsche Wohnung.«

»Ja.«

Wieder sah er sie an. »Ziemlich plötzlicher Umzug.«

Sie weigerte sich, sich dafür zu entschuldigen. Sie hätte ihn durchaus von dem Umzug informiert, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, überhaupt in der Nähe zu sein. Oder auf irgendeine ihrer Dutzenden von Nachrichten zu antworten.

»Ich fand, dass ich da nicht hingehörte.«

»Ach nein?« Die Frage klang beiläufig, und er sah dabei die Flasche an. »Ich weiß auch nicht, ob ich da hingehöre.«

Naomi runzelte verwirrt die Stirn. »Aber du bist dort aufgewachsen. Du hast immer schon dort gewohnt.«

Er sagte nichts, sondern starrte nur das Etikett an. Dann hob er leicht die Flasche.

Naomi reagierte ebenfalls schweigend, indem sie zwei Tassen von der Arbeitsfläche nahm, die sie noch nicht eingeräumt hatte, und sie ihm entgegenstreckte, während er den Korken knallen ließ.

Oliver füllte beide Tassen, stellte die Flasche auf ein paar Umzugskisten ab. Dann prostete er ihr zu. »Auf deine neue Wohnung.«

Sie stieß mit ihm an und trank einen Schluck, wobei sie seinem Blick die ganze Zeit über standhielt.

Dann fasste sie sich ein Herz. »Was tust du hier, Oliver?«

»Du hast mich angelogen«, wiederholte er.

Sie schloss die Augen. »Sieh mal, ich kann nicht mehr tun, als mich zu entschuldigen. Ich hätte dir sagen sollen, wer ich war …«

»Du hast behauptet, dass Gilbert Blythe und Anne Shirley Freunde wurden.«

Naomi blinzelte heftig in dem Versuch, seinem Gedankengang zu folgen. »Äh, was?«

»Neulich, als du meinem Dad aus Anne aus Green Gables vorgelesen hast. Der Junge nannte Anne Karotte, genau wie ich dich.«

»Ja und?«

»Na ja, ich hab’s gelesen.«

Naomi lachte verblüfft auf. »Du hast Anne auf Green Gables gelesen?«

»Alle Bände«, sagte er und nippte an seinem Champagner. »Du hast mich angelogen.«

»In Bezug worauf …«

»Auf Gilbert und Anne. Sie waren nicht nur Freunde.«

»Nun …« Sie spielte an ihrer Tasse herum. »Sie waren Freunde, nur dann …«

»Sie waren verdammt viel mehr als Freunde.«

»Ja, okay«, räumte sie ein. »Gilbert hat Anne Karotte genannt, weil er sie die ganze Zeit über liebte und das der einzige Weg war, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Aber ganz sicher vergleichst du diese Geschichte doch nicht mit … uns. Du hast mich definitiv niemals Karotte genannt, weil du schon mit zehn in mich verliebt warst.«

»Oh Gott, nein!«, rief Oliver und stellte seine Tasse neben der Flasche auf den Umzugskisten ab. »Ich habe dich gehasst.«

Sie lächelte über seinen energischen Ton.

»Aber ich glaube, ich bin jetzt in dich verliebt.«

Naomis Lächeln verblasste, obwohl ihr Herz einen Luftsprung machte. »Was?«

Er nahm ihr die Tasse aus der Hand und stellte sie ebenfalls beiseite. »Ich brauche noch etwas Zeit, um mir ganz sicher zu sein. Vorzugsweise nackt. Aber ich bin ziemlich sicher. Nein, streich das. Ich bin sicher. Anscheinend kann ich einfach nicht aufhören, an dich zu denken. Sogar mein Dad redet von nichts anderem als von dir, und das ist bemerkenswert.«

»Oliver …«

»Warum besuchst du ihn?«, fragte er und kam näher.

Naomi schluckte. »Keine Ahnung. Ich … na ja, weißt du, ich glaube, ich habe ihn etwas vermisst. Ich habe keine Familie, und er braucht jemanden, und ich glaube, dass auch ich jemanden brauche.«

»Könntest du vielleicht auch zwei Leute brauchen?«, fragte Oliver und ließ die Hand unter ihr Haar gleiten, um ihren Nacken auf jene Weise zu umfangen, die sie so liebte. »Den einen als schwierige, anstrengende Vaterfigur und den anderen als … Liebhaber?«

»Sag das nicht, wenn du es nicht ernst meinst«, flüsterte sie und packte mit beiden Händen das Revers seines Anzuges. »Ich könnte es nicht ertragen, dich ein weiteres Mal zu verlieren.«

»Oh, ich meine es ernst«, knurrte er und ließ die Lippen über die ihren gleiten. »Karotte.«

Naomi lächelte an seinen Lippen. »Und du denkst wirklich über einen Umzug nach?«

»Irgendwann schon«, antwortete er und legte ihr die Hänge auf die Wangen, um sie noch inniger zu küssen. »Ich brauche einen Neuanfang.«

»Da hätte ich einen Vorschlag, der vielleicht auf den ersten Blick ein bisschen verrückt klingt.«

»Ich höre«, antwortete Oliver, sie immer noch küssend. Dann drängte er sie nach hinten, führte sie um die Umzugskisten herum, bis ihre Hüften an die Arbeitsplatte in der Küche stießen.

»Behalte deine Wohnung«, sagte sie und ließ die Hände an seiner Brust hinaufgleiten, bis sie ihm die Arme um den Nacken gelegt hatte. »Aber verbring einige Zeit hier. Viel Zeit. Und vielleicht, wenn du dann tatsächlich umziehen willst, wünschst du dir vielleicht einen Mitbewohner?«

»Hat dieser Mitbewohner dann rotes Haar, blaue Augen und ist ziemlich temperamentvoll? Und hat dieser Mitbewohner vielleicht sogar lange Zeit einen alten Groll mit sich herumgeschleppt?«

Sie lächelte an seinen Lippen. »Kann schon sein.«

»Hast du mich gerade gefragt, ob ich möglicherweise eines Tages zu dir ziehe?«

»Ich glaube schon. Romantisch, oder?«

»Weißt du, was noch romantischer wäre?«, fragte er und hob sie auf die Arbeitsplatte.

Sie versuchte, ihn noch einmal zu küssen, aber er umfing mit Zeigefinger und Daumen ihr Kinn. »Wenn du mir sagen würdest, was du für mich empfindest.«

»Ah«, sagte sie, legte ihm leicht die Hände auf die Schultern und ließ die Lippen federleicht an seinen Schläfen entlanggleiten, bevor sie sie an sein Ohr hielt und ihm zuflüsterte: »Ich liebe dich, Oliver.«

Er umfing sie fester, zog sie noch dichter zu sich heran. »Ich liebe dich auch, Naomi.«

Später, viel später, küsste ein nackter, atemloser Oliver ihre Schläfe. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, und sie lagen auf dem Parkettboden.

»Frau, wir müssen echt aufhören, guten Champagner zu verschwenden.«

»Wer hat von Verschwenden gesprochen?«, antwortete sie und entwand sich ihm, um die Tassen zu holen. Sie gab ihm eine, und er setzte sich auf und lehnte sich an die Theke.

Naomi setzte sich vor ihn hin, den Rücken an seine Brust gelehnt. »Warmer Champagner und Umzugskisten«, sagte sie, nippte an ihrem Schaumwein und legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. »Ist das genau das, was du dir gewünscht hast?«

Oliver lächelte sie an und ließ einen Finger an ihrer Wange entlanggleiten. »Alles, was ich mir je gewünscht habe, und mehr.«