»Was machen wir jetzt?«, fragt Thabisa besorgt, wobei sie den schlafenden Kagiso in ihren Armen wiegt. Das gleichmäßige Brummen der Triebwerke und ein mit Milch gefüllter Magen haben den jungen Nachkommen eindösen lassen. Da Caleb nicht mehr da ist, wenden sich alle an Goggins. Aber der Oberste Guardian scheint nicht in der Verfassung uns anzuführen. Er scheint nicht einmal mitzukriegen, dass wir ihn alle anstarren.
»Solange wir leben«, antwortet Viviana, für ihn, »brennt das Licht der Menschheit weiter.«
Santiago schnaubt. »Ja, aber wie lange noch? Tanas wird Jagd auf uns machen. Dabei wird sie jede verfügbare Ressource nutzen. Und als FBI -Agentin hat sie überall Zugang. Wir leben auf Abruf, meine Freunde.«
»Die Schlacht mag verloren sein, aber der Krieg ist noch nicht vorbei«, entgegnet Kohsoom. Sie hämmert eine Faust in ihre Handfläche. »Unser Häuptling sagte, wir sollen für das Licht kämpfen! Tanas wird nicht mit uns rechnen, wenn wir jetzt angreifen.«
Blake wirft der Thai-Kriegerin einen ungläubigen Blick zu. »Hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen, Kohsoom? Wir sind nicht in der Lage zu kämpfen. Sieh dich um – wir haben einfach nicht mehr genug Krieger oder Guardians, um es mit Tanas und ihren Inkarnaten aufzunehmen. Wir haben kaum genug, um unsere Ersten Nachkommen zu schützen.«
»Aber das ist vielleicht unsere beste Chance – unsere einzige Chance, die Inkarnaten in diesem Leben zu besiegen«, beharrt sie. »Wir müssen der Schlange nur den Kopf abschlagen!«
Santiago stößt ein hohles Lachen aus. »Das wäre ein Selbstmordkommando!«, sagt er verächtlich und schenkt sich einen weiteren Drink ein. »Tanas hat wieder einmal bewiesen, dass das Böse nie stirbt.«
»Also geben wir einfach auf?«, entgegne ich, bestürzt über seine pessimistische Haltung.
»Das habe ich nicht gesagt«, schnauzt Santiago und sieht mich kaum an. »Unsere beste Hoffnung ist jetzt, uns aufzuteilen und zu verstecken.«
»Wäre es nicht besser, zusammenzubleiben?«, entgegnet Tasha. Sie umklammert Vivianas Hand wie eine Rettungsleine.
Viviana drückt Tashas Hand und nickt zustimmend. »Sie hat recht, Santiago. Gemeinsam sind wir stark.«
»Pah!«, spuckt Santiago. »Es ist genau andersherum. Sicherheit durch zahlenmäßige Überlegenheit gibt es nicht mehr!«
»Wir könnten ein neues Haven aufbauen«, schlägt Steinar vor. Sein Sitz knarrt, als der massige Norweger sich nach vorne lehnt, um sich in das Gespräch einzuschalten. »Eines mit besseren Verteidigungsanlagen.«
Ein paar von uns nicken zustimmend. Ich halte mich mit meiner Meinung zurück, denn ich bin etwas zwiegespalten. Einerseits empfand ich Haven als einen goldenen Käfig und bin ein wenig erleichtert, ihm entkommen zu sein. Andererseits kann ich nicht leugnen, dass die Anlage einen gewissen beruhigenden Schutz bot. Jetzt sind wir so gut wie ungeschützt.
Blake schüttelt den Kopf über Steinars Idee. »Das würde viel zu lange dauern. Außerdem, wo sollen wir das bauen? Und womit? Dieser Jet ist so ziemlich alles, was wir noch haben.«
»Das stimmt nicht ganz«, sagt Viviana. »Caleb hat einen Treuhandfonds für die Ersten Nachkommen eingerichtet. Wir haben immer noch Zugang zu Finanzmitteln …«
»Vergesst die Idee eines neuen Havens«, unterbricht Santiago mit einer verächtlichen Handbewegung. »Calebs vermeintlicher Zufluchtsort war nichts weiter als ein Narrenparadies! Wir haben es Tanas nur leichter gemacht, uns alle auf einen Schlag zu finden.«
»Hilft unser vereintes Licht nicht, unsere Anwesenheit zu verbergen?«, werfe ich ein. »Zumindest hat Caleb mir das erklärt.«
»Ein wenig«, gibt Santiago widerwillig zu. »Das Problem ist, dass Tanas mit jeder zerstörten Nachkommenseele stärker wird, und unser Licht wird jedes Mal schwächer.«
»Aber wenn wir uns trennen, sind wir anfälliger für Angriffe«, argumentiert Thabisa und drückt Kagiso schützend an ihre Brust.
»Vielleicht«, räumt Santiago ein, »aber Tanas muss erst jeden von uns finden, und die Chancen dafür sinken, je weiter wir über die Welt verstreut sind.«
»Was ist mit Tanas’ Wächtern?«, fragt Viviana und erinnert alle an das Netz von Spionen, die im Auftrag ihres Meisters nach Ersten Nachkommen Ausschau halten. »Sie sind inzwischen überall. Stimmt’s, Jude?«
»So ziemlich«, antwortet Jude. »In L. A. waren sie es jedenfalls.«
»Ein Grund mehr zusammenzuhalten«, sagt Thabisa entschieden.
»Nein. Eher ein Grund weniger«, entgegnet Sun-Hi. »Ich stimme mit Santiago überein. Wir müssen uns aufteilen.«
Als eine hitzige Debatte über unsere beste Überlebensstrategie entbrennt, ziehe ich mich zurück und kuschele mich in meinen Sitz. Ich schaue noch einmal aus dem Fenster auf die dunklen Wolken unter mir und denke über meine eigenen Optionen nach. Ohne Phoenix fühle ich mich ausgesetzt. Ungeschützt. Klar, ich habe jetzt Jude als meine Seelenkriegerin. Aber sie ist kein Phoenix, und ich habe nicht die gleiche tiefe Verbindung zu ihr wie ein Erster Nachkomme zu seinem Guardian.
Ich werfe einen Blick in Judes Richtung. Sie ist schlanker als Phoenix und ein ganzes Stück kleiner. Ihr Nasenring, die schräg aufgesetzte Baseballkappe und die verspiegelte Sonnenbrille lassen auf eine lässige Haltung schließen, doch ich habe sie in Aktion erlebt, und als Kämpferin ist sie Phoenix fast ebenbürtig. Dennoch weiß ich immer noch nicht, was genau vor all den Jahren in der alten sumerischen Stadt Uruk abgelaufen ist. Jedenfalls war sie nicht da, als mein Seelenzwilling sie dringend gebraucht hätte. Ich vertraue ihr nicht uneingeschränkt. Wie könnte ich das, wo sie doch beim Schutz meines Seelenzwillings vor Tanas versagt hat? Wird sie auch mich im Stich lassen?
Natürlich könnte ich auf eigene Faust losziehen. Ich bin nicht völlig schutzlos. Während meiner langen Sessions in der Schimmerkuppel und dank meiner früheren Lebenserfahrungen habe ich Fähigkeiten in Samurai-Schwertkampf, Karate, Taiji, Capoeira, der indischen Kampfkunst Kalarippayattu und sogar im mongolischen Bökh-Ringen erworben. Aber die Vorstellung, von einem Tag auf den anderen allein und auf der Flucht zu sein, ohne zu wissen, wem ich vertrauen oder an wen ich mich wenden kann, erfüllt mich mit Grauen. Lieber bleibe ich bei den anderen, um den Trost der Gesellschaft und die Sicherheit mehrerer Krieger zu genießen, selbst wenn das bedeutet, dass ich mich auf den Schutz von Jude verlassen muss. Außerdem sind meine Alleingänge nicht immer gut geendet, weder für mich noch für meine Mitstreiter.
»Goggins, was denkst du?«, fragt Viviana, als es zu keiner Einigung kommt. Alle verstummen, während sie seine Antwort abwarten.
Langsam blickt er auf, der übliche blaue Schimmer in seinen Augen ist verschwunden. Dann erhebt er sich, wobei ihm die Anstrengung fast zu groß erscheint. »Ihr wisst, dass ich als Oberster Guardian immer darauf bedacht war, Tanas zu bekämpfen, weil ich glaube, dass Angriff die beste Verteidigung ist.«
Kohsoom nickt enthusiastisch und hebt eine geballte Faust zur Unterstützung.
»Caleb hingegen bevorzugte eine eher vorsichtige Vorgehensweise. Daher auch sein Glaube an Haven.«
Nun brummt Steinar zustimmend.
»Aber keine dieser Taktiken hat funktioniert«, gibt Goggins zu und sieht uns allen nacheinander in die Augen. »Wenn wir also das Licht schützen wollen, bleibt uns nur eine Möglichkeit: Wir müssen fliehen und uns zerstreuen und verstecken.«